bookmark_borderAlain Claude Sulzer: Postskriptum

Die, die unscheinbar sind, die von den anderen nicht gesehen werden, verwandelt der Schweizer Schriftsteller Alain Claude Sulzer in seinen Romanen in literarische Figuren, die im Gedächtnis bleiben. Von stilistischer Zauberhand erschafft er eine Geschichte, in der diese Unscheinbaren einmal im Leben für einen flüchtigen Augenblick eben doch sichtbar werden, wie der Schweizer Postangestellte Walter, der im Hotel Waldhaus in Sils Maria seinem großen Schwarm, dem berühmten Schauspieler Lionel Kupfer begegnet, wohin dieser sich zurückgezogen hat, um eine neue Filmrolle zu erarbeiten. Es ist das Jahr 1933, das auch den jüdischen Filmstar jäh in den Schatten der Unsichtbarkeit zwingt. Von den Filmproduzenten ebenso fallengelassen wie von seinem Liebhaber, dem intriganten Kunsthändler Eduard, sieht sich Kupfer zur Emigration gezwungen. Erst Jahrzehnte später, so verrät es der Epilog, wird dem von seinem einst jubelnden Publikum opportunistisch Vergessenen noch einmal ein Alterserfolg im Exil in den USA beschieden sein.

Postskriptum ist ein Künstlerroman, der mit Lionel Kupfer eine Figur enwirft, die zwar fiktiv ist, sich jedoch aus vielen Künstlerbiographien zusammensetzt, die mit dem Erstarken des Nationalsozialismus zerstört oder zumindest nachhaltig erschüttert wurden. Sulzer erzählt in seinem schmalen Buch folgerichtig auch nicht den Aufstieg des von ihm erdachten Künstlers, sondern konzentriert sich auf die inneren Schlüsselmomente seines Lebens, bei denen die umgekehrte Richtung des Fallens entscheidend ist. Der zentrale Fall Kupfers im Jahr 1933 wird von einem Prolog und einem Epilog gerahmt. Im Prolog erfährt man von der ganz privaten Familientragödie, die den kleinen Jungen Lionel, der ein begabter Zeichner war, den Weg der Schauspielerei hat einschlagen lassen; im Epilog zeigt Kupfer den gealterten Schauspieler noch einmal in seiner Einsamkeit im Exil.

In diesem mit so leichten Strichen skizzierten Roman verdichten sich verschiedene Motive zu einem Porträt, das nicht nur das kurz aufflackernde und wieder erlöschende Leuchten ganz verschiedener Gestalten einfängt, sondern auch einen Epochenbruch. Es ist auch die Zeit, die die Menschen voneinander trennt. Sie bringt das Gute oder Schlechte in den Menschen hervor, führt, im Falle der Beziehung Kupfers und Eduards, zu Verrat und Illoyalität, im Falle der von Kupfer und Walter zu unsichtbar bleibender Treue. Am Motiv der Homosexualität, die 1933 nicht weniger verdammt war als die Zugehörigkeit zur jüdischen Religion, zeigt Alain Claude Sulzer, wie gesellschaftliche Unsichtbarkeit gleitend in gesellschaftliche Unansehnlichkeit übergeht. Auch die traurige Geschichte von Walters Mutter, der Analphabetin Theres, fügt sich in dieses motivische Textgewebe ein, geht sie einem doch gerade deshalb so tief ins Herz, weil der Autor ebensowenig große Worte darum macht wie seine Figur. Gerade weil die Figuren auf eine Revolte verzichten, bewegen einen die keineswegs nüchtern, aber mit poetischer Selbstverständlichkeit gezeichneten Schicksale umso mehr.

Bibliographische Angaben
Alain Claude Sulzer: Postskriptum [2015], Kiepenheuer & Witsch 2017
ISBN: 9783462050394

Bildquelle
Alain Claude Sulzer, Postskriptum
© 2024 Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

bookmark_borderRaphaela Edelbauer: DAVE

Mit DAVE bewegt sich die österreichische Autorin Raphaela Edelbauer in einem gänzlich anderen Genre als mit ihrem so entlarvenden wie witzigen wie sinnlichen Vorgängerroman Das flüssige Land über die verdrängte braune Vergangenheit Österreichs (vgl. Rezension vom 7.5.2020) und auch als mit dem 2023 erschienenen Nachfolgeroman Die Inkommensurablen über das Freudsche Unterbewusstsein der kakanischen Bevölkerung kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs (Rezension folgt!). Die Geschichte von DAVE spielt in der sogenannten „nahen Zukunft“ und gehört damit einer unmittelbar an unsere Gegenwart anknüpfenden Science-Fiction an, der Near-Future, mit der etwa auch Zoë Beck in Memoria (vgl. Rezension vom 18.12.2023) oder Paradise City (vgl. Rezension vom 25.9.2020) experimentiert.

Und doch finden sich beim Lesen von DAVE Ähnlichkeiten zu Edelbauers auf den ersten Blick historisch verwurzelteren Stoffen, man könnte von einer metaphorischen Verwandtschaft all ihrer Texte sprechen. Denn alle entwerfen sie eine Welt, die zu bröckeln beginnt, die um die Figuren herum immer poröser wird, in der Gewissheiten erschüttert werden und in der das Ich sich zusammen mit dieser im Einsturz begriffenen Welt aufzulösen droht. Die künstliche Intelligenz DAVE ist so fluide wie die Erinnerung und das Unterbewusstsein in Edelbauers anderen Romanen, und auch sie entspringt einer Welt, in der Verunsicherung und Manipulation in einer mehr als riskanten Beziehung stehen.

In einer solchen Umgebung erstaunt es nicht, dass auch der Ich-Erzähler selbst, der sich Syz nennt, ein unzuverlässiger Erzähler ist. Syz ist Programmierer und trotz seiner seit Kindertagen manifesten mathematischen Begabung, von der man im Laufe der Erzählung erfährt, nur ein Rädchen im Getriebe eines riesigen von der Informationstechnik beherrschten Komplexes, in dem eine Unzahl an Menschen arbeiten und existieren. Es ist eine Welt, deren dystopische Fremdheit und Entfremdung einem nach und nach immer plastischer vor Augen tritt, und die aus nur einem, dafür aber monströsen Gebäude zu bestehen scheint, in dem die Menschen von einer angeblich durch eine Katastrophe unbewohnbar gewordenen Außenwelt abgeschottet ihr gesamtes Dasein verbringen. Der Komplex ist nach einer strengen Hierarchie in verschiedene Etagen gegliedert, unten befindet sich alles, was zur materiellen Produktion gehört, oben residieren die Rechner und diejenigen, die sie bedienen, die Techniker und Informatiker. Auf dieser Ebene befindet sich auch, als quasireligiöses Zentrum, das wie ein Hochsicherheitstrakt abgesperrte Labor, in dem die Computer mit DAVE stehen, dem Programm, das zur heilbringenden künstlichen Intelligenz transformiert werden soll.

Der unscheinbare Syz, dessen Begabung aus einem anfangs unklaren Grund bisher in keiner gehobenen Position in dieser computerbeherrschten Hierarchie gemündet ist, sieht sich auf einmal mit einer streng geheimen und verantwortungsvollen, ja höchst riskanten Mission betraut. Ohne dass diese Information die Mauern des heiligen Zentrums verlassen darf, soll von seinem persönlichen Gedächtnis ein Abbild gemacht und Schritt für Schritt, in immer größerer Perfektion und Datenfeinheit, DAVE eingespeist werden. Der Computer soll nach einer ganz individuellen Menschenpersönlichkeit geformt werden, damit auf diese Weise endlich der entscheidende Entwicklungsschritt gelingen kann, nämlich eine bewusste K.I. hervorzubringen, die sich von den Vorgängern, die alle mehr oder weniger schnell und genau rechnende, aber letztlich unpersönliche Datenspeicher waren, grundlegend unterscheidet. Syz, der nach und nach begreift, in was für ein gefährliches Projekt er da involviert ist, gerät in einen Strudel von Ereignissen, die weit in die Vergangenheit zurückreichen und sein Gewissen, seine Identität, sein ganzes Leben in Zweifel stürzen. Er beginnt, heimlich Nachforschungen anzustellen, um herauszufinden, was mit seinem verschollenen Vorgänger passiert ist, der vor ihm für DAVEs Bewusstseinsspeisung zuständig war, und worum es sich bei DAVE wirklich handelt: um ein fortschrittliches Projekt, um eine gemeinnützige Forschung zur Rettung der Menschheit, um ein perfides Instrument zur Überwachung und Unterdrückung oder schlichtweg um heillosen Größenwahn.

Die hier nur in den gröbsten Zügen zusammengefasste Handlung liest sich wie ein Thriller, und mindestens ebenso spannend sind die vielfältigen wissenschaftlichen und wissenschaftsgeschichtlichen Diskurse, die Raphaela Edelbauer in ihren Text hineinstrickt: Geschichtliches zur K.I. und zum Thema Mensch und Maschine, das die Menschheit schon seit Jahrhunderten fasziniert und provoziert, Mathematisch-Philosphisches zum Paradox der Möglichkeit eines künstlichen Bewusstseins, detailreiche Hintergründe zu Mnemotechniken und Gedächtnistheorien, deren praktische Anwendung anschaulich in die Handlung eingebaut wird. Das ist literarisch bewundernswert zusammengefügt, einzig die sehr mit Fremdwörtern angereicherte Sprache und der inzwischen ja leider häufiger zu lesende transitive Gebrauch von „erinnern“ haben mein stilistisches Empfinden beim Lesen mitunter leicht irritiert. Was mir umso mehr gefallen hat, ist der auch in diesem Buch, das ja augenfällig stark dystopische Züge aufweist, unterschwellig nie versiegende Humor, der immer wieder für befreiende und entlarvende Momente sorgt. Die erste Begegnung zwischen Syz und der Frau, mit der sich im Roman eine Liebesgeschichte andeutet, gestaltet die Autorin in einem Dialog, der exemplarisch für ihren intelligent-humorvollen Stil ist:

„Hast du Sofware- oder Maschinendesign studiert? Wofür schule ich dich überhaupt ein?“ —
„Weder noch — ich gehöre zu den unteren zwanzig Prozent“, sagte sie grinsend und ließ sich auf einen Stuhl an einem freien Tisch fallen. „Ich bin Medizinerin.“ — „Du arbeitest mit Menschen?“

Raphaela Edelbauer, DAVE

Eine grundlegende Skepsis gegenüber einer durchdigitalisierten, von künstlichen Intelligenzen bevölkerten Gesellschaft scheint im Text immer wieder durch. Edelbauer denkt das, was gegenwärtig passiert, konsequent weiter und malt es in drastischen Farben aus, um zu erproben, ob die in DAVE angestrebte Optimierung selbst lernender Datensysteme in der Form erstrebenswert oder aber überhaupt möglich ist.

„Wenn DAVE jedes Detail der Welt kennt, jeden Blickwinkel gleichzeitig einnimmt, ist er gelähmt, weil keine Handlung, kein Satz mehr vor den anderen Vorrang besitzt“, sagte Garaus [ein Freund von Syz].

Raphaela Edelbauer, DAVE

Das Argument wird schon länger diskutiert, wenn es etwa um die Problematik ethischer Verantwortung bei autonom fahrenden Automobilen geht. Doch die Gefahren, die für die Gesellschaft entstehen können, wenn Computer die menschliche Intelligenz immer genauer nachbilden oder sogar übertreffen können, sind vielleicht weniger akut als der Umkehrschluss. Denn liegt nicht ein weit größeres und wahrscheinlicheres Risiko in dem Umfang, in dem die Gesellschaft computerförmig gemacht wird? Diese Entwicklung ist längst in Gang gesetzt, schleichend, unsichtbar hinter den scheinbar so rationalen Prozessen der digitalisierten, smarten Systeme verborgen. Wenn wir Menschen uns mehr oder weniger freiwillig in Algorithmen pressen lassen, unser Denken, unser Handeln an deren rein zahlenbasierte — und menschlicher Manipulation ausgelieferter — Logik anpassen, ist das im Grunde weitaus erschreckender und ethisch fragwürdiger als der eher unwahrscheinliche Coup einer zum Leben erweckten K.I. Auf science-fictionalem Wege weitergedacht mündet eine solche Algorithmengläubigkeit darin, dass wir, wie Syz in Edelbauers Roman, in den Alptraum einer Simulation geraten — und zwar mit vollem Bewusstsein. DAVE führt uns zugespitzt den Schrecken einer ewigen Gleichförmigkeit und Wiederholung in einer solchen nur aus Algorithmen bestehenden Welt vor Augen, die uns zu Gefangenen ohne jede Autonomie und Entscheidungsfreiheit macht, welche ja gerade die zentralen Werte unseres Menschseins sind.

Raphaela Edelbauer lässt ihre Leser jedoch zum Glück nicht ohne jede Hoffnung. Das ambitionierte Projekt DAVE ist keineswegs so perfekt durchdacht, wie es seine Erfinder glauben lassen. Und dann ist da immer noch die letztlich unkalkulierbare Variable des Menschlichen, die auch der optimiertesten Technik Hals über Kopf einen Strich durch die Rechnung machen kann:

„Das Beharren auf Schönheit ist eine der fünf Kardinalsünden, die die Vollendung DAVEs verhindern.“ Weitere waren außerdem: der Schlaf, die Trödelei, das Tippen mit weniger als acht Fingern sowie natürlich der Geschlechtstrieb.

Raphaela Edelbauer, DAVE

Bibliographische Angaben
Raphaela Edelbauer: DAVE, Klett-Cotta 2021
ISBN: 9783608964738

Bildquelle
Raphaela Edelbauer, DAVE
© 2024 Klett-Cotta Verlag J.G. Cotta sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart

bookmark_borderJocelyne Saucier: A train perdu

Sanft melancholisch, nachdenklich und in einer geglückten Balance aus emotionaler Involviertheit und selbstironischer Distanz erzählt Jocelyne Saucier in A train perdu von den entlegenen Weiten, dichten Wäldern und stillgelegten Minen eines wenig bekannten Kanadas fern der Metropolen, von einem im Verschwinden begriffenen Schienennetz, das die abgelegenen Dörfer im nördlichen Ontario und Québec, einst blühende Bergarbeiterstädte, nur noch rudimentär miteinander verbindet, und von einer Frau, die dieser Gegend entstammt, die mit ihr verwachsen ist und sich am Ende ihres Lebens auf eine unumkehrbare Reise macht, mit der sie das Leben ganz unterschiedlicher Menschen aus der Region durcheinanderbringt.

Ausgangspunkt der Erzählung ist das Verschwinden, ist die Flucht, die Reise, die Mission der alten Gladys Comeau, die unangekündigt und zur großen Verwirrung und Bestürzung ihres Umfelds von heute auf morgen ihr Dorf mit dem auffälligen Namen Swastika verlässt, um — wie sich bald herausstellt todkrank — mit wechselnden Zügen quer durch das nördliche Kanada zu fahren. Ihre Route, die sich dem Zufall ergeben entlang dem teilweise schon außer Betrieb gesetzten Schienennetz entfaltet, mag von außen verwirrend erscheinen, und doch hat Gladys ein ganz bestimmtes Ziel vor Augen, das der Ich-Erzähler und selbst ernannte Chronist dieser Geschichte allmählich zu verstehen und dem Leser zu vermitteln beginnt.

Mit der Spurensuche des Erzählers, die dieser zeitlich leicht versetzt aufnimmt, taucht man in die Lebenswelt der Region ein, eine in einem nicht mehr aufzuhaltenden Wandel begriffene, gleichwohl vergleichsweise noch immer entschleunigte Welt. Die ewige Verspätung der Züge macht hier niemandem etwas aus, viele der kleinen Dörfer sind noch immer nur mit der Eisenbahn erreichbar. Jocelyne Saucier führt uns zurück in die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg und bis in die Gegenwart. A train perdu ist eine Reise in die Vergangenheit des Landes und seiner Bewohner, erzählt in vielen kurzen, einfühlsamen Porträts „gewöhnlicher“ Menschen. All die Streckenarbeiter, Waldarbeiter, Erzgräber, Fallensteller, die Einwanderer und die Eingeborenen, alle führten sie ein einfaches Leben, abgeschottet vom Rest der Welt; diese „petits sauvageons des bois“ (A train perdu, S. 67) konnten kein Englisch und erhielten ihre Bildung in den sogenannten „school trains“, Schulen auf Rädern, von Güterwägen gezogen, die zwischen 1926 und 1967 in den Wäldern Ontarios die einzige Möglichkeit für die Einwohner waren, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Gladys, die am Ende ihres Lebens wieder in die rollende Welt der Züge zurückkehrt, war in dieser Umgebung sozialisiert worden, ihre Eltern waren Lehrer in den „school trains“ gewesen. Später hatte Gladys Albert, einen stillen, melancholischen Jungen aus den Wäldern, geheiratet, den sie nur ein Jahr nach der Hochzeit bei einem Grubenunglück verlor. Das gemeinsame Kind, Lisana, lebt inzwischen, längst erwachsen und selbstmordgefährdet, wieder bei ihrer Mutter. Auch sie lässt Gladys zurück, als sie sich auf ihre letzte Reise macht, ihr großes, einst so fröhliches Kind, das studiert hat und dann mit Depressionen wieder in die Heimat zurückkehrte. Man lernt auch die Nachbarn von Gladys kennen, die sich nach ihrem Verschwinden Vorwürfe machen und alles auf den Kopf stellen, um die Flüchtige wieder einzufangen, die sich ihnen jedoch geschickt zu entziehen versteht. Unterstützt wird sie dabei von Jeanette, einer Frau, der Gladys auf ihrer Reise begegnet, auch sie eine, die den Zug als Heimat begreift.

Da die écriture in diesem fein gesponnenen Text ein großes Thema und gewissermaßen der rote Faden der Geschichte ist, der sich entrollt, Knoten bildet und wieder löst wie das nostalgische kanadische Schienenetz, möchte ich noch einmal auf den selbst ernannten Chronisten und sein Schreiben zurückkommen. Seine stilistische Neigung zu Dreierschritten, die sich durch die gesamte Erzählung ziehen und am Schluss in einer ins Transzendente gewendeten, lebensbejahenden Symbolik kulminieren, ist auffällig; sie sind weniger als Klimax denn als ein Sich-Annähern zu verstehen, was der Aufgabe entspricht, die sich der Ich-Erzähler gegeben hat und die ihm geradezu eine Philosophie geworden ist, eine Einstellung, mit der er sein Dasein und das der anderen zu begreifen und einzuordnen versucht:

Mais il n’y a que Gladys, il y a tous les autres qui m’ont hélé, harcelé, harnaché à cette quête ou enquête — je ne sais plus ce que c’est — que je dois maintenant relater.
J’ai à sonder, à élucider, à comprendre mes propres motivations.

Doch nicht nur Gladys, auch all die anderen haben mich zu dieser Untersuchung oder Selbstsuche — ich weiß selbst nicht mehr, was es ist — angehalten, gedrängt, angespornt, von der ich nun Zeugnis ablegen muss.
Ich muss nachforschen, aufklären, meine eigenen Motive verstehen.

Saucier, A train perdu, S. 12 f. (Übersetzung der Rezensentin)

Von diesen anderen sollten zwei hier Erwähnung finden, da sie dem Suchen und Schreiben des Chronisten jeweils eine neue Richtung geben: erstens ein Mann mit Schal am Bahngleis, der dort die Leute ausfragt und sich als französischer Autor aus Paris entpuppt, der nach Kanada gereist ist, um dem Dorf mit diesem ungewöhnlichen, historisch vorbelasteten Namen, Swastika, auf den Grund zu gehen und seine Geschichte ans Licht zu bringen; zweitens ein Biolehrer und Freund des Chronisten, den dieser im Stadtmuseum kennengelernt hat und der sich für die Geschichte der Gegend, insbesondere für das schreckliche Grubenunglück, dem auch Gladys Mann zum Opfer gefallen war, interessiert, und der außerdem ein großes Misstrauen gegen jede Form der Ausschmückung und der Fiktion hegt.

Die Vorgehensweise des Ich-Erzählers ist denn auch geprägt von genauem Beobachten, Zuhören und Nachfragen, es ist ein feines Erzählen mit vielen Zwischentönen, das mehrere, oft auf den ersten Blick undurchsichtige Ebenen der Wahrnehmung und der Handlungsmotivation zugleich aufscheinen lässt. So gelingt auch immer wieder ein Blick unter die Oberfläche, der, wenn nicht zwangsläufig einen Widerspruch, so doch ein komplementäres Bild zu dem, was von außen sichtbar ist, erkennen lässt. Denn in den Geschichten der Menschen klingt in erster Linie eine große Zufriedenheit und Bescheidenheit auf, eine liebevolle Verbundenheit mit der Region, die früher belebter, lebendiger schien, eine Nostalgie wird spürbar, aber keine lauten Klagen, vielmehr der Stolz auf die spärlichen Früchte eines mühsamen Lebens. Die écriture von Jocelyne Saucier transformiert diese berührende, gleichwohl nicht vor Lebensfluchten und -Lügen gefeite Haltung in ihrem Text in einen menschenfreundlichen Humor angesichts einer tiefen Melancholie, eines Glückes, das vergänglich ist, flüchtig, wie die vorbeigleitenden Eisenbahnen in den Weiten eines wenig bekannten Kanada.

A train perdu ist ein Werk in Bewegung, das sich langsam, aber unaufhörlich, dem poetischen Rattern der alten Zugräder gleich, entfaltet und den Leser immer wieder mit kleinen Verschiebungen und subtilen Veränderungen überrascht. Die Begegnung mit dem Text hat wie die in ihn eingebundenen Figuren zunächst eine Zufälligkeit, die an Kontur und Tiefe gewinnt, ohne je an Offenheit zu verlieren. Ein in all seiner Realitätsnähe und Menschlichkeit wahrhaft magisches Buch!

Bibliographische Angaben
Jocelyne Saucier: A train perdu, Les Editions XYZ 2020
ISBN: 9782897722470

Bildquelle
Jocelyne Saucier, A train perdu
© 2024 Editions XYZ, Montréal (Québec)

bookmark_borderTerézia Mora: Muna oder Die Hälfte des Lebens

Madame Bovary, Anna Karenina, Effi Briest, Jane Eyre sind absolute Klassiker, deren Titelheldinnen mit ihren unvergesslichen Namen wie Leuchtsterne am Himmel der Literaturgeschichte prangen. Terézia Moras Titelfigur Muna hätte vielleicht das Zeug dazu, diese Tradition über den Text hinaus funkelnder Romannamen fortzusetzen, von denen es genügt, sie auszusprechen, um sofort das Bild einer ganzen Welt entstehen zu lassen, in der sich diese Figuren bewegen, in der sie leiden und lieben, scheitern und jubilieren. Die eigenwillige und tragische Strahlkraft dazu hätte Muna allemal. Muna, diese Figur, die ganz unserer Gegenwart entspringt, ein blühender Charakter dieser Zeit, die gerade im Vergehen ist, dem Übergang vom 20. ins 21. Jahrhundert; noch in der DDR geboren und aufgewachsen, nähert sie sich erwachsen werdend unserer Gegenwart. Die Autorin hat angekündigt, Muna eine Triologie zu widmen, diesmal mit einer weiblichen Hauptfigur, nachdem sie mit Darius Kopp zuvor eine männliche Figur ins Zentrum dreier zusammenhängender Romane gestellt hatte; die Schwelle zum 21. Jahrhundert wird also gewiss in den versprochenen folgenden Romanen überschritten werden.

Muna oder Die Hälfte des Lebens ist, gleichwohl der Text sich auf die Biogaphie nur einer Figur, eben derjenigen Munas, konzentriert, ein Gesellschaftsroman, der sich zu einem großen Teil im Prekariat des Medien- und Wissenschaftsbereichs ereignet, in dem die keineswegs unbegabte junge Frau bald nach ihrem Abitur gestrandet ist. Terézia Mora erzählt auch die Vorgeschichte, Munas Kindheit und Jugend, die sie bereits in prekär zu nennenden Verhältnissen verbracht hat und denen sie mit dem Elan und der Chuzpe einer willensstarken Jugendlichen zu entkommen versucht. Als Heranwachsende muss sie mit dem frühen Krebstod des Vaters und mit einer emotional unzuverlässigen Mutter klarkommen, einer Theaterschauspielerin, deren Stern längst erloschen ist und die das Entrinnen von beruflichem Glanz und Schönheit in einer gefährlichen Mischung aus Alkohol und Tabletten ertränkt. Als Muna für eine Zeitung und dann für einen Verlag arbeiten darf, wenn auch nur als schlecht bezahlte, aber umso engagiertere Praktikantin, sieht sie hier, im Schreiben, eine Tür nach draußen offenstehen. Gleichzeitig nimmt sie ein Studium auf, lernt neben dem Kulturbereich auch das Wissenschaftsmilieu kennen und bekommt bald am eigenen Leib zu spüren, dass trotz ihrer unterschiedlichen Klientele beide Milieus auf ähnliche Weise so hoffnungmachend wie desillusionierend sind. Während Muna zwischen der Verlagsarbeit und der Universität pendelt, wird sie in einem weiterhin hierarchisch dominierten Umfeld immer wieder ausgenutzt; ob freiwillig oder unfreiwillig, da verschwimmen die Grenzen. Und es sind zwar oft, aber bei weitem nicht nur Männer, die sich ihre unterlegene Position im beruflichen Kontext zunutze machen. Das Gerangel um Erfolg, um Gesehenwerden, Anerkennung und der Belohnung mit einer soliden, gut bezahlten Stelle macht die darin Mitspielenden zu Tieren, die mit dem ständigen Druck mehr oder weniger gut zurechtkommen.

Am Beispiel der Hauptfigur Muna, die einem in all ihrer Widersprüchlichkeit ganz nahe gebracht wird — sie ist schön und sie ist unsicher, sie ist intelligent und sie ist unerfahren –, wird spürbar, was es heute bedeutet, eine Frau zu sein, in der Öffentlichkeit und im Privaten. Munas Verletzlichkeit springt einem immer wieder ins Auge, ja, geht aus der Sprache des Textes selbst hervor, der ganz aus ihrer Perspektive erzählt wird. Gleichzeitig verwandelt sie ihre Verletzlichkeit, die nicht nur, aber eben doch sehr viel mit ihrer Weiblichkeit zu tun hat, immer wieder in Stärke. Ihre Wirkung auf andere ist schillernd: mal aufreizend, mal provokativ, mal naiv, mal manipulativ. All dies sind Zuschreibungen, die Munas inneres Fühlen und Denken verfehlen, aber doch in gewissem Grade beeinflussen und formen. Unscheinbar ist sie jedenfalls nicht, doch der Grund, weshalb sie auffällt, unterscheidet sich oft himmelweit von dem, was sie sich eigentlich vorgestellt oder erhofft hat, und ruft zudem Gefühle auf den Plan, die einem Miteinander auf Augenhöhe im Weg stehen.

Vor diesem Hintergrund kann die „romantische“ Beziehung von Muna und Magnus, die im Mittelpunkt der Handlung steht und ihr Dreh- und Angelpunkt wird, ihre fatale Dynamik entwickeln. Muna lernt den deutlich älteren Magnus, einen Fotografen und Französischlehrer, bei einem Praktikum kennen. Von Anfang an ist sie fasziniert von ihm, und von Anfang an tritt er als ein kurzangebundener, misanthropischer Mensch auf. Er ist ein unverbindlicher, sich entziehender Charakter, ein Mann, der nach einer gemeinsamen Nacht verschwindet und jahrelang kein Lebenszeichen von sich gibt, der sich, wie Muna bei ihren hartnäckigen und doch erfolglosen Nachforschungen erfährt, in den Westen abgesetzt hat, um dort seine akademische Laufbahn in Gang zu bringen. Nach sieben langen Jahren, in denen Muna ihn nicht vergessen kann, taucht er plötzlich wieder auf, und die ungleiche Beziehung zwischen ihnen nimmt ihren zerstörerischen Lauf.

Das Besondere und besonders Fesselnde ist die Art, wie dieser amour fou sich stilistisch und kompositorisch im Text entfaltet. Alles wird aus Munas Perspektive wiedergegeben, deren Blick ein so radikal subjektiver wie um Aufrichtigkeit bemühter ist. Ihre manischen Phasen, ihr selbstzerstörerisches Verhalten werden ausschließlich aus der Sicht der davon Betroffenen selbst erzählt. Das Neben- und Ineinander ihrer im Schreiben gesuchten Wahrhaftigkeit und ihrer emotionalen Verblendung ist hochspannend zu lesen, und es ist beeindruckend, wie diese erzählerische Unmittelbarkeit doch wieder erzählerisch vermittelt wird. Terézia Mora, deren experimentellen Umgang mit Sprache, mit Text man zum Beispiel auch aus dem Roman Das Ungeheuer kennt, in dem ein Paralleltext im Fußnotenbereich der Seiten die eigentliche Erzählung begleitet und in neuem Licht erscheinen lässt, arbeitet hierfür diesmal auch mit Klammern und Einschüben. So entsteht ein Text, der sich immer wieder selbst korrigiert, mit der Diskrepanz und Bedingtheit von Innen und Außen spielt und das Zweifeln und Sehnen, Denken und unaufhörliche Hinterfragen einer zugleich starken und schwachen, rebellischen und unterwürfigen, berechnenden und naiven, zielstrebigen und schwankenden, eben nicht auf eine einfache Formel zu bringenden Hauptfigur abzubilden vermag.

Nicht nur Muna selbst übrigens, sondern auch die zahlreichen anderen Figuren, denen sie begegnet, sind zum Großteil gebrochene, geschädigte Charaktere, zumindest aber Menschen, deren Hoffnungen und Pläne Kompromisse mit der Wirklichkeit eingehen mussten. Manchmal verbergen sie sich hinter einer strahlenden Fassade, manchmal sind die Risse schon deutlich nach außen hin sichtbar. Doch die Gewalttätigkeit, die nicht selten dahinter lauert, überrascht die junge Muna mehr als einmal. Für den Leser ist sie schockierend, gerade weil sie sich so scheinbar logisch aus den Handlungen heraus entfaltet.

Bibliographische Angaben
Terézia Mora: Muna oder Die Hälfte des Lebens, Luchterhand 2023
ISBN: 9783630874968

Bildquelle
Terézia Mora, Muna oder Die Hälfte des Lebens
© 2024 Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München

bookmark_borderCharlotte Fauve und Marc Jeanson: Das Gedächtnis der Welt — Vom Finden und Ordnen der Pflanzen

Dass ein Eintauchen in die Geschichte der Botanik alles andere als eine weltabgewandte, trockene Nischenbeschäftigung für Spezialisten ist, wird einem schnell klar, wenn man in dem wunderbaren Sachbuch zu lesen beginnt, das die Journalistin Charlotte Fauve und der Botaniker Marc Jeanson gemeinsam geschrieben haben. Die stilsichere Feder der Journalistin und der große Erfahrungsschatz des Botanikers gehen eine gelungene Symbiose ein, aus der ein überaus lebendiger und anschaulicher Überblick über die Geschichte der Botanik hervorgegangen ist, in der Naturgeschichte und Kulturgeschichte kenntnis- und für den Leser erkenntnisreich miteinander verknüpft sind.

Das Gedächtnis der Welt ist eine charmante Mischung aus Erfahrungsbericht, Autobiographie und Biographie der Botanik, dessen erzählerisches Prinzip sich die Vorgehensweise der Botanik zunutze macht. So wie der Botaniker den Mikrokosmos der Pflanze studiert, um daraus Erkenntnisse über den komplexen Kosmos des Pflanzenreiches zu gewinnen, wählt auch der Text immer wieder das Anekdotische als Ausgangspunkt, von dem aus sich Rückschlüsse auf die Natur, auf die Geschichte der Menschheit, das Dasein des Lebendigen insgesamt ziehen lassen. Es ist, philosophisch gesprochen, ein sich öffnender Blick, der sich aufs Kleinste konzentriert, um offen für große Zusammenhänge zu sein. Und so erfährt man bei der Lektüre eine Menge an Kuriosem, an Staunens- und Wissenswertem, erhält Einblick in viele spannende Zusammenhänge zwischen Pflanzenleben und menschlicher Kulturgeschichte, und natürlich auch in die dem Wandel der Zeit unterworfene Arbeit des Botanikers.

Diese Arbeit, die Praxis der Botanik, schildert Marc Jeanson mit liebevollem Blick als eine zugleich bescheidene und doch so nützliche; er erzählt, wie er selbst als junger Mann das Herbarium in Paris kennenlernte, wo er sich erst einmal zurechtfinden musste:

Plötzlich war da diese wirre Ansammlung aus Papier und Pflanzen, die mir anfangs so zeitlos vorkam, fest in der Geschichte verankert, und das auch noch mit einer außerordentlichen Präzision. Das Gedächtnis der Welt bestand auch in diesen Tausend getrockneten Pflanzen, und jedes duftende Kron- oder Nebenblatt zeugte vom Fortschritt der Wissenschaft oder vom ersten Kontakt zwischen fremden Kulturen, auf Gedeih und Verderb. Mit diesen bescheidenen Gesten des jahrhundertelangen Sammelns und Pressens wurde das Herbarium zur Zeitmaschine.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

Eine Zeitmaschine ist auch der Text, der der Geschichte der Botanik in mehreren Jahrhunderten nachspürt, von Forscherdrang, Ausdauer, Neugier erzählt, die leider auch immer wieder in Hybris und Ausbeutung umschlug. Der Kolonialismus war ein maßgeblicher Kontext der Entstehungsgeschichte der Botanik, die Naturforscher, die ihre gefährlichen Expeditionen nicht selten selbst mit dem Leben bezahlten, und ihre Geld und Logistik bereitstellenden Auftraggeber verfolgten sehr unterschiedliche Ziele mit der Erforschung oder aber Eroberung neuer (Pflanzen-)Welten. Michel Adanson (1727-1828) etwa, einer der berühmten und teilweise in Vergessenheit geratenen Pioniere der Botanik, arrangierte sich mit seinen Auftraggebern:

Adanson, der Diener der Wissenschaft, sitzt in der Falle: Denn denen, die die Welt erweitern wollen, dient der Universalismus nur als Vorwand und die Erfassung der Lebewesen allein dazu, die neuen Gebiete ökonomisch und symbolisch zu unterwerfen. Die Gelehrten machen gemeinsame Sache mit den Kaufleuten, und die Kaufleute mit dem Staat.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

An dieser Instrumentalisierung der Botanik zu Herrschaftszwecken übte Adanson, der selbst bei den Eingeborenen lebte und ihre Sprache lernte, keine offene Kritik; er schlug aber eine bessere Behandlung der Sklaven auf den Plantagen vor und erkämpfte zumindest mit den impliziten Waffen des Gelehrten eine gewisse Offenheit für das nicht Vetraute, das Andere:

Eine andere seiner vielen Eigenarten besteht darin, dass er die lokalen Namen der von ihm entdeckten Pflanzen beibehält. Adanson hört den Schwarzen zu und besteht darauf, die Bäume nach ihren Worten zu taufen, spricht bei Papageienblättern lieber von Cadelari als von Alternanthera und bringt damit nicht wenige seiner Korrespondenten im Jardin du Roi aus der Fassung. Die kehligen Laute seiner Artennamen sind sperriger als die des Lateinischen, der Weltsprache seiner Zeit, und tragen die Fremdartigkeit bis in die Worte hinein.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

Joseph Pitton de Tournefort (1656-1708) unternahm in seinem Elément de botanique eine der ersten umfangreichen Klassifizierungen der Pflanzenwelt: 10.146 Arten, sortiert nach Blütenform. Pierre Magnol (1638-1715), Intendant des Botanischen Gartens von Montpellier, war der erste, der Verwandtschaften unter den Pflanzen vermutete und den Begriff der Familie für Pflanzen mit ähnlichen Merkmalen einführte; ihm ist übrigens die Magnolie gewidmet. Carl von Linné (1707-1778) leitete mit seiner bis heute gültigen binären Nomenklatur einen Wendepunkt in der Naturgeschichte ein; von nun an bestand eine korrekte wissenschaftliche Bestimmung aus dem übergeordneten Gattungsnamen und dem Epitheton für die Art und ihre Besonderheiten. Auch seine Vorgehensweise gibt Aufschluss über das Naturverständnis der Zeit, das von einer geheimen, göttlichen Ordnung ausging, die sichtbar gemacht werden konnte, wenn man die Pflanzen als die Geschöpfe Gottes benannte und sie „in die Harmonie eines immergrünen Horts“ einordnete. Rudolf Jakob Camerarius (1665-1721) erforschte die Sexualität der Pflanzen, Jean-Baptiste de Lamarck (1744-1829) entwickelte in seiner Flore française den Bestimmungsschlüssel, mit dem er die Botanik laientauglich machte, und begleitete die im Zuge der Revolution einsetzende Verwandlung des Pariser Jardin du Roi zum Muséum national d’histoire naturelle.

Dieser Ort der Erforschung der Pflanzenwelt in Paris hatte eine entscheidende Bedeutung in der Geschichte der Botanik schon allein dadurch, dass er eine „unausweichliche Etappe für Samen und Stecklinge [war], […] das Eingangstor, durch das all diese Arten gingen“, wie es in Das Gedächtnis der Welt heißt. „Die Blüten in unseren Gärten sind wohl das sichtbarste Erbe der botanischen Expeditionen.“ schreiben Fauve und Jeanson; in den vielen Jahrzehnten vom 16. bis ins 19. Jahrhundert gelangten von Tulpen bis zu Mammutbäumen vielfältigste Gewächse aus der ganzen Welt nach Paris und von da in die Gärtnereien und zu reichen Besitzern privater Gärten, die immer wieder auf Neuheiten erpicht waren.

Manchmal wird es im Text auch geradezu poetisch-philosophisch; es ist nicht zu überlesen, dass Jeanson seinen Beruf als Berufung versteht, und diese Begeisterung teilt er mit seinen Lesern:

Schreiben, beschreiben heißt, in das Geheimnis der Pflanze vorzudringen, den Saft zu schildern, der durch den Stiel nässt, den Nektar, der vom Stempel tropft, den Duft aufzufangen, der aus einer Blütenkrone dringt, den Schatten nachzuzeichnen, der unter der Pflanze liegt — und den Stift erst niederzulegen, wenn vor den geschlossenen Augen die Pflanze naturgetreu dasteht, ein identisches Abbild.
Wenn ein Botaniker eine Blüte schneidet, erfasst er den Moment und zugleich die Komplexität des Lebendigen.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

An einer anderen Stelle wird der Vergleich von Gärtner und Botaniker zur Metapher erhoben:

Der Gärtner begleitet die Entwicklung der Pflanzen, er umhegt sie, er erhält sie am Leben. Der Botaniker dagegen schneidet die Pflanzen ab, er beobachtet sie im Tod, um sie besser im Leben situieren zu können.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

Aus seinem Naturverständnis bildet der Botaniker sein Weltverständnis, was sich an den verschiedenen aufblühenden und wieder in der Versenkung verschwindenden Klassifizierungssystemen der Pflanzenreichs gut ablesen lässt:

Mit der Zeit hatten sich die Aufgaben der Sammlung verändert. Sie war nicht mehr nur eine pflanzliche Arche Noah, die sich mit der Beschreibung der Arten beschäftigte, sondern auch ein Ort zur Erforschung ihrer Evolution und der Mechanismen, nach denen sie sich auf der Erdoberfläche verteilten.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

Zur morphologischen Analyse tritt in der Gegenwart eine weitere Informationsquelle, die DNA, mit der ganz neue Prozesse erforscht werden können. Und doch bleibt die Dokumentation als zentrale Aufgabe bestehen, ein Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart, und eine essentielle Voraussetzung für die Zukunft nicht nur der Botanik:

Seit 350 Jahren verzeichnet das Herbarium alles. Die Arten, ihre Sammler, aber auch Datum und Fundort. Mit dem Erhalt der banalsten Belege und ihrer Wiederholung verhinderten wir, dass das Zeitband riss, das sich von Fund zu Fund zieht; und nur dieses Band kann heute zuverlässig die Verwerfungen der Floren und Landschaften dokumentieren.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

Und doch ist Jeansons Blick nicht frei von einer gewissen Nostalgie, einer Wehmut, die sich mit einem leisen Unbehagen vermischt:

Im 16. Jahrhundert war die Natur so beängstigend wie faszinierend, bevölkert von Ungeheuern und Chimären, denen die Herrscher dieser Welt in der Abgeschiedenheit ihrer Kuriositätenkabinette bei ihrem Kampf zusahen. Im 21. Jahrhundert ist die Wildnis bestens dokumentiert und mit einem Mausklick jederzeit zugänglich; das Mysterium ist dahin, höchstens bleibt uns noch eine Ahnung davon.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

Die Ambivalenz des Fortschritts macht sich Jeanson zufolge auch in der Botanik bemerkbar, die zwar über reich ausgestattete Museumssammlungen verfüge, während die Wildnis selbst als Lebensraum der Pflanzenvielfalt, durch Urbanisierung, Entwaldung, immer weiter zurückgedrängt werde. So gehe auch der neugierige, offene Blick für das Lebendige in seiner Gesamtheit verloren:

Die Globalisierung der Pflanzen hat zu einer Art Uniformisierung der Gartenflora geführt. Es gibt keine Wildpflanzen mehr, nur durch menschliche Selektion künstlich aufgeblähte Blüten, die den ahnungslosen Spaziergänger an der Nase herumführten, ihm weismachten, ihre breiten Blütenblätter verkörperten den Gipfel der Natürlichkeit.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

Natur versus technische Züchtung, Natürlichkeit versus Artifizialität, die Nostalgie von Fauve und Jeanson wirkt dennoch an keiner Stelle naiv. Der Botaniker erscheint in ihrem Buch ein wenig selbstironisch als eine aus der Zeit gefallene Spezies, deren Akribie und Selbstvergessenheit bisweilen zum Schmunzeln anregt. Wie in der Schilderung eines Forschungsaufenthaltes von Jeanson in New York, wo er seine nach Süden ausgerichtete Hochhauswohnung, einem geradezu idealen Standort für tropische Pflanzen, mit eben solchen bevölkerte:

Byron [sein New Yorker Mitbewohner] zählte eines Tages nach und kam auf 180 Arten, Unterarten und Varietäten, jede mit ihrer kleinen Gebrauchsanweisung, damit er keine Angst vor dem Gießen haben musste, wenn er das für mich übernahm. Ich fand daran nichts Besonderes, aber er würde sagen, dass es schon an Selbstverleugnung braucht, um mit einem Botaniker zusammenzuleben.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

Zugleich deuten die Autoren immer wieder an, dass man sich, so altmodisch und exotisch der Botaniker auch bisweilen wirken mag, von ihm doch auch etwas abschauen kann, einen bestimmten Blick auf die Welt, auf die Natur, die zu bewahren allemal erstrebenswert ist. So ist das präzise Hinschauen auf das kleineste Detail, das für den Botaniker zum Beruf gehört, vielleicht genau das, was sich in unserer beschleunigten Welt wiederzuentdecken lohnt: das Hinschauen auf die ökologische Vielfalt, auf den ganzen Makro- und Mikrokosmos der Natur, der nicht nur medienwirksame Koalas oder Eisbären bereithält, sondern aus einem ganzen Geflecht an Lebendigem besteht, das sich auch gegenseitig beeinflusst.

Die wenigsten Botaniker werden als Botaniker geboren. Erst mit der Zeit lernen sie, das Unsichtbare zu sehen. Die Tiere lenken mit ihrer Possierlichkeit die Blicke auf sich. Die Pflanzen dagegen bleiben reglos und schweigen. Dass sie so gar keine Reaktion zeigen, verweist sie auf die hinteren Plätze einer Welt, die ständig in Bewegung ist.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

Auch der Antrieb und die Besessenheit des Botanikers, zu sammeln, zu systematisieren, zu erfassen, seine „Angst — vielleicht ja gar nicht zu Unrecht –, die Zwiebel könnte eines Tages verschwinden und Gott oder die Wissenschaft könnte sie dann nach seinen Aufzeichnungen rekonstruieren“, sind altbewährte soft skills, die wir für die Zukunft wieder brauchen können. Wenn, wie es bei Fauve und Jeanson heißt, „Naturforscher der alten Schule, die eine Pflanze erkennen, aber auch in ihrer Ökologie und ihrem Lebenszyklus erklären können, zunehmend zur bedrohten Art“ werden, so tragen sie mit ihrem Text ein Stück dazu bei, ihre Leser anzuhalten, ihren Blick auf das uns umgebende Lebendige zu schulen und den Wert der innehaltenden, genauen Beobachtung zu erkennen.

Bibliographische Angaben
Charlotte Fauve und Marc Jeanson: Das Gedächtnis der Welt — Vom Finden und Ordnen der Pflanzen, Aufbau 2020
Mit Illustrationen von Nils Hoff und aus dem Französischen übersetzt von Elsbeth Ranke
ISBN: 9783351034627

Bildquelle
Charlotte Fauve und Marc Jeanson, Das Gedächtnis der Welt
© 2020 Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

bookmark_borderKamel Daoud: Zabor

Scheherazade erzählt, um zu überleben, Nacht für Nacht. Ismael, der Ich-Erzähler des algerischen Autors Kamel Daoud, für seine literarische Gegendarstellung von Camus‘ L’Etranger (in Meurseault, contre-enquête, 2014) auch dem deutschen Publikum bekannt, macht seinerseits die Nacht zum Tag und erzählt, um Leben zu retten. Er möchte Scheherazade sogar noch übertreffen, indem er, schreibend, erzählend, nicht sein eigenes Leben, sondern das all der anderen, die dem Tode auf irgendeine Weise nahekommen, verlängert. Doch als auf einmal sein eigener Vater, der, der ihn als kleinen Jungen zusammen mit der Mutter verstoßen hat, im Sterben liegt, gerät er in eine Krise.

Aus dieser Krise versucht sich Ismael, und hier setzt der Roman ein, wiederum mit dem Mittel der Sprache zu befreien: Er schreibt seine eigene Lebensgeschichte nieder, die Geschichte des Sohnes, der früh die Mutter verloren hat, der vom Vater, einem traditionell lebenden Schafhirten, verstoßen wird, der ungerechterweise beschuldigt wird, seinem Halbbruder Gewalt angetan zu haben, der bei der Tante aufwächst, die unverheiratet geblieben ist und halbe Tage mit dem Schauen von Telenovelas verbringt; er erzählt von seinen epileptischen Anfällen und seiner Gabe des Memorierens endlos langer Koranverse, von seiner Entdeckung französischer Romane, von seiner krächzenden Stimme, die Anlass für Spott und Häme seiner Mitschüler ist und ihn schließlich seine Erfüllung im geschriebenen Wort und der nächtlichen Dunkelheit suchen lässt. Er erzählt davon, wie es dazu kam, dass er der magische Geschichtenschreiber des Dorfes geworden ist, ein Außenseiter, den die Leute beargwöhnen und doch in ihrer Not immer wieder um Hilfe bitten. Wie sie an ihn und seine außergewöhnliche, den Tod überlistende Gabe glauben wollen.

Kamel Daoud hat für seinen Wunder wirkenden Erzähler eine Sprache gefunden, die selbst sehr an ein Märchen oder mehr noch einen Mythos erinnert. Die märchenhafte Verwandlung des armen Waisenjungen in einen Wunderheiler ist auch die eines mythischen Sündenbocks in ein magisches, die Macht des Todes bannendes Opferlamm. Wie im Mythos haben Namen eine symbolische, geradezu performative Bedeutung. Zunächst nennt sich der Ich-Erzähler Ismael, wie der erste Sohn Abrahams, der mit seiner verstoßenen Mutter Hagar in die Wüste geschickt wird. Im Koran ist Ismael auch der Sohn, der geopfert werden soll, und nimmt damit die Rolle des Opferlamms ein, die in der christlichen Bibel Isaak zugewiesen wird. Im Text werden noch zahlreiche weitere Hinweise auf das von René Girard als „Sündenbockmechanismus“ bezeichnete Bewältigungsritual traditioneller Gesellschaften gestreut, in dem der Ich-Erzähler die zentrale Funktion des Opferlammes einnimmt. Ismael hat viele Merkmale eines Außenseiters, allen voran seine mit dem Meckern einer Ziege verglichene Stimme, für die er sich schämt und die ihn, wie bereits erwähnt, einen abnormalen, dem der anderen Dorfbewohner entgegengesetzten Lebensrhythmus entwickeln lässt. Und wie von einem mythischen Sündenbock wird auch von Ismael behauptet, dass er Schuld auf sich geladen habe, nämlich die, als Kleinkind seinen Halbbruder in den Brunnen gestoßen zu haben. Ismaels Vater besitzt außerdem nicht zufällig Vieh, das er zu seinem Lebensunterhalt sowie zu rituellen Anlässen schlachtet. Es werden blutige Opferfeste geschildert, die Ismael abstoßend findet, so wie er übrigens auch die Tradition und die Religion, die in seinem Dorf noch eine wichtige Rolle spielen, mit großer Skepsis betrachtet.

Gleichwohl ist auch Ismael selbst in einer Welt aufgewachsen, in der Aberglauben, Rituale und magisches Denken das Handeln der Menschen bestimmen. Doch während die Dorfbewohner weiterhin Angst davor haben, dass das geschriebene Wort jemanden verfluchen kann, wendet der Ich-Erzähler diesen Glauben irgendwann ins Positive. Die Literatur wird zur Magie jenseits eines immer auch Gewalt und Ausschluss implizierenden Opferdenkens. Sie kann, das hat Ismael am eigenen Leib erfahren, beleben, erwecken, heilen. Warum soll sie es also nicht auch mit dem Tod aufnehmen können? Um seine Wandlung komplett zu machen, gibt sich Ismael einen neuen Namen, nachdem er seine Gabe erkannt hat. Er nennt sich von nun an Zabor. Zabor oder Zabūr ist nach der Lehre des Islam das heilige Buch, das Dawud (David) von Allah offenbart wurde, wahrscheinlich sind damit die Psalmen gemeint.

Kamel Daoud belässt es jedoch nicht bei einem der Zeit enthobenen Märchen. Seine Erzählung, das macht schon die sorgsam eingearbeitete Intertextualität deutlich, geht einen Dialog mit den großen Texten und kulturellen Traditionen der östlichen und westlichen Geschichte ein, und sie setzt sich auf komplexe Weise mit der Kolonialgeschichte Algeriens auseinander. Dem Ich-Erzähler eröffnet sich mit den Romanen, die er auf französisch liest, eine neue Welt, die Sprache der Kolonisatoren, die selbst nicht frei von Gewalt ist, bringt ihn dazu, seiner Berufung zu folgen und zu schreiben. Doch was er schreibt, das sind auf den Volksglauben zurückgehende magische Texte, so dass er eine Art Versöhnung von Altem und Neuem herbeizuschreiben imstande ist. Das gelingt ihm freilich nur, indem er selbst ein Leben im Schatten führt, in einer schmerzenden, subversiven Auflehnung gegen die immer noch vorherrschenden patriarchalen Strukturen, innerhalb derer Sexulität ein Tabu ist und Frauen unterdrückt werden. Als Sohn einer Verstoßenen liebt der Ich-Erzähler seinerseits eine Verstoßene, und führt ein Leben abseits der Norm. Doch auch die Gewalt, die Algerien als ehemalige Kolonie erlebt hat, bleibt in Kamel Daouds metapherngleich verdichtetem Mythos von der wunderwirkenden Kraft der Sprache nicht unausgesprochen. Und da Gewalt, wie es der Sündenbockmechanismus zeigt, eigentlich immer im herablassenden, furchtsamen, feindseligen Blick auf den anderen, dem die Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe verschlossen wird, ihren Ursprung hat, dreht Kamel Daoud in seiner Erzählung den Spieß um und lässt in einer so naheliegenden wie verblüffenden Umkehrung des Exotischen die französischen Romane, die Ismael verschlingt, als Gipfel der Faszination und des Kuriosen erscheinen.

Zabor liest sich wie ein endloser Psalm, mal lyrisch, mal bedrohlich, ein stürmisches Hohelied der Sprache, das nicht gerade eine leichte Sofalektüre ist, aber durch die Sprache den Blick und die Sinne schärft und herausfordert.

Bibliographische Angaben
Kamel Daoud: Zabor, Actes Sud 2017
ISBN: 9782330081737

Deutsche Ausgabe:
Kamel Daoud: Zabor, übersetzt von Claus Josten, Kiepenheuer & Witsch 2019
ISBN: 9783462052022

Bildquelle
Kamel Daoud, Zabor
© 2023 Les Editions Actes Sud, Société anonyme à directoire, Arles


bookmark_borderSally Rooney: Schöne Welt, wo bist du

Schon Gespräche mit Freunden, den ersten Roman der irischen Autorin Sally Rooney, habe ich gerade deshalb so gerne gelesen, weil Rooney ihre Figuren mit so leicht wirkender Feder in ihren Worten und Gedanken den Lesern nahekommen lässt, auch wenn sie einer anderen Lebenswelt angehören als man selbst. Auch in ihrem inzwischen dritten und wieder von Zoë Beck übersetzten Roman, Schöne Welt, wo bist du, ist man schon nach den ersten Seiten ganz bei den zwei Hauptfiguren, zwei jungen Frauen aus Irland, einer Schriftstellerin und einer Verlagsmitarbeiterin, deren Innenwelten sich im erzählerischen Perspektivenwechsel einer elektronischen Brieffreundschaft entfalten.

Das erzähltechnisch Auffällige und, wie ich finde, auch besonders Spannende und Spannungsreiche, ist in diesem Roman allerdings ein stilistischer Bruch, der dadurch entsteht, dass zwischen die Kapitel der Korrespondenz, in der die Ich-Perspektive eine tiefe Einfühlung in die Gefühle und Gedanken der Figur ermöglicht, noch eine weitere Erzählperspektive eingeschoben wird, die im Gegensatz dazu einen kühlen, nüchternen Blick von außen auf das Geschehen richtet. In externer Fokalisierung werden die Figuren und ihr Handeln wie mit einer Filmkamera gezeigt, es wird ganz nah herangezoomt, ohne in ihr Inneres hineinzuschauen.

Im Fokus dieses kühlen Kamerablicks sowie der in deutlich erhitzterem Ton verfassten Mails stehen vier junge Menschen aus Irland, vier junge Europäer, könnte man vielleicht auch sagen: die Freudinnen Alice und Eileen, von denen sich die eine, die Schriftstellerin, zum Schreiben, oder für einen Bruch mit ihrer bisherigen umtriebigen Lebensweise, in ein Haus auf dem Land zurückgezogen hat, während die andere in Dublin geblieben ist, wo sie in bescheidenen Verhältnissen für eine Literaturzeitschrift arbeitet; und in gewisser Symmetrie dazu die beiden Männer Felix und Simon, die man nur aus der Außenperspektive der beiden Frauen und, in wiedererkennbarem Rooney-Duktus gestaltet, aus derjenigen der wiedergegebenen Dialoge kennenlernt. Diese vier stehen in nicht ganz eindeutig zu bestimmenden näheren Verhältnissen der Freundschaft, der Liebe, und eines fließenden Dazwischen, zueinander. Ihre freundschaftlichen und amourösen Beziehungen bilden das Zentrum des Romans, um das sich peripher, aber durch viele kaum auflösbare Knoten verknüpft, die in unserem Jahrhundert großen Themen des Arbeitens, Wohnens und ganz allgemein des Lebenswandels legen. Anders, als es heute bisweilen dargestellt wird, sind diese jungen Leute aber keine apolitischen, weltfremden Ignoranten ihrer Umwelt, sondern sich ihres Daseins in einer krisengeschüttelten Welt sehr bewusst. Lebenskrisen, Beziehungskrisen und gesellschaftliche Krisen gehen in ihrer sensiblen Wahrnehmung jedoch ineinander über, Selbstzweifel und Selbstironie liegen manchmal nah beieinander, ohne deshalb gleich der Versuchung des Relativierens zu erliegen.

Gerade im Medium des elektronischen Briefes, der sich freilich in Buchform auch nicht anders liest als eine klassische Korrespondenz, verschmelzen Emotionalität und Intellektualität auf eine nach Offenbarung suchende Weise miteinander. Der Anklang an den Briefroman, als literarischer Ausdruck der Empfindsamkeit, als Feier der Freundschaft und der Authentizität, ist nicht zu übersehen. Und doch, alles andere würde heute wahrscheinlich als naiv bezeichnet werden, steht er unter anderen Vorzeichen. Die Briefeschreiberinnen nehmen kein Blatt vor den Mund, scheuen keine Direktheit, ihre Worte könnten für die andere sehr verletzend sein, wenn sie sich nicht so gut kennen und verstehen würden. Ehrlichkeit und Schonungslosigkeit sind oft nicht voneinander zu trennen, doch Sally Rooney lässt auch Wärme und Humor durch ihre Zeilen hindurch schimmern und geht nicht soweit, ein gewisses Wohlgefühl des Lesers zu zerstören. So wird das Briefeschreiben zu einem feinen, einem präzisen, verästelten Befragen und Selbstbefragen, ein permanentes Suchen nach der richtigen Deutung. Immer wieder wird eine neue Facette eines Gefühls, einer Handlungsmotivation ergänzt, mit feinsten Antennen ein noch so kleines intellektuelles Detail oder eine emotionale Schwingung aufgespürt. Das Einander-Schreiben wird zum Ausdruck einer fortwährenden und letztlich unabschließbaren Suche nach Wahrheit, nach der Wahrheit über den anderen, über sich selbst, über die gegenseitigen Beziehungen. Dabei tasten sich die beiden Briefeschreiberinnen fast zwangsläufig an eine Metaphysik heran, die sie sonst aus Verstandesgründen ablehnen, die ihrer Aufgeklärtheit, ja manchmal geradezu Abgeklärtheit zu widersprechen scheint. Je länger sie schreiben, desto mehr kommt auch ihre Verletzlichkeit, die sie zugleich fürchten und ersehnen, an die Oberfläche der Worte.

In derselben Weise, in der, vorsichtig und doch mit Nachdruck, an der Oberfläche der Gefühle gekratzt und dann richtig gegraben wird, seziert der Roman auch die gegenwärtigen Diskurse über Beziehungen, Geschlechterrollen, Identität, gerade ohne das Deckmäntelchen einer es sich zu einfach machenden politischen Korrektheit. Dieses wird ohne Scham heruntergezogen, und enthüllt erstaunlicherweise ein anderes Erleben von Schamhaftigkeit, die eigene Verletzlichkeit und die des anderen.

Der Titel des Romans zitiert einen Vers aus einem berühmten Gedicht von Friedrich Schiller, Die Götter Griechenlands, ein nostalgischer Verweis auf eine vom Göttlichen erfüllte Natur, Ausdruck einer längst nicht mehr zu stillenden Sehnsucht nach einer beseelten mythischen Ursprungszeit; und gleichzeitig klingt in dieser Zeile auch Aldous Huxleys „schöne neue Welt“ an, in der die Utopie ja klar ins Negative gewendet wird. Beides, die Sehnsucht und die Entzauberung, widerstreiten in Sally Rooneys Roman, in dem sich die Autorin wieder als eine Stilistin des Dialogs erweist, des locker leichten und niemals bloß oberflächlichen Gesprächs.

Bibliographische Angaben
Sally Rooney: Schöne Welt, wo bist du, Claasen 2021
Aus dem Englischen von Zoë Beck
ISBN: 9783546100502

Bildquelle
Sally Rooney, Schöne Welt, wo bist du
© 2021 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

bookmark_borderWolf Haas: Eigentum

Wenn Wolf Haas die Lebensgeschichte seiner Mutter in Erzählform packt, dann ist klar, dass daraus kein pathetischer Roman entsteht, auch wenn das Leben seiner Mutter, die 1923 in ein es nicht gerade gut mit ihr meinendes Jahrhundert geboren wurde, durchaus Stoff dafür bereitgehalten hätte: Im zarten Mädchenalter aus einer kinderreichen Familie als Dienstmagd zu einem wohlhabenderen Bauern in Pflege gegeben, als junge Frau im Krieg zum Arbeitsdienst nach Deutschland verschickt, mit einem Baby im Bauch die Schweiz verlassend, wo sie als Nichtschweizerin noch dankbar für den mageren Lohn sein musste, den sie verdiente, aus dem inzwischen auch mit ihren hart erarbeiteten Ersparnissen neu erbauten Elternhaus bald wieder verjagt, hat sie erst spät im Leben einen eigenen Platz gefunden, und auch der war sehr beschränkt — und nur zur Miete.

Doch Haas, der das wohlmeinend-kategorische Diktum seines älteren Dichterkollegen, „Lass weg, Haas“, mit einer deutlichen Spur Selbstironie verinnerlicht hat, geht die Sache anders an. In nüchtern-charmantem Wolf-Haas-Ton, der hier doch trotz aller schroffen, kratzbürstigen Direktheit auch eine nicht wegzuschreibende Sohnesliebe zur inzwischen kurz vor dem Tod stehenden Mutter durchscheinen lässt, erinnert er sich bei einem Besuch in seinem Geburtsort, der nun auch der Sterbeort seiner Mutter wird, und während er eigentlich eine Poetikvorlesung konzipieren will, an die oft mantraartig wiederholten Bruchstücke von Erzählungen und Lebensweisheiten, die seine Mutter ihm, seit er denken kann, wieder und wieder in ihrem vom Autor natürlich köstlich wiedergegebenen österreichischen Dialekt vorgebetet hat, so dass schon der kleine Wolf Haas ihre einer vielfach enttäuschten Hoffnung erwachsenen Glaubenssätze zum Sparen und Erwerben eines eigenen Heims verinnerlicht hat. Ironischerweise wird ihr der lebenslang gehegte Wunsch erst nach dem Tod erfüllt, ihr erstes Eigentum sind die paar Quadratmeter Friedhofserde, in die sie als Tote gebettet wird, was ihr am Ende ihres Lebens zur anfänglichen Irritation ihres Sohnes ein Grund zur Genugtuung wird.

Das Reflektieren solcher absurd wirkender und doch in voller Überzeugung gelebter Glaubenssätze ist der Gegenstand der Erzählung, in der mal schalkhafte, mal bitterböse Ironie und anteilnehmende Rekonstruktion eines vom Schicksal durcheinander gewirbelten Lebens einander nicht ausschließen.

Bibliographische Angaben
Wolf Haas: Eigentum, Hanser 2023
ISBN: 9783446278332

Bildquelle
Wolf Haas, Eigentum
© 2023 Carl Hanser Verlag, München

bookmark_borderVictor Jestin: La chaleur

La chaleur, die Hitze, ist ein heißes, erstickendes Kammerspiel, das sich im kurzen Zeitraum von nicht einmal zwei ganzen Tagen an der so gar nicht frischen, sondern vor Hitze flirrenden Luft eines französischen Campingplatzes am Atlantik in den Landes abspielt.

Geschrieben hat das Buch der junge Autor Victor Jestin, Jahrgang 1994, der dafür in Frankreich auch schon mehrfach ausgezeichnet wurde. La chaleur ist sein Debüt, ein aus der Perspektive des 17-jährigen Léonard erzählter Jugendroman, der stilistisch und psychologisch eindrucksvoll geschrieben ist und seinen Lesern emotional einiges abverlangt. Dem Text fast wie eine Warnung vorangestellt ist ein Zitat aus Büchners Woyzeck, über dessen gleichnamige Hauptfigur im Laufe der Theaterhandlung, sinngemäß, eine andere sagt, sie sei in ihrem Wahn zum offenen Rasiermesser für die Welt um sie herum geworden.

Die Schockstarre, in die einen gleich die ersten Zeilen von La chaleur versetzen, hat nichts Rasiermesserblutiges an sich und doch lässt sie einen wie in der eigenen voyeuristischen Leserperspektive ertappt innehalten. Es wird geschildert, wie Léonard, ein Jugendlicher, der seine Sommerferien an einem Campingplatz am Meer verbringt, im Schutze der Dunkelheit beobachtet, wie ein anderer Jugendlicher, Oscar, den Léonard nur flüchtig kennt, sich im trunkenen Zustand selbst tötet, wie er sich in die Seile der Schaukel eindreht, auf der er sitzt, wie er sich irgendwann nicht mehr herauswinden kann und sich so langsam, qualvoll selbst erwürgt. Wie der Leser verhält sich auch Léonard in dieser Szene wie ein Voyeur, wie gelähmt begnügt er sich damit, zuzuschauen, ja er sieht dem anderen sogar direkt in die Augen, greift aber nicht ein, tut nichts, die schreckliche Tat zu verhindern. Auch unmittelbar danach steht Léonard immer noch wie neben sich, er begreift selbst nicht, warum er das Schreckliche, warum er den Tod zugelassen, warum er nicht gehandelt hat. Was er aber begreift, ist, dass er durch seine Passivität Schuld auf sich geladen hat. Doch er handelt weiter irrational. Anstatt Hilfe zu holen oder auch einfach nur abzuhauen, vergräbt er den Leichnam des Jungen am Strand in den Dünen.

Während der ganzen Erzählung ist man kontinuierlich in den Gedanken von Léonard, erlebt alles aus seiner Sicht. Das ist schockierend, intensiv, und verwirrenderweise auch berührend, man fühlt mit ihm und ist zugleich abgestoßen von seinem (Nicht-) Verhalten. Jestin lässt uns auf diese Weise in großer Eindringlichkeit miterleben, wie Léonard den darauffolgenden Tag verbringt, die darauffolgende Nacht, und die weiteren Tage bis zu seiner Abreise. Man lernt den Jugendlichen und seine Innenwelt immer genauer kennen, erfährt, dass Léonard eigentlich alles andere als einer der feierwütigen Teenager ist, die sich auf dem Campingplatz tummeln, dass er sich auf all den Partys eher fehl am Platz fühlt und nicht so recht Anschluss zu finden vermag. Auch an jenem fatalen Abend hatte er sich früher zurückgezogen und die Einsamkeit gesucht. Man erfährt auch, wie Léonard mit seinen kleinen Geschwistern umgeht, wie er mit seinen Eltern klar kommt, wie er — aus Pflichtgefühl, aus Neugier, schlechtem Gewissen, dem Wunsch zu reden — bei Oscars Mutter vorbeischaut, und wie er sich in ein Mädchen verliebt, das am Vortag ausgerechnet mit Oscar geflirtet hatte; wie er sich, so wie Oscar in den tödlichen Seilen der Schaukel, in einer hitzigen Gedankenspirale an den toten Jungen verfängt, und wie er immer wieder Anstrengungen unternimmt, zu reden, zu beichten, und es doch nicht über sich bringt.

Die titelgebende Hitze, die natürlich symbolischen Charakter hat, macht Jestin zur sichtbaren oder besser spürbaren Begleiterin der innerlichen Turbulenzen, die Léonard durchlebt. Fast erscheint seine „Tat“ als notwendige Konsequenz der Jahr für Jahr und auch in diesem Sommer immer unerträglicher werdenden Temperaturen:

Depuis quelques étés déjà, la chaleur ne cessait de s’intensifier. Chaque année elle surgissait plus tôt, cette fois dès février, et on l’avait accueillie sans crainte, trop heureux de finir l’hiver, on avait dressé les terrasses des bars sans présager du pire. Je me demandais à compter de quel degré ce serait trop. Tout se renverserait. On fuirait ce camping comme on saute d’un appartement en flammes (…).

Schon seit einigen Sommern nahm die Hitze unablässig an Intensität zu. Jedes Jahr kam sie früher, dieses Mal schon im Februar, man hatte sie furchtlos begrüßt, freute man sich doch zu sehr, dass der Winter endlich zu Ende war, man hatte die Terrassen der Bars geöffnet, ohne das Schlimmste zu ahnen. Ich fragte mich, ab wieviel Grad der Punkt überschritten wäre. An dem sich alles umkehren würde. Man würde vom Campingplatz flüchten, so wie man aus einer brennenden Wohnung springen würde (…).

Jestin, Chaleur, S. 33, Übersetzung der Rezensentin

An diesem Kipppunkt, das ist die erzählerische Kunst des jungen französischen Autors, bewegt sich die ganze Erzählung. Die Hitze des Sommers wird zu einem flirrenden Bild für das überhitzte Verhalten auch der anderen Teenager, all der flirtenden Mädchen, der aggressiven halbstarken Jungen, des unglücklichen berauschten Oscar. Bei Léonard ist die Hitze auch ganz deutlich an ein Empfinden der Enge, der Bedrängnis im Inneren gekoppelt, so dass er bisweilen mit einer scheinbar paradoxen Gefühlskälte auf die äußere Überhitzung reagiert. Das schließt nicht aus, dass sich hinter einer solchen scheinbar emotionslosen Haltung ein sehr sensibler Junge verbirgt; seine innere Stimme, die das Geschehene, die den toten Oscar nicht aus dem Gedächtnis vertreiben kann, spricht Bände, und man leidet beim Lesen mit, erlebt seine Ohnmacht, seine Hemmungen gegenüber seinen Altersgenossen fast wie am eigenen Leib. Mit einfachen und doch immer wieder genau ins Herz treffenden Worten schildert Jestin die unbeholfenen Versuche eines introvertierten und zutiefst aufgewühlten Jungen, mit anderen in Kontakt zu treten, wie etwa mit Louis, einem anderen Teenager auf dem Campingplatz, zu dem sich eine flüchtige Freundschaft anbahnt:

J’ai voulu lui [Louis] tapoter l’épaule, lui dire un mot, faire quelque chose, mais rien n’est venu. J’ai tenté d’imaginer ce que cela faisait d’être lui en permanence, mais je n’ai pas réussi non plus.

Ich wollte ihm [Louis] auf die Schulter klopfen, ihm etwas sagen, irgendetwas tun, aber es kam nichts aus mir heraus. Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie es wäre, ständig in seiner Haut zu stecken, aber auch das habe ich nicht fertiggebracht.

Jestin, Chaleur, S. 67, Übersetzung der Rezensentin

Trotz der beklemmenden Hitze allerorten wird der Roman nicht gänzlich von einer düster-schweren Atmosphäre erdrückt, denn Jestin gelingt es, ohne Stilbruch auch leichtere Szenen einzubauen, kurze Einblicke in den Familienalltag zu geben oder das zarte und zugleich herausfordernde Entstehen einer Freundschaft, einer Liebe zu schildern, die das Camp nicht überdauern werden. Eine Melancholie der Zeitlichkeit liegt über allem, das Leichte und das Schwere sind nicht voneinander zu trennen, sind eng verschlungen im so eindringlich erzählten Kosmos einer jugendlichen Suche nach Liebe und Wahrheit. Victor Jestins Text ist vielleicht nicht unbedingt nur ein Jugendroman, sondern vor allem ein überzeugendes psychologisches Sommerstück, das einen Blick hinter die idyllischen Kulissen der Sandstrände wirft und in einer poetischen klaren Sprache die Desillusionierung eines schmerzhaft der Kindheit entwachsenen Teenagers erzählt, die fast als Parabel für die gegenwärtige Desillusionierung der Menschheit über sich selbst gelesen werden könnte.

C’est beau les Landes, disaient les gens. L’air est pur, il fait chaud, on a l’océan devant soi. Personne ne disait: C’est terrible, les Landes. C’est le faux calme des pins, le fracas des vagues dont on sait bien qu’elles on déjà tué, et tous ces rires et cris de jouissance mêlés en un même écho sourd […].

Wie schön die Landes sind, sagten die Leute. Die Luft dort ist klar, es ist warm, der Ozean liegt vor einem. Niemand sagte: Wie schrecklich die Landes sind. Die trügerische Ruhe der Pinien, der Lärm der Wellen, die, wie man genau weiß, schon den Tod gebracht haben, und all das Gelächter und die Schreie der Lust, die sich im selben dumpfen Echo miteinander vermengen […].

Jestin, Chaleur, S. 47, Übersetzung der Rezensentin

Bibliographische Angaben
Victor Jestin: La chaleur, Flammarion 2019
ISBN: 9782081478961
In deutscher Übersetzung von Sina de Malafosse ist Victor Jestin: Hitze 2021 bei Kein & Aber erschienen.

Bildquelle
Victor Jestin, La chaleur
© Éditions Flammarion SA, Paris



bookmark_borderDrago Jančar: Als die Welt enstand

Drago Jančar erdichtet in einem mythisch aufgeladenen und doch sehr diesseitigen und geschichtsbewussten Buch den biblischen Mythos von David neu, bringt ihn variantenreich und getragen von einer kraftvollen poetischen Stimme im Jugoslawien der Nachkriegszeit zur erzählerischen Entfaltung. In der so unscheinbaren wie traurigen und zeitlosen Geschichte der schönen jungen Helena, genannt Lena oder Lenca, die ins Haus gegenüber von Danijel einzieht, dem zum Zeitpunkt der Geschichte jugendlichen Erzähler, die sich zuerst in den etwas grobschlächtig und einfältig wirkenden, aber handwerklich begabten Pepi verliebt, dann in den vagabundierenden Frauenhelden Ljubo, sowie in den diese Liebesintrige umwirkenden Geschichten ihrer Nachbarn verwirklicht sich zum wohl xten Mal seit der Entstehung der Welt die Geschichte von David und Goliath, die auch die von David und Batseba ist. Es geht um Gewalt und Begehren, um Gut und Böse, um Ressentiment und Zugehörigkeit, um Kindheit und verlorene Illusionen, um Neuanfänge und alte Wunden.

Der Erzähler Danijel, am Ende des zweiten Weltkriegs geboren, kennt den Krieg nur aus den Erzählungen der Erwachsenen, liest aber überall in Maribor seine Spuren, die sich tief in die Stadt und ihre Bewohner eingegraben haben. Auch wenn die ehemaligen Partisanen mit ihrem Helden Tito die Nazis aus dem jetzt Jugoslawien genannten Land verjagt haben, was die Männer, die aus dem Krieg zurückgekehrt sind, in vielen trunkenen und immer wieder ausartenden Nächten zu feiern versuchen, ist kein Frieden eingekehrt. Die Gewalt des Krieges dauert fort, unverarbeitete Traumata und Ressentiments, zum Beispiel gegen die deutschslowenischen Bewohner der Stadt, kochen immer wieder hoch, es brodeln die Konflikte zwischen Nachbarn, zwischen denen, die an Gott und jenen, die an den Kommunismus glauben, zwischen und innerhalb der Familien. Auch in Danijels Familie gibt es solche explosiven Stellen, die immer dann nach außen sichtbar werden, wenn der Vater wieder zu viel Wein trinkt und die Mutter erwägt, ob sie mit dem Sohn besser über Nacht zu ihrer Schwester flüchten soll.

Auffällig ist an Danijels Erzählung, dass sie doppelt indirekt und zugleich stark ich-aufgeladen ist, die Erzählperspektive ist gewissermaßen gebrochen und hält noch einen zweiten, versteckten, erst ganz am Ende kurz auftretenden oder besser aufblitzenden Erzähler im Hintergrund bereit; oft wird die Ezählung eingeleitet mit „Danijel erzählte,…“, worauf lange Passagen in der Ich-Form folgen. Zwischendurch spricht jedoch auch der versteckte Erzähler, über den man nur mutmaßen kann, dass er ein Freund oder Schüler — oder Chronist — Danijels ist, der dessen Erinnerungen Jahrzehnte später zur Aufzeichnung bringt. Mit Danijel als Erzähler hat es nämlich noch eine weitere Bewandtnis. Sein Name verweist auch auf eine Figur und ein Buch der Bibel, auf den apokalyptischen Seher und Traumdeuter Daniel, als welcher auch Jančars Danijel auftritt, mit einem kindlichen, aber dadurch auch unvoreingenommeneren Blick. Dieser Bezug fügt sich gut in die ohnehin stark biblisch aufgeladene Atmosphäre des Romans. Auch der titelgebende Satz „Als die Welt entstand“ lässt sich lesen als Verweis auf das zyklisch sich wiederholende mythische Geschehen auf Erden, auf das Schicksalhafte, Unausweichliche, auf den Tod und auch die Gewalt, die sich immer wieder wie eine unheimliche Energie entlädt. Alles Religiöse ist in Titos Jugoslawien zwar verpönt, aber doch nicht vollkommen aus dem Leben zu tilgen. Auch für Danijel, den seine Mutter gegen den Willen des Vaters hat taufen lassen und als Jugendlichen weiter heimlich zu den Kapuzinern schickt, ist Pater Aloisius mit seinen Geschichten aus der Bibel eine wichtige, wenn auch ambivalente Bezugsperson.

Einen noch größeren Einfluss hat vielleicht die zweite Bezugsperson Danijels außerhalb der Familie, nämlich Professor Fabjan, der dem neugierigen Jungen mit seinem Globus die Welt erklärt und ihm auch vom Himmlischen das Sichtbare und gleichermaßen Faszinierende begreiflich macht, die Wolkenformationen, in deren Anblick sich Danijel so gerne versenkt, allein in Gedanken für sich oder in Gesellschaft seiner Freundin Vasilka. Denn Danijel möchte die Welt um ihn herum begreifen, die ihm immer wieder so unverständlich erscheint, so seltsam und widersprüchlich, wie im Verhalten der Erwachsenen, so faszinierend und auch grausam, wie in seinen Träumen. In Danijels überwältigter Kinderseele spiegelt sich der Zustand der Welt nach dem Krieg, so dass seine eigene Suche nach einem moralischen Kompass fantastisch apokalyptische Züge annimmt. „Als die Welt entstand“ verweist nämlich auch auf das, das was jeder Mensch erlebt, auf das millionen- und milliardenfach sich wiederholende Entstehen und Reifen und Begreifen des Schmerzlichen und des Schönen in der Welt, das mit dem Zeitpunkt der Geburt beginnt und sich bis zum Tod nicht aufhalten lässt. So beginnt Danijel in der Bewegung zwischen Höllenfahrt und Himmelsflug, die Ewigkeit und Endlichkeit des Lebens spüren.

Schließlich erzählt der Autor in diesem Buch auch eine Geschichte des Verschwindens, das verschiedene Formen annehmen kann. So viele Figuren aus dem Text, die für Danijels Welt der Kindheit und Jugend bedeutsam sind, verschwinden nach und nach: Professor Fabjan, der vielleicht nach Patagonien ausgewandert ist oder doch eher nach Sibirien verbannt oder inhaftiert wurde, wie der Autor selbst es war, der Bruder, der sich in eine weitere Davidsfigur verwandelt und sich als solche nach kurzem Auftritt wieder verliert, Lena, die ins Gefängnis geht und danach nicht mehr dieselbe ist; auch der invalide deutsche Nachbar verschwindet eines Tages von heute auf morgen mit seiner ganzer Familie, auch Vasilka und mit ihr ein erstes zartes, im Entstehen befindliches Liebesgefühl, und auch der Vater, der, durch einen Schlaganfall nun auch körperlich versehrt, aus Danijels Leben und ins ferne Kurhaus verschwindet.

Drago Jančar hat ein eindringliches Buch geschrieben, dessen poetisch-realistischer Ton bisweilen an Robert Seethalers Romane über einfache und gebeutelte Lebensschicksale erinnert, um dann für Momente in einer traumgleichen Opulenz apokalyptischer Visionen aufzubranden.

Bibliographische Angaben
Drago Jančar: Als die Welt entstand, Zsolnay 2023
ISBN: 9783552073586

Bildquelle

Drago Jančar, Als die Welt enstand
© 2023 Carl Hanser Verlag, München

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