bookmark_borderJean-Philippe Toussaint: L’Échiquier

Wer von der Literatur lebt — und das ist nicht ökonomisch gemeint –, für den ist das Schreiben als Projekt niemals abgeschlossen, am Text des Lebens wird unermüdlich weitergewoben. Neigt sich die Arbeit an einem Buch dem Ende entgegen, hat die Zeit des neuen Textentwurfs schon begonnen, die immer wieder auch eine Zeit der neuen Orientierung ist. In dieser Nervosität ebenso wie Euphorie hervorrufenden Phase ist L’Échiquier, das neue Buch des belgischen Schriftstellers Jean-Philippe Toussaint, entstanden: Während er die Druckfahnen seines letzten Buches Les Émotions korrigiert, schwelgt er, schreibend, denkend, entwerfend, bereits darin, mit gleich drei schriftstellerischen Vorhaben seine literarische Verteidigung gegen die unvermeidlichen Verletzungen des Daseins fortzuführen. Er will, erstens, Stefan Zweigs Schachnovelle ins Französische übersetzen, zweitens, einen Essay über das Übersetzen verfassen und, drittens, parallel dazu eine Art Bordtagebuch, eben den vorliegenden Text, L’Échiquier (dt. „das Schachbrett“), in Angriff nehmen, einer Reflexion zugleich über das Schreiben und das Übersetzen.

Zwei dieser Projekte, die Übersetzung von Stefan Zweig und das „journal de bord“, sind 2023 im Verlag Les Éditions de Minuit erschienen. Sie sind zu einem gewissen Teil auch von den besonderen Umständen der Coronapandemie getragen und beeinflusst, die Toussaint als beunruhigenden und zugleich merkwürdig beflügelnden, in jedem Fall nachhaltig erschütternden Einbruch der Wirklichkeit in das individuelle Dasein wahrnimmt. Während in dieser angespannten Situation öffentlich viel über die Zukunft und die notwendigen Veränderungen in ihr diskutiert wird, erfährt Toussaint die Krise vor allem als Rückkehr in die Vergangenheit, wirft diese ihn zurück in die Abgründe der Erinnerung. Doch auch wenn immer wieder Autobiographisches in seinen Text mit einfließt, ist dieses „Tagebuch“ in jeder Zeile Literatur und Reflexion. Das Persönliche motiviert das Erzählte, es drängt sich immer wieder auf und hinein in den Text, da Leben und Schreiben bei Toussaint eng miteinander verwoben sind. Doch das Ordnungsprinzip seines Buches besteht nicht darin, romanhaft ein Leben ab ovo zu erzählen, zu rekonstruieren. Die Ordnung oder Struktur des Textes ist vielmehr das titelgebende „Schachbrett“, auf dessen Feldern er wie die Figur des Pferdchens springt, in einer raumzeitlichen Logik, deren Zügel innerhalb des gegebenen Rahmens gelockert sind und mit denen in der schreibenden Hand er weniger den Spielregeln der Chronologie als gewissen Mustern und Assoziationen folgt, die ihn auf das Terrain der Erinnerung führen. Die Erinnerungen in L’Échiquier sind nicht ausufernd, aber sie werden mit den Instrumenten des Schriftstellers bearbeitet, durchdrungen, durchleuchtet, in ihrer Vielschichtigkeit und auch Inkonsistenz konstruiert und hinterfragt. Es sind vor allem blitzlichtartige Momente seiner Kindheit und Jugend, die der sich erinnernde Ich-Erzähler an die Oberfläche des Textes holt, Erinnerungsspuren, die ihn zurück ins Internat, zu vergangenen Freundschaften und nicht zuletzt zu seinem inzwischen verstorbenen Vater führen, der es zu Lebzeiten immer wieder bedauert hat, als einziger der Familie in keinem der Bücher seines Schriftstellersohnes aufzutauchen. Nun, nach seinem Tod, scheint der Moment gekommen, und L’Échiquier ist, so wird sich der Erzähler beim Schreiben immer deutlicher bewusst, im Grunde ein Buch darüber, wie er zum Schriftsteller geworden ist, und, eng damit verbunden, über seine Beziehung zum Vater, der selbst ein renommierter Journalist war und dessen uneingestandenen Wunsch, Schriftsteller zu werden, er als sein Sohn schließlich gewissermaßen substitutiv erfüllt hat.

Auffallend ist auch die Nähe zu Patrick Modiano in manchen Passagen, mit dem er das schriftstellerische Interesse für die so hartnäckige wie behutsame Erkundung der literarischen Dimension der Zeit teilt und für die Rolle, die die subjektive und in der Folge immer wieder mysteriöse Kategorie der Erinnerung darin spielt. Das Geheimnisvolle der Erinnerung, das von einem leisen Unbehagen, ja manchmal auch von Schmerz durchzogen ist, das Bruchstückhafte, Schemenhafte früherer Begegnungen, die im Nachhinein anders oder überhaupt gedeutet werden, all das findet man auch bei Jean-Philippe Toussaint, der etwa von einem älteren Internatsjungen erzählt, der sich mit einem Mysterium umgeben hat, sich in Andeutungen an einen Vater erging, der beim Geheimdienst sei, der nach den Weihnachtsferien ohne Erklärung nicht mehr in die Schule zurückgekehrt ist, und dessen Verschwinden noch immer ein von der Aura der Gefahr und des Todes umwehtes Rätsel darstellt.

So wie Stefan Zweig den Schriftsteller schon sein Leben lang beschäftigt, begleitet ihn auch das Schachspiel seit seiner Kindheit; er erinnert sich an Schachpartien mit seinem Vater, die dieser grundsätzlich gewann, daran, wie er beim Duell Karpov/Kasparov im Publikum saß, wie er in der Schachabteilung der Bibliothek im Centre Pompidou auf andere Gestalten traf, die von diesem Sport auf ähnliche Weise in den Bann gezogen wurden wie er. Auch sein erster, unveröffentlichter Roman hat den Titel Échecs (dt. „Schach“). Und doch ist das Schachspiel für den Schriftsteller Toussaint vor allem eine Gedankenfigur, die ihn durch seinen gedankenreichen Text trägt, der immer wieder in Reflexionen über die Literatur und das Schreiben mündet. Sie fließen aus der Feder eines Schriftstellers, der Kafka und Nabokov bewundert, der in einem Verlag publiziert wird, in dem auch Beckett, Robbe-Grillet und Sarraute verlegt wurden, der das Schreiben als Umgang mit dem Dasein in seiner Existentialität betrachtet, der in der Literatur Schutz vor der Wirklichkeit sucht und diese dabei doch nicht ausblendet, sondern sich intellektuell mit ihr auseinanderzusetzen versucht, wie Odysseus, der den Sirenen zu lauschen vermag, ohne sich von ihrem Gesang töten zu lassen. So hat L’Échiquier eine philosophische Grundierung, die neben einer unbestreitbaren Melancholie auch den Humor nicht ausschließt. Was den Text so sympathisch und lesenswert macht, ist nämlich die immer wieder aufblitzende Selbstironie des sich erinnernden, schreibenden, alternden, aufrichtigen Schachbretthüpfers der Literatur, der mit so treffenden wie komischen Zeilen Einblick in die Detailarbeit aus dem Alltag eines Übersetzers gibt und das augenzwinkernde Porträt eines um Aufrichtigkeit bemühten und doch immer wieder auf Stolpersteine stoßenden existentiellen Sprachsuchers entwirft.

Bibliographische Angaben
Jean-Philippe Toussaint: L’Échiquier, Editions de Minuit 2023
ISBN: 9782707348852

Deutsche Ausgabe:
Jean-Philippe Toussaint: Das Schachbrett, Frankfurter Verlagsanstalt 2024
Übersetzt von Joachim Unseld
ISBN: 9783627003180

Bildquelle
Jean-Philippe Toussaint, L’Échiquier
© 2024 Les Editions de Minuit, Paris

bookmark_borderMiguel Bonnefoy: Héritage

Das große Thema dieses so leichtfüßig erzählten Romans ist die Entwurzelung und der fortwährende Versuch einer mehrere Generationen umfassenden Familie, neue Wurzeln zu schlagen. Gleich auf den ersten Seiten wird geschildert, wie ein Franzose aus dem Jura Ende des 19. Jahrhunderts nach Chile auswandert, eine Weinrebe im Gepäck, die er vor einem in Frankreich wütenden Schädling retten will. Es entfaltet sich eine Familiensaga, die über ein Jahrhundert und von Frankreich bis Südamerika reicht, von der Erde, aus der die Reben gerissen werden und in der sie sich neu verwurzeln sollen, bis hoch in die Lüfte, in das Reich der Flugzeugpionierinnen und der Vogelvolieren, um ein paar der wiederkehrenden Motive dieses so besonderen Romans zu nennen.

Natürlich hat man bei einer solchen Geschichte Gabriel García Marquez 100 Jahre Einsamkeit im Hinterkopf, und es findet sich auch der ein oder andere Anklang an dieses großartige Werk des Magischen Realismus. Stilistisch verbindet Miguel Bonnefoy, der 1986, als Sohn einer venezolanischen Diplomatin und eines chilenischen Aktivisten, der unter Pinochet gefoltert wurde, in Paris geboren wurde, Traditionen der lateinamerikanischen und der französischen Literatur auf eine ganz eigene Weise miteinander. Er schreibt auf Französisch und verwebt einen augenzwinkernden Magischen Realismus mit der französischen Tradition des Realismus, wie er sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hat. Das Denken und Verhalten seiner Figuren etwa erklärt sich aus einer Kombination des Einflusses der sozialen Umstände und der genetischen Herkunft, sie sind ebenso geprägt von ihrer Umwelt wie von ihrem Elternhaus.

Trotz der teilweise sehr schweren Schicksalsschläge, die — von den Schützengräben des Ersten Weltkriegs bis in die Folterkammern der chilenischen Diktatur — mit der Macht der historischen Willkür daherkommen, lässt sich Miguel Bonnefoy erzählerisch nicht von seinem Stoff überwältigen. Er verfällt weder dem Pathos noch einer ohnmächtigen Betroffenheit, genauso wenig wie übrigens auch seine mit großer Humanität gezeichneten Figuren, sondern führt mit einer mitunter absurd-komischen Symbolik und einer literarischen Schöpfungskraft, die sich gerade in den kleinen Details offenbart und immer wieder überraschende Wendungen bereithält, girlandenhaft durch die Geschichte der Migrationsbewegungen einer so außergewöhnlichen wie exemplarischen Familie.

Bibliographische Angaben
Miguel Bonnefoy: Héritage, Rivages 2020
ISBN: 9782743650940

Bildquelle
Miguel Bonnefoy, Héritage
© 2024, Les Editions Payot & Rivages (SAS), Paris

bookmark_borderCharlotte Fauve und Marc Jeanson: Das Gedächtnis der Welt — Vom Finden und Ordnen der Pflanzen

Dass ein Eintauchen in die Geschichte der Botanik alles andere als eine weltabgewandte, trockene Nischenbeschäftigung für Spezialisten ist, wird einem schnell klar, wenn man in dem wunderbaren Sachbuch zu lesen beginnt, das die Journalistin Charlotte Fauve und der Botaniker Marc Jeanson gemeinsam geschrieben haben. Die stilsichere Feder der Journalistin und der große Erfahrungsschatz des Botanikers gehen eine gelungene Symbiose ein, aus der ein überaus lebendiger und anschaulicher Überblick über die Geschichte der Botanik hervorgegangen ist, in der Naturgeschichte und Kulturgeschichte kenntnis- und für den Leser erkenntnisreich miteinander verknüpft sind.

Das Gedächtnis der Welt ist eine charmante Mischung aus Erfahrungsbericht, Autobiographie und Biographie der Botanik, dessen erzählerisches Prinzip sich die Vorgehensweise der Botanik zunutze macht. So wie der Botaniker den Mikrokosmos der Pflanze studiert, um daraus Erkenntnisse über den komplexen Kosmos des Pflanzenreiches zu gewinnen, wählt auch der Text immer wieder das Anekdotische als Ausgangspunkt, von dem aus sich Rückschlüsse auf die Natur, auf die Geschichte der Menschheit, das Dasein des Lebendigen insgesamt ziehen lassen. Es ist, philosophisch gesprochen, ein sich öffnender Blick, der sich aufs Kleinste konzentriert, um offen für große Zusammenhänge zu sein. Und so erfährt man bei der Lektüre eine Menge an Kuriosem, an Staunens- und Wissenswertem, erhält Einblick in viele spannende Zusammenhänge zwischen Pflanzenleben und menschlicher Kulturgeschichte, und natürlich auch in die dem Wandel der Zeit unterworfene Arbeit des Botanikers.

Diese Arbeit, die Praxis der Botanik, schildert Marc Jeanson mit liebevollem Blick als eine zugleich bescheidene und doch so nützliche; er erzählt, wie er selbst als junger Mann das Herbarium in Paris kennenlernte, wo er sich erst einmal zurechtfinden musste:

Plötzlich war da diese wirre Ansammlung aus Papier und Pflanzen, die mir anfangs so zeitlos vorkam, fest in der Geschichte verankert, und das auch noch mit einer außerordentlichen Präzision. Das Gedächtnis der Welt bestand auch in diesen Tausend getrockneten Pflanzen, und jedes duftende Kron- oder Nebenblatt zeugte vom Fortschritt der Wissenschaft oder vom ersten Kontakt zwischen fremden Kulturen, auf Gedeih und Verderb. Mit diesen bescheidenen Gesten des jahrhundertelangen Sammelns und Pressens wurde das Herbarium zur Zeitmaschine.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

Eine Zeitmaschine ist auch der Text, der der Geschichte der Botanik in mehreren Jahrhunderten nachspürt, von Forscherdrang, Ausdauer, Neugier erzählt, die leider auch immer wieder in Hybris und Ausbeutung umschlug. Der Kolonialismus war ein maßgeblicher Kontext der Entstehungsgeschichte der Botanik, die Naturforscher, die ihre gefährlichen Expeditionen nicht selten selbst mit dem Leben bezahlten, und ihre Geld und Logistik bereitstellenden Auftraggeber verfolgten sehr unterschiedliche Ziele mit der Erforschung oder aber Eroberung neuer (Pflanzen-)Welten. Michel Adanson (1727-1828) etwa, einer der berühmten und teilweise in Vergessenheit geratenen Pioniere der Botanik, arrangierte sich mit seinen Auftraggebern:

Adanson, der Diener der Wissenschaft, sitzt in der Falle: Denn denen, die die Welt erweitern wollen, dient der Universalismus nur als Vorwand und die Erfassung der Lebewesen allein dazu, die neuen Gebiete ökonomisch und symbolisch zu unterwerfen. Die Gelehrten machen gemeinsame Sache mit den Kaufleuten, und die Kaufleute mit dem Staat.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

An dieser Instrumentalisierung der Botanik zu Herrschaftszwecken übte Adanson, der selbst bei den Eingeborenen lebte und ihre Sprache lernte, keine offene Kritik; er schlug aber eine bessere Behandlung der Sklaven auf den Plantagen vor und erkämpfte zumindest mit den impliziten Waffen des Gelehrten eine gewisse Offenheit für das nicht Vetraute, das Andere:

Eine andere seiner vielen Eigenarten besteht darin, dass er die lokalen Namen der von ihm entdeckten Pflanzen beibehält. Adanson hört den Schwarzen zu und besteht darauf, die Bäume nach ihren Worten zu taufen, spricht bei Papageienblättern lieber von Cadelari als von Alternanthera und bringt damit nicht wenige seiner Korrespondenten im Jardin du Roi aus der Fassung. Die kehligen Laute seiner Artennamen sind sperriger als die des Lateinischen, der Weltsprache seiner Zeit, und tragen die Fremdartigkeit bis in die Worte hinein.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

Joseph Pitton de Tournefort (1656-1708) unternahm in seinem Elément de botanique eine der ersten umfangreichen Klassifizierungen der Pflanzenwelt: 10.146 Arten, sortiert nach Blütenform. Pierre Magnol (1638-1715), Intendant des Botanischen Gartens von Montpellier, war der erste, der Verwandtschaften unter den Pflanzen vermutete und den Begriff der Familie für Pflanzen mit ähnlichen Merkmalen einführte; ihm ist übrigens die Magnolie gewidmet. Carl von Linné (1707-1778) leitete mit seiner bis heute gültigen binären Nomenklatur einen Wendepunkt in der Naturgeschichte ein; von nun an bestand eine korrekte wissenschaftliche Bestimmung aus dem übergeordneten Gattungsnamen und dem Epitheton für die Art und ihre Besonderheiten. Auch seine Vorgehensweise gibt Aufschluss über das Naturverständnis der Zeit, das von einer geheimen, göttlichen Ordnung ausging, die sichtbar gemacht werden konnte, wenn man die Pflanzen als die Geschöpfe Gottes benannte und sie „in die Harmonie eines immergrünen Horts“ einordnete. Rudolf Jakob Camerarius (1665-1721) erforschte die Sexualität der Pflanzen, Jean-Baptiste de Lamarck (1744-1829) entwickelte in seiner Flore française den Bestimmungsschlüssel, mit dem er die Botanik laientauglich machte, und begleitete die im Zuge der Revolution einsetzende Verwandlung des Pariser Jardin du Roi zum Muséum national d’histoire naturelle.

Dieser Ort der Erforschung der Pflanzenwelt in Paris hatte eine entscheidende Bedeutung in der Geschichte der Botanik schon allein dadurch, dass er eine „unausweichliche Etappe für Samen und Stecklinge [war], […] das Eingangstor, durch das all diese Arten gingen“, wie es in Das Gedächtnis der Welt heißt. „Die Blüten in unseren Gärten sind wohl das sichtbarste Erbe der botanischen Expeditionen.“ schreiben Fauve und Jeanson; in den vielen Jahrzehnten vom 16. bis ins 19. Jahrhundert gelangten von Tulpen bis zu Mammutbäumen vielfältigste Gewächse aus der ganzen Welt nach Paris und von da in die Gärtnereien und zu reichen Besitzern privater Gärten, die immer wieder auf Neuheiten erpicht waren.

Manchmal wird es im Text auch geradezu poetisch-philosophisch; es ist nicht zu überlesen, dass Jeanson seinen Beruf als Berufung versteht, und diese Begeisterung teilt er mit seinen Lesern:

Schreiben, beschreiben heißt, in das Geheimnis der Pflanze vorzudringen, den Saft zu schildern, der durch den Stiel nässt, den Nektar, der vom Stempel tropft, den Duft aufzufangen, der aus einer Blütenkrone dringt, den Schatten nachzuzeichnen, der unter der Pflanze liegt — und den Stift erst niederzulegen, wenn vor den geschlossenen Augen die Pflanze naturgetreu dasteht, ein identisches Abbild.
Wenn ein Botaniker eine Blüte schneidet, erfasst er den Moment und zugleich die Komplexität des Lebendigen.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

An einer anderen Stelle wird der Vergleich von Gärtner und Botaniker zur Metapher erhoben:

Der Gärtner begleitet die Entwicklung der Pflanzen, er umhegt sie, er erhält sie am Leben. Der Botaniker dagegen schneidet die Pflanzen ab, er beobachtet sie im Tod, um sie besser im Leben situieren zu können.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

Aus seinem Naturverständnis bildet der Botaniker sein Weltverständnis, was sich an den verschiedenen aufblühenden und wieder in der Versenkung verschwindenden Klassifizierungssystemen der Pflanzenreichs gut ablesen lässt:

Mit der Zeit hatten sich die Aufgaben der Sammlung verändert. Sie war nicht mehr nur eine pflanzliche Arche Noah, die sich mit der Beschreibung der Arten beschäftigte, sondern auch ein Ort zur Erforschung ihrer Evolution und der Mechanismen, nach denen sie sich auf der Erdoberfläche verteilten.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

Zur morphologischen Analyse tritt in der Gegenwart eine weitere Informationsquelle, die DNA, mit der ganz neue Prozesse erforscht werden können. Und doch bleibt die Dokumentation als zentrale Aufgabe bestehen, ein Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart, und eine essentielle Voraussetzung für die Zukunft nicht nur der Botanik:

Seit 350 Jahren verzeichnet das Herbarium alles. Die Arten, ihre Sammler, aber auch Datum und Fundort. Mit dem Erhalt der banalsten Belege und ihrer Wiederholung verhinderten wir, dass das Zeitband riss, das sich von Fund zu Fund zieht; und nur dieses Band kann heute zuverlässig die Verwerfungen der Floren und Landschaften dokumentieren.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

Und doch ist Jeansons Blick nicht frei von einer gewissen Nostalgie, einer Wehmut, die sich mit einem leisen Unbehagen vermischt:

Im 16. Jahrhundert war die Natur so beängstigend wie faszinierend, bevölkert von Ungeheuern und Chimären, denen die Herrscher dieser Welt in der Abgeschiedenheit ihrer Kuriositätenkabinette bei ihrem Kampf zusahen. Im 21. Jahrhundert ist die Wildnis bestens dokumentiert und mit einem Mausklick jederzeit zugänglich; das Mysterium ist dahin, höchstens bleibt uns noch eine Ahnung davon.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

Die Ambivalenz des Fortschritts macht sich Jeanson zufolge auch in der Botanik bemerkbar, die zwar über reich ausgestattete Museumssammlungen verfüge, während die Wildnis selbst als Lebensraum der Pflanzenvielfalt, durch Urbanisierung, Entwaldung, immer weiter zurückgedrängt werde. So gehe auch der neugierige, offene Blick für das Lebendige in seiner Gesamtheit verloren:

Die Globalisierung der Pflanzen hat zu einer Art Uniformisierung der Gartenflora geführt. Es gibt keine Wildpflanzen mehr, nur durch menschliche Selektion künstlich aufgeblähte Blüten, die den ahnungslosen Spaziergänger an der Nase herumführten, ihm weismachten, ihre breiten Blütenblätter verkörperten den Gipfel der Natürlichkeit.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

Natur versus technische Züchtung, Natürlichkeit versus Artifizialität, die Nostalgie von Fauve und Jeanson wirkt dennoch an keiner Stelle naiv. Der Botaniker erscheint in ihrem Buch ein wenig selbstironisch als eine aus der Zeit gefallene Spezies, deren Akribie und Selbstvergessenheit bisweilen zum Schmunzeln anregt. Wie in der Schilderung eines Forschungsaufenthaltes von Jeanson in New York, wo er seine nach Süden ausgerichtete Hochhauswohnung, einem geradezu idealen Standort für tropische Pflanzen, mit eben solchen bevölkerte:

Byron [sein New Yorker Mitbewohner] zählte eines Tages nach und kam auf 180 Arten, Unterarten und Varietäten, jede mit ihrer kleinen Gebrauchsanweisung, damit er keine Angst vor dem Gießen haben musste, wenn er das für mich übernahm. Ich fand daran nichts Besonderes, aber er würde sagen, dass es schon an Selbstverleugnung braucht, um mit einem Botaniker zusammenzuleben.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

Zugleich deuten die Autoren immer wieder an, dass man sich, so altmodisch und exotisch der Botaniker auch bisweilen wirken mag, von ihm doch auch etwas abschauen kann, einen bestimmten Blick auf die Welt, auf die Natur, die zu bewahren allemal erstrebenswert ist. So ist das präzise Hinschauen auf das kleineste Detail, das für den Botaniker zum Beruf gehört, vielleicht genau das, was sich in unserer beschleunigten Welt wiederzuentdecken lohnt: das Hinschauen auf die ökologische Vielfalt, auf den ganzen Makro- und Mikrokosmos der Natur, der nicht nur medienwirksame Koalas oder Eisbären bereithält, sondern aus einem ganzen Geflecht an Lebendigem besteht, das sich auch gegenseitig beeinflusst.

Die wenigsten Botaniker werden als Botaniker geboren. Erst mit der Zeit lernen sie, das Unsichtbare zu sehen. Die Tiere lenken mit ihrer Possierlichkeit die Blicke auf sich. Die Pflanzen dagegen bleiben reglos und schweigen. Dass sie so gar keine Reaktion zeigen, verweist sie auf die hinteren Plätze einer Welt, die ständig in Bewegung ist.

Fauve & Jeanson, Das Gedächtnis der Welt

Auch der Antrieb und die Besessenheit des Botanikers, zu sammeln, zu systematisieren, zu erfassen, seine „Angst — vielleicht ja gar nicht zu Unrecht –, die Zwiebel könnte eines Tages verschwinden und Gott oder die Wissenschaft könnte sie dann nach seinen Aufzeichnungen rekonstruieren“, sind altbewährte soft skills, die wir für die Zukunft wieder brauchen können. Wenn, wie es bei Fauve und Jeanson heißt, „Naturforscher der alten Schule, die eine Pflanze erkennen, aber auch in ihrer Ökologie und ihrem Lebenszyklus erklären können, zunehmend zur bedrohten Art“ werden, so tragen sie mit ihrem Text ein Stück dazu bei, ihre Leser anzuhalten, ihren Blick auf das uns umgebende Lebendige zu schulen und den Wert der innehaltenden, genauen Beobachtung zu erkennen.

Bibliographische Angaben
Charlotte Fauve und Marc Jeanson: Das Gedächtnis der Welt — Vom Finden und Ordnen der Pflanzen, Aufbau 2020
Mit Illustrationen von Nils Hoff und aus dem Französischen übersetzt von Elsbeth Ranke
ISBN: 9783351034627

Bildquelle
Charlotte Fauve und Marc Jeanson, Das Gedächtnis der Welt
© 2020 Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

bookmark_borderKamel Daoud: Zabor

Scheherazade erzählt, um zu überleben, Nacht für Nacht. Ismael, der Ich-Erzähler des algerischen Autors Kamel Daoud, für seine literarische Gegendarstellung von Camus‘ L’Etranger (in Meurseault, contre-enquête, 2014) auch dem deutschen Publikum bekannt, macht seinerseits die Nacht zum Tag und erzählt, um Leben zu retten. Er möchte Scheherazade sogar noch übertreffen, indem er, schreibend, erzählend, nicht sein eigenes Leben, sondern das all der anderen, die dem Tode auf irgendeine Weise nahekommen, verlängert. Doch als auf einmal sein eigener Vater, der, der ihn als kleinen Jungen zusammen mit der Mutter verstoßen hat, im Sterben liegt, gerät er in eine Krise.

Aus dieser Krise versucht sich Ismael, und hier setzt der Roman ein, wiederum mit dem Mittel der Sprache zu befreien: Er schreibt seine eigene Lebensgeschichte nieder, die Geschichte des Sohnes, der früh die Mutter verloren hat, der vom Vater, einem traditionell lebenden Schafhirten, verstoßen wird, der ungerechterweise beschuldigt wird, seinem Halbbruder Gewalt angetan zu haben, der bei der Tante aufwächst, die unverheiratet geblieben ist und halbe Tage mit dem Schauen von Telenovelas verbringt; er erzählt von seinen epileptischen Anfällen und seiner Gabe des Memorierens endlos langer Koranverse, von seiner Entdeckung französischer Romane, von seiner krächzenden Stimme, die Anlass für Spott und Häme seiner Mitschüler ist und ihn schließlich seine Erfüllung im geschriebenen Wort und der nächtlichen Dunkelheit suchen lässt. Er erzählt davon, wie es dazu kam, dass er der magische Geschichtenschreiber des Dorfes geworden ist, ein Außenseiter, den die Leute beargwöhnen und doch in ihrer Not immer wieder um Hilfe bitten. Wie sie an ihn und seine außergewöhnliche, den Tod überlistende Gabe glauben wollen.

Kamel Daoud hat für seinen Wunder wirkenden Erzähler eine Sprache gefunden, die selbst sehr an ein Märchen oder mehr noch einen Mythos erinnert. Die märchenhafte Verwandlung des armen Waisenjungen in einen Wunderheiler ist auch die eines mythischen Sündenbocks in ein magisches, die Macht des Todes bannendes Opferlamm. Wie im Mythos haben Namen eine symbolische, geradezu performative Bedeutung. Zunächst nennt sich der Ich-Erzähler Ismael, wie der erste Sohn Abrahams, der mit seiner verstoßenen Mutter Hagar in die Wüste geschickt wird. Im Koran ist Ismael auch der Sohn, der geopfert werden soll, und nimmt damit die Rolle des Opferlamms ein, die in der christlichen Bibel Isaak zugewiesen wird. Im Text werden noch zahlreiche weitere Hinweise auf das von René Girard als „Sündenbockmechanismus“ bezeichnete Bewältigungsritual traditioneller Gesellschaften gestreut, in dem der Ich-Erzähler die zentrale Funktion des Opferlammes einnimmt. Ismael hat viele Merkmale eines Außenseiters, allen voran seine mit dem Meckern einer Ziege verglichene Stimme, für die er sich schämt und die ihn, wie bereits erwähnt, einen abnormalen, dem der anderen Dorfbewohner entgegengesetzten Lebensrhythmus entwickeln lässt. Und wie von einem mythischen Sündenbock wird auch von Ismael behauptet, dass er Schuld auf sich geladen habe, nämlich die, als Kleinkind seinen Halbbruder in den Brunnen gestoßen zu haben. Ismaels Vater besitzt außerdem nicht zufällig Vieh, das er zu seinem Lebensunterhalt sowie zu rituellen Anlässen schlachtet. Es werden blutige Opferfeste geschildert, die Ismael abstoßend findet, so wie er übrigens auch die Tradition und die Religion, die in seinem Dorf noch eine wichtige Rolle spielen, mit großer Skepsis betrachtet.

Gleichwohl ist auch Ismael selbst in einer Welt aufgewachsen, in der Aberglauben, Rituale und magisches Denken das Handeln der Menschen bestimmen. Doch während die Dorfbewohner weiterhin Angst davor haben, dass das geschriebene Wort jemanden verfluchen kann, wendet der Ich-Erzähler diesen Glauben irgendwann ins Positive. Die Literatur wird zur Magie jenseits eines immer auch Gewalt und Ausschluss implizierenden Opferdenkens. Sie kann, das hat Ismael am eigenen Leib erfahren, beleben, erwecken, heilen. Warum soll sie es also nicht auch mit dem Tod aufnehmen können? Um seine Wandlung komplett zu machen, gibt sich Ismael einen neuen Namen, nachdem er seine Gabe erkannt hat. Er nennt sich von nun an Zabor. Zabor oder Zabūr ist nach der Lehre des Islam das heilige Buch, das Dawud (David) von Allah offenbart wurde, wahrscheinlich sind damit die Psalmen gemeint.

Kamel Daoud belässt es jedoch nicht bei einem der Zeit enthobenen Märchen. Seine Erzählung, das macht schon die sorgsam eingearbeitete Intertextualität deutlich, geht einen Dialog mit den großen Texten und kulturellen Traditionen der östlichen und westlichen Geschichte ein, und sie setzt sich auf komplexe Weise mit der Kolonialgeschichte Algeriens auseinander. Dem Ich-Erzähler eröffnet sich mit den Romanen, die er auf französisch liest, eine neue Welt, die Sprache der Kolonisatoren, die selbst nicht frei von Gewalt ist, bringt ihn dazu, seiner Berufung zu folgen und zu schreiben. Doch was er schreibt, das sind auf den Volksglauben zurückgehende magische Texte, so dass er eine Art Versöhnung von Altem und Neuem herbeizuschreiben imstande ist. Das gelingt ihm freilich nur, indem er selbst ein Leben im Schatten führt, in einer schmerzenden, subversiven Auflehnung gegen die immer noch vorherrschenden patriarchalen Strukturen, innerhalb derer Sexulität ein Tabu ist und Frauen unterdrückt werden. Als Sohn einer Verstoßenen liebt der Ich-Erzähler seinerseits eine Verstoßene, und führt ein Leben abseits der Norm. Doch auch die Gewalt, die Algerien als ehemalige Kolonie erlebt hat, bleibt in Kamel Daouds metapherngleich verdichtetem Mythos von der wunderwirkenden Kraft der Sprache nicht unausgesprochen. Und da Gewalt, wie es der Sündenbockmechanismus zeigt, eigentlich immer im herablassenden, furchtsamen, feindseligen Blick auf den anderen, dem die Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe verschlossen wird, ihren Ursprung hat, dreht Kamel Daoud in seiner Erzählung den Spieß um und lässt in einer so naheliegenden wie verblüffenden Umkehrung des Exotischen die französischen Romane, die Ismael verschlingt, als Gipfel der Faszination und des Kuriosen erscheinen.

Zabor liest sich wie ein endloser Psalm, mal lyrisch, mal bedrohlich, ein stürmisches Hohelied der Sprache, das nicht gerade eine leichte Sofalektüre ist, aber durch die Sprache den Blick und die Sinne schärft und herausfordert.

Bibliographische Angaben
Kamel Daoud: Zabor, Actes Sud 2017
ISBN: 9782330081737

Deutsche Ausgabe:
Kamel Daoud: Zabor, übersetzt von Claus Josten, Kiepenheuer & Witsch 2019
ISBN: 9783462052022

Bildquelle
Kamel Daoud, Zabor
© 2023 Les Editions Actes Sud, Société anonyme à directoire, Arles


bookmark_borderVictor Jestin: La chaleur

La chaleur, die Hitze, ist ein heißes, erstickendes Kammerspiel, das sich im kurzen Zeitraum von nicht einmal zwei ganzen Tagen an der so gar nicht frischen, sondern vor Hitze flirrenden Luft eines französischen Campingplatzes am Atlantik in den Landes abspielt.

Geschrieben hat das Buch der junge Autor Victor Jestin, Jahrgang 1994, der dafür in Frankreich auch schon mehrfach ausgezeichnet wurde. La chaleur ist sein Debüt, ein aus der Perspektive des 17-jährigen Léonard erzählter Jugendroman, der stilistisch und psychologisch eindrucksvoll geschrieben ist und seinen Lesern emotional einiges abverlangt. Dem Text fast wie eine Warnung vorangestellt ist ein Zitat aus Büchners Woyzeck, über dessen gleichnamige Hauptfigur im Laufe der Theaterhandlung, sinngemäß, eine andere sagt, sie sei in ihrem Wahn zum offenen Rasiermesser für die Welt um sie herum geworden.

Die Schockstarre, in die einen gleich die ersten Zeilen von La chaleur versetzen, hat nichts Rasiermesserblutiges an sich und doch lässt sie einen wie in der eigenen voyeuristischen Leserperspektive ertappt innehalten. Es wird geschildert, wie Léonard, ein Jugendlicher, der seine Sommerferien an einem Campingplatz am Meer verbringt, im Schutze der Dunkelheit beobachtet, wie ein anderer Jugendlicher, Oscar, den Léonard nur flüchtig kennt, sich im trunkenen Zustand selbst tötet, wie er sich in die Seile der Schaukel eindreht, auf der er sitzt, wie er sich irgendwann nicht mehr herauswinden kann und sich so langsam, qualvoll selbst erwürgt. Wie der Leser verhält sich auch Léonard in dieser Szene wie ein Voyeur, wie gelähmt begnügt er sich damit, zuzuschauen, ja er sieht dem anderen sogar direkt in die Augen, greift aber nicht ein, tut nichts, die schreckliche Tat zu verhindern. Auch unmittelbar danach steht Léonard immer noch wie neben sich, er begreift selbst nicht, warum er das Schreckliche, warum er den Tod zugelassen, warum er nicht gehandelt hat. Was er aber begreift, ist, dass er durch seine Passivität Schuld auf sich geladen hat. Doch er handelt weiter irrational. Anstatt Hilfe zu holen oder auch einfach nur abzuhauen, vergräbt er den Leichnam des Jungen am Strand in den Dünen.

Während der ganzen Erzählung ist man kontinuierlich in den Gedanken von Léonard, erlebt alles aus seiner Sicht. Das ist schockierend, intensiv, und verwirrenderweise auch berührend, man fühlt mit ihm und ist zugleich abgestoßen von seinem (Nicht-) Verhalten. Jestin lässt uns auf diese Weise in großer Eindringlichkeit miterleben, wie Léonard den darauffolgenden Tag verbringt, die darauffolgende Nacht, und die weiteren Tage bis zu seiner Abreise. Man lernt den Jugendlichen und seine Innenwelt immer genauer kennen, erfährt, dass Léonard eigentlich alles andere als einer der feierwütigen Teenager ist, die sich auf dem Campingplatz tummeln, dass er sich auf all den Partys eher fehl am Platz fühlt und nicht so recht Anschluss zu finden vermag. Auch an jenem fatalen Abend hatte er sich früher zurückgezogen und die Einsamkeit gesucht. Man erfährt auch, wie Léonard mit seinen kleinen Geschwistern umgeht, wie er mit seinen Eltern klar kommt, wie er — aus Pflichtgefühl, aus Neugier, schlechtem Gewissen, dem Wunsch zu reden — bei Oscars Mutter vorbeischaut, und wie er sich in ein Mädchen verliebt, das am Vortag ausgerechnet mit Oscar geflirtet hatte; wie er sich, so wie Oscar in den tödlichen Seilen der Schaukel, in einer hitzigen Gedankenspirale an den toten Jungen verfängt, und wie er immer wieder Anstrengungen unternimmt, zu reden, zu beichten, und es doch nicht über sich bringt.

Die titelgebende Hitze, die natürlich symbolischen Charakter hat, macht Jestin zur sichtbaren oder besser spürbaren Begleiterin der innerlichen Turbulenzen, die Léonard durchlebt. Fast erscheint seine „Tat“ als notwendige Konsequenz der Jahr für Jahr und auch in diesem Sommer immer unerträglicher werdenden Temperaturen:

Depuis quelques étés déjà, la chaleur ne cessait de s’intensifier. Chaque année elle surgissait plus tôt, cette fois dès février, et on l’avait accueillie sans crainte, trop heureux de finir l’hiver, on avait dressé les terrasses des bars sans présager du pire. Je me demandais à compter de quel degré ce serait trop. Tout se renverserait. On fuirait ce camping comme on saute d’un appartement en flammes (…).

Schon seit einigen Sommern nahm die Hitze unablässig an Intensität zu. Jedes Jahr kam sie früher, dieses Mal schon im Februar, man hatte sie furchtlos begrüßt, freute man sich doch zu sehr, dass der Winter endlich zu Ende war, man hatte die Terrassen der Bars geöffnet, ohne das Schlimmste zu ahnen. Ich fragte mich, ab wieviel Grad der Punkt überschritten wäre. An dem sich alles umkehren würde. Man würde vom Campingplatz flüchten, so wie man aus einer brennenden Wohnung springen würde (…).

Jestin, Chaleur, S. 33, Übersetzung der Rezensentin

An diesem Kipppunkt, das ist die erzählerische Kunst des jungen französischen Autors, bewegt sich die ganze Erzählung. Die Hitze des Sommers wird zu einem flirrenden Bild für das überhitzte Verhalten auch der anderen Teenager, all der flirtenden Mädchen, der aggressiven halbstarken Jungen, des unglücklichen berauschten Oscar. Bei Léonard ist die Hitze auch ganz deutlich an ein Empfinden der Enge, der Bedrängnis im Inneren gekoppelt, so dass er bisweilen mit einer scheinbar paradoxen Gefühlskälte auf die äußere Überhitzung reagiert. Das schließt nicht aus, dass sich hinter einer solchen scheinbar emotionslosen Haltung ein sehr sensibler Junge verbirgt; seine innere Stimme, die das Geschehene, die den toten Oscar nicht aus dem Gedächtnis vertreiben kann, spricht Bände, und man leidet beim Lesen mit, erlebt seine Ohnmacht, seine Hemmungen gegenüber seinen Altersgenossen fast wie am eigenen Leib. Mit einfachen und doch immer wieder genau ins Herz treffenden Worten schildert Jestin die unbeholfenen Versuche eines introvertierten und zutiefst aufgewühlten Jungen, mit anderen in Kontakt zu treten, wie etwa mit Louis, einem anderen Teenager auf dem Campingplatz, zu dem sich eine flüchtige Freundschaft anbahnt:

J’ai voulu lui [Louis] tapoter l’épaule, lui dire un mot, faire quelque chose, mais rien n’est venu. J’ai tenté d’imaginer ce que cela faisait d’être lui en permanence, mais je n’ai pas réussi non plus.

Ich wollte ihm [Louis] auf die Schulter klopfen, ihm etwas sagen, irgendetwas tun, aber es kam nichts aus mir heraus. Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie es wäre, ständig in seiner Haut zu stecken, aber auch das habe ich nicht fertiggebracht.

Jestin, Chaleur, S. 67, Übersetzung der Rezensentin

Trotz der beklemmenden Hitze allerorten wird der Roman nicht gänzlich von einer düster-schweren Atmosphäre erdrückt, denn Jestin gelingt es, ohne Stilbruch auch leichtere Szenen einzubauen, kurze Einblicke in den Familienalltag zu geben oder das zarte und zugleich herausfordernde Entstehen einer Freundschaft, einer Liebe zu schildern, die das Camp nicht überdauern werden. Eine Melancholie der Zeitlichkeit liegt über allem, das Leichte und das Schwere sind nicht voneinander zu trennen, sind eng verschlungen im so eindringlich erzählten Kosmos einer jugendlichen Suche nach Liebe und Wahrheit. Victor Jestins Text ist vielleicht nicht unbedingt nur ein Jugendroman, sondern vor allem ein überzeugendes psychologisches Sommerstück, das einen Blick hinter die idyllischen Kulissen der Sandstrände wirft und in einer poetischen klaren Sprache die Desillusionierung eines schmerzhaft der Kindheit entwachsenen Teenagers erzählt, die fast als Parabel für die gegenwärtige Desillusionierung der Menschheit über sich selbst gelesen werden könnte.

C’est beau les Landes, disaient les gens. L’air est pur, il fait chaud, on a l’océan devant soi. Personne ne disait: C’est terrible, les Landes. C’est le faux calme des pins, le fracas des vagues dont on sait bien qu’elles on déjà tué, et tous ces rires et cris de jouissance mêlés en un même écho sourd […].

Wie schön die Landes sind, sagten die Leute. Die Luft dort ist klar, es ist warm, der Ozean liegt vor einem. Niemand sagte: Wie schrecklich die Landes sind. Die trügerische Ruhe der Pinien, der Lärm der Wellen, die, wie man genau weiß, schon den Tod gebracht haben, und all das Gelächter und die Schreie der Lust, die sich im selben dumpfen Echo miteinander vermengen […].

Jestin, Chaleur, S. 47, Übersetzung der Rezensentin

Bibliographische Angaben
Victor Jestin: La chaleur, Flammarion 2019
ISBN: 9782081478961
In deutscher Übersetzung von Sina de Malafosse ist Victor Jestin: Hitze 2021 bei Kein & Aber erschienen.

Bildquelle
Victor Jestin, La chaleur
© Éditions Flammarion SA, Paris



bookmark_borderMuriel Barbery: Eine Rose allein

Wie in Die Eleganz des Igels spielt die japanische Kultur, als Faszinosum und als Quelle von Poesie und Weisheit, eine bedeutende Rolle im neuen Roman der französischen Autorin Muriel Barbery. Und wie dort begegnet man auch hier wieder einer kratzbürstigen, seelisch verwundeten Protagonistin, die man sofort ins Herz schließen mag.

Rose, die nicht zufällig den Namen der schillerndsten Blume der Kulturgeschichte trägt, führt nach dem Tod ihrer Mutter und Großmutter in uneingestandener Trauer und Einsamkeit ein ungebundenes Leben in Paris. Nach dem Tod ihres japanischen Vaters, den sie nie kennengelernt hat, reist sie zum ersten Mal in ihrem Leben in dieses Land. Paul, ein Vertrauter ihres Vaters, führt sie, dessen letzten Wunsch erfüllend, an verschiedene ihm zu Lebzeiten wichtige Orte: Zen-Gärten und Tempel, die eine ganz andere Sprache sprechen, der Rose anfangs mit Skepsis, nach und nach jedoch mit wachsender Neugier begegnet.

Ein zarter Roman, voll unaufdringlicher Poesie und mit einer Handvoll versehrter, eigenwilliger und liebenswerter Figuren, und eine ebenso zarte Liebesgeschichte, gelesen in der deutschen Hörbuchfassung von Elisabeth Günther, die die Hörer mit ihrer ebenfalls auf zarte Weise gestalteten Erzähl- und Figurenstimme leicht und angenehm durch die Geschichte führt.

Bibliographische Angaben
Muriel Barbery: Eine Rose allein, List Hardcover 2022
Aus dem Französischen von Norma Cassau
ISBN: 9783471360460

Hörbuch:
Hörbuch Hamburg 2022
Gesprochen von Elisabeth Günther
ISBN: 9783957132697

Bildquelle
Muriel Barbery, Eine Rose allein
© 2022, Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

bookmark_borderCamille Laurens: Es ist ein Mädchen

Es ist ein Mädchen!

Dieser kurze Satz, der Camille Laurens‘ autofiktional genannten Roman strukturiert, ihm geradezu mythisch aufgeladener Anfang und Ende (oder Neuanfang?) ist, hat vor kurzem auch in meinem Leben eine neue Bedeutung erlangt. Schicksalshaft, das ist er für mich auch, allerdings im Sinne von Wunder und Freude, Glück und Liebe; und ja, auch Sorge, welche die Liebe wohl immer begleitet. Die 1960er Jahre, in denen der Roman spielt und in denen es nicht so abwegig war, dass der Satz auch Gefühle wie Enttäuschung oder Angst auslöste, sind lange vorbei. Und doch hat mich die neue Rolle als Mutter, die ich nun zum ersten Mal in Körper und Geist und Herz erfahre, noch stärker als zuvor erwartet für Geschlechterfragen sensibilisiert, für Themen wie die inzwischen viel besprochene, aber immer noch nicht ganz anerkannte „care-Arbeit“ oder das Ringen um gleichberechtigte Partnerrollen, die auch heute gar nicht so leicht auszuhandeln sind, und einfach viele Gedanken darüber aufkommen lassen, was es, in der Familie, in der Gesellschaft, bedeutet, ein Mädchen zu sein.

Genau das befragt und hinterfragt auf intelligente, entlarvende, sprachwitzige Weise auch der in scheinbar so fernen Zeiten spielende Roman der französischen Autorin, die einen zugleich gesellschaftlichen und psychologischen Blick auf das Thema wirft. Erzähltechnisch ist die Geschichte interessant konstruiert, da die Perspektive zwischen Außen- und Innenschau, nämlich zwischen einer die Protagonistin mit einem eher ungewöhnlichen „Du“ anredenden Stimme (z.B. für die Szene der Geburt) und derjenigen einer Ich-Erzählerin wechselt. So entsteht auf wenigen Seiten und dennoch bildhaft und einprägsam die Lebensgeschichte einer Frau, die sozusagen ab ovo erzählt wird: von der Geburt, die sehr realistisch, aber durch die Du-Perspektive aus einer gewissen kritischen Distanz geschildert wird, über die Kindheit und Jugend bis zum Mutterwerden und Leben als Ehefrau. Ihr Heranwachsen vom Mädchen zur jungen Frau ist von mehreren traumatischen Erlebnissen geprägt, die jedoch in der sich jeder Dramatisierung enthaltenden Erzählung nur angedeutet werden. Erst ihre Tochter ist, am überraschenden Ende der Erzählung, in der Lage, die erlernten Konventionen umzustürzen und eine positive Identität als Mädchen anzunehmen und zu leben, für die man sich nicht schämen, aus der man sich nicht befreien muss, sondern die etwas Schönes und Richtiges und vor allem Selbstverständliches ist.

So verwandelt die Autorin ein schicksalhaftes Mädchen-Dasein vom Mythos in eine Utopie, und als Schriftstellerin und Mitglied der Académie Goncourt, die den berühmtesten französischen Literaturpreis vergibt, tut sie dies natürlich mit dem symbolischen Mittel der Sprache. Das macht diesen kurzen Text auch so lesenswert, der durchgehend mit Sprachkritik und Sprachwitz arbeitet — was für die Übersetzung eine kleine, aber bestimmt spannende Herausforderung dargestellt haben muss –, und auf diese Weise zeigt, wie wandelbar Wirklichkeitswahrnehmung und Machtpositionen sind.

Bibliographische Angaben
Camille Laurens: Es ist ein Mädchen, dtv 2022
Aus dem Französischen von Lis Künzli
ISBN 978342329016

Bildquelle
Camille Laurens, Es ist ein Mädchen
© 2022, dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

bookmark_borderCharles Ferdinand Ramuz: Derborence

Hörfassung der Rezension

Zweimal, 1714 und 1749, wurde der im Schweizer Wallis gelegene Talkessel von Derborence von Bergstürzen heimgesucht, die mit zerstörerischer Wucht eine Schar von Bergbauern, ihr Vieh und ihre Chalets unter sich begruben und zwei Jahrhunderte später Charles Ferdinand Ramuz zu seinem Roman inspirierten. Nach dem ersten Sturz 1714 benannte man die Berge um in „Diablerets“, also Teufelsberge oder Teufelshörner; ein im Wallis ansässiger Pfarrer, dessen Aufzeichnungen erhalten sind, machte sich an den Ort der Katastrophe auf, um dort den Teufel auszutreiben, der in den Augen der Einheimischen das Unglück verursacht hatte. Sein Bericht ist die Vorlage für Ramuz, der in einem radikal reduzierten und zugleich radikal zärtlichen naturpoetischen Stil die existentielle Bedeutung dieses Naturereignisses für die Bewohner der Bergregion in einem kargen und eindringlichen Prosatext zum Ausdruck bringt.

Charles Ferdinand Ramuz (1878-1947) ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der frankophonen Schweiz, zu seinem Werk zählen neben Lyrik, (Musik-)Theater und Essays 22 Romane, von denen längst nicht alle ins Deutsche übersetzt sind. Nun hat der Schweizer Limmat Verlag eine neue deutsche Auflage von Derborence herausgebracht, in der Übersetzung des inzwischen ebenfalls verstorbenen Schweizers Hanno Helbling.

Auch wenn der Protagonist des Romans weniger ein einzelnes Individuum ist als die ganze von dem Unglück betroffene Bergregion, oder vielleicht auch der Berg selbst, zeichnen sich die Konturen zweier Figuren doch ein wenig schärfer ab, nämlich die des frisch verheirateten Paares Antoine und Thérèse. Antoine begibt sich zu Beginn der Geschichte zusammen mit anderen Bergbauern, darunter auch Thérèses Onkel Séraphin, für einige Wochen im Sommer auf eine Berghütte, um dort oben das Vieh zu hüten. Des Nachts werden sie von dem herabstürzenden Berg überrascht, der alle Hirten und alles Vieh unter sich begräbt. Die Nachricht von dem Unglück erreicht kurz darauf auch die Bewohner von Derborence, die ihre Männer, Väter und Söhne kollektiv betrauern, aber ohne Leichname nicht bestatten können. Zwei Monate später taucht Antoine im Dorf auf, bärtig und abgemagert wie ein Gespenst, als das er den Bewohnern und zunächst auch seiner Frau Thérèse erscheint. Ist er ein wandelnder Geist, der ohne christliches Begräbnis noch nicht zur Ruhe gekommen ist? Während die Dorfbewohner Antoine umscharen und befragen und sich allmählich von seiner Lebendigkeit überzeugen lassen, wagt sich dennoch kaum jemand zur Unglücksstelle zurück. Als Antoine erfährt, dass niemand von den anderen lebend vom Berg zurückgekommen ist, lässt er sich nicht davon abbringen, dorthin zurückzukehren, um seinen verschütteten und aller Wahrscheinlichkeit nach längst toten väterlichen Freund Séraphin aus den Trümmern zu befreien. Einzig Thérèse, die den wie durch ein Wunder ins Leben zurückgekehrten Mann und Vater ihres ungeborenen Kindes nicht ein zweites Mal verlieren will, ist fest entschlossen, ihn ins Dorf zurückzuholen…

Ramuz schreibt sich in diesem Roman an die Essenz des Daseins heran. Hinter dem vordergründigen Regionalismus seiner lokal verankerten Erzählung, in die er die Namen der Bergdörfer ebenso mit aufnimmt wie die Sprachen und Dialekte, die sich in dieser Alpenregion mischen, das Schweizerdeutsch, das Frankoprovenzalische, hinter einer archaisch wirkenden bäuerlichen Welt, scheint gerade angesichts des harten, der Natur auf Gedeih und Verderb ausgesetzten Lebens in den Alpen immer wieder die conditio humana auf. So wird das Dasein der Menschen dort ganz von den Jahreszeiten geprägt, die bestimmen, wann die Männer mit dem Vieh auf die Alpe gehen oder wie die Gemüsegärten bewirtschaftet werden. Das Wirtshaus als lokaler Treffpunkt der Männer nach getaner Arbeit ist ein Ort der dörflichen Gemeinschaft, der Kollektivität, die auch den Umgang mit dem Tod, die Rituale der Trauer charakterisiert. Selbst der regionale Aberglauben, die Furcht vor dem Werk des Teufels, erhält in der Geschichte angesichts der Katastrophe, mit der die Dorfbewohner umgehen müssen, eine mythische Kraft, die im narrativen Kontext jedoch alles andere als lächerlich, sondern irgendwie sehr nachvollziehbar wirkt. Ramuz konfrontiert seine Figuren mit existentiellen Situationen, in denen sie auf das Äußerste, was das Menschsein ausmacht, zurückgeworfen werden. So bremst Antoine, als er von seinem Überleben unter dem Geröll erzählt, seine Zuhörer, die wissen wollen, wie er so lange seinen Hunger und Durst gestillt habe:

„Ihr habt es zu eilig; die Luft, die ist noch wichtiger als das Brot und das Wasser; und da war ich nun zufrieden, weil ich sah, dass mir wenigstens die Luft nicht fehlen würde, wegen der Löcher überall zwischen den Steinen, die aufeinander getürmt waren, eine große Masse, aber voll von Ritzen, wo die Luft hereinkonnte, und darunter hab ich auf allen vieren herumkriechen können, aufstehen nicht; und so hab ich gesehen, dass ich Glück hatte […]“.

Ramuz, Derborence

Es sind universelle Themen, von denen diese Geschichte erzählt: von der Angst und vom Tod, und nicht zuletzt auch von der Liebe, von einer großen Liebe ohne große Worte, die Verständigung vollzieht sich hier jenseits der Sprache. Und so besiegt am Ende die Menschlichkeit wenn auch nicht die Natur, so doch die Angst und den mythischen Zauber, als nämlich eine schwangere Frau den größten Mut und die größte Entschlossenheit von allen beweist. Ihre Liebesgeschichte ist umso berührender, als sich die innige Verbundenheit des Paares ganz schlicht und fast unmerklich aus der Schroffheit der Berglandschaft herausschält:

Er schwingt die Hacke, er schlägt herab.
Sie muss nur darauf hören, woher der Ton kommt; sie bleibt stehen, geht weiter. Sie umgeht noch diesen Felsblock, jenen noch; dann werden die Blöcke kleiner, rücken zusammen, türmen sich gleichzeitig auf, bilden wie Stufen einer [sic!] Treppe, die sie hinaufsteigt; in dieser Einöde, wo nie eine Frau sich allein hineingewagt hätte, doch sie ist nicht allein, ihre Liebe ist da, und die Liebe begleitet sie, treibt sie vorwärts.

Ramuz, Derborence

So eigen wie die Bergbewohner und ihre Umgebung ist auch die Sprache, die Ramuz für seinen Roman verwendet. Zugleich einfach und expressiv, nimmt sie die lokale Umgangssprache in sich auf und brachte dem Schriftsteller erst Kritik ein, während Kollegen wie Céline oder Claudel sie bewunderten. Seine Texte zeigen, dass sich Regionalismus und Avantgardismus nicht ausschließen; so arbeitete Ramuz zum Beispiel auch mit Igor Strawinsky zusammen, schuf mit ihm mehrere (Bühnen-)Werke. In seinem Roman Derborence fällt auf, wie seine epische Prosa immer wieder in Poesie übergeht, insbesondere dann, wenn die Natur in den Vordergrund tritt. Schönheit und Kargheit, Gewalt und Zartheit liegen dann oft ganz nah beieinander. So entsteht etwa eine unaufdringliche, stille Form der Melancholie, wenn er dem Klang des Wortes Derborence nachspürt:

Derborence, das Wort klingt sanft; sanft und etwas traurig klingt es in uns nach. Es beginnt mit einem festen und bestimmten Laut, dann zögert es und sinkt, noch während man es klingen lässt, ins Leere: Derborence; als wollte es so auf den Untergang, auf die Einsamkeit und das Vergessen deuten.

Ramuz, Derborence

Immer wieder geht der Text in poetische Naturbeschreibungen über, die man heute wohl mit dem Begriff des Nature Writing bezeichnen würde; die Dorfbewohner leben mit einer großen Selbstverständlichkeit mit der Natur und haben zugleich auch eine unverbrüchliche Achtung vor ihr, sie erscheint an vielen Stellen selbst personifiziert: eine Respektsperson, mit der man tagtäglich umgehen und der man sich fügen muss, die einem vertraut ist, die man inwendig kennt und die doch auch eine Unberechenbarkeit in sich trägt, die man nie unterschätzen darf:

Sie […] schauten zum Bach hinüber, sie sahen, wie die großen Steine auf dem Grund seines Bettes nun trocken wurden, zwischen sich ganz stille Tümpel stehen ließen, und diese Tümpel glänzten wie Brillengläser. Die starke Stimme des Wassers ist verstummt, die sie mit dem Ohr unwillkürlich wiederzufinden versuchen, dort, wo sie hätte sein müssen und in der Luft, wo sie nicht mehr war, und sie wunderten sich über diese neue Stille, und gleichzeitig fügten sie sich ihr. Denn sie verstummten einer nach dem anderen, und dann machten sich die vom Sanetsch und die vom Anzeindaz auf den Heimweg.

Ramuz, Derborence

In der Bergwelt von Derborence hat man auf die Natur zu hören gelernt, lauscht man in beständiger Achtsamkeit ihrer Stimme; denn die eigene menschliche Existenz hängt ja davon ab, ob es gelingt, im Einklang mit ihr zu leben:

Und da seufzt einer von ihnen; und da seufzt auch der Berg, er hebt schwer seine steinerne Brust, lässt sie schwer wieder sinken.

Ramuz, Derborence

Diese selbstverständliche Ehrfurcht haben wir in den modernen Städten aufgewachsenen Menschen heute wohl so gut wie verloren, bei der Lektüre dieses wunderbaren Textes erinnert man sich daran, mit Ehrfurcht, aber keineswegs mit Selbstverständlichkeit.

Bibliographische Angaben
Charles Ferdinand Ramuz: Derborence [1934], Limmat (3. Aufl., 2021)
Aus dem Französischen übersetzt von Hanno Helbling
ISBN: 9783857914393

Bildquelle
Charles Ferdinand Ramuz, Derborence
© 2021 Limmat Verlag AG, Zürich

bookmark_borderJoël Dicker: Das Geheimnis von Zimmer 622

Joël Dickers neuer Roman, in dem ein Schriftsteller namens Joël, der vor ein paar Jahren einen weltweiten Überraschungserfolg mit seinem zweiten Roman Die Wahrheit über den Fall Harry Québert feierte, einen neuen Roman zu Ehren seines kürzlich verstorben Verlegers Bernard de Fallois zu schreiben beginnt, erschien letztes Jahr im Verlag Editions de Fallois, zwei Jahre nach dem Tod von Bernard de Fallois, dem Verleger und väterlichen Freund des jungen Schweizer Schriftstellers, der mit seinem zweiten Roman Die Wahrheit über den Fall Harry Québert tatsächlich einen überraschenden Welterfolg feierte.

Aber Achtung! So augenzwinkernd Joël Dicker hier auch ein Spiel mit den Ebenen von Fiktion und Realität, von Dichtung und Wahrheit treibt, die verschachtelte, wendungsreiche und turbulente Agenten-, Liebes- und Bankiersgeschichte, die er hier entspinnt, ist dann doch wieder ganz das kreative Produkt seiner schriftstellerischen Imagination, die der Autor in seinen Vorgängerromanen bereits mehrfach bewiesen hat. Die Ausgangskonstellation erinnert an seine anderen Romane, ein unglücklich verliebter Schriftsteller trifft in einem distinguierten Hotel in den Schweizer Bergen nicht weit von Genf, dem Palace de Verbier, eine spitzfindige und abenteuerlustige weibliche Muse, und gemeinsam machen sie sich auf die Spur des geheimnisvollen Mordes, der vor vielen Jahren in eben jenem Hotel auf Zimmer 622 geschah. Puzzlestück für Puzzlestück setzen sie die Geschehnisse zusammen und gehen dafür auch immer weiter in die Vergangenheit zurück, um die verwickelten Intrigen rund um eine Schweizer Bankdynastie zu entwirren. Anfangs meint man, dem Schriftsteller beim Entstehen des neuen Romans direkt über die Schulter schauen zu können — doch so ganz passt das alles dann doch nicht zusammen, woher kommen die Wissensvorsprünge des Erzählers, warum bleibt seine selbst ernannte attraktive Agentin und Co-Ermittlerin so seltsam abstrakt? Und ist der Teufel wirklich ein machthungriger Bankier oder verbirgt sich jemand ganz anderes dahinter?

Joël Dicker ist ein Meister der Konstruktion und sein neues Buch wieder ein äußerst unterhaltsames, bis zur letzten Seite spannendes Intrigenspiel, bei dem der Teufel die Kunst der Maskerade so virtuos beherrscht wie der Schriftsteller das spannungserzeugende Ineinander der verschiedenen Erzählebenen. Immer wenn es romantisch wird, nähert der Roman sich zwar auch dem Kitsch an, doch dient eben diese etwas gröbere Figurenzeichnung, das immer etwas Überzogene, zu dick Aufgetragene dann an anderer Stelle auch wieder so manch köstlicher Gesellschaftssatire. Denn in dieser Welt des äußeren Glanzes, im Milieu der Reichen, Mächtigen und Schönen, die im Dunstkreis der Schweizer Finanzwelt ihren Intrigen nachgehen, ist hinter den Kulissen und den zur Schau getragenen Rollen so einiges am Brodeln. Kein Wunder, dass sich in diesem Biotop auch so mancher Hochstapler tummelt, von denen einer ganz besonders talentiert ist und das Spiel um Geld und Macht, das letztlich alle spielen, zur Perfektion getrieben hat.

Nach über 500 atemlos durchjagten Seiten löst sich dann, teils im fiktionsironischen Wortsinne, teils aber auch in romantischem Wohlgefallen, alles endgültig auf…

— Noch ein Nachtrag: Mein absoluter Liebling von Dicker bleibt Die Geschichte der Baltimores, hier finde ich die Figurenpsychologie einfach am stimmigsten, das Ineinander und Gegeneinander der beiden Familienzweige einfach faszinierend erzählt! Aber auch Die Wahrheit über den Fall Harry Québert, auch Das Verschwinden der Stephanie Mailer sind richtige Schmöker, die ich jedem, der intelligent unterhalten werden will, wärmstens empfehle! Übrigens lesen sie sich auch gut im Original, wer gewisse Vorkenntnisse hat, kann hier ganz nebenbei auch noch wunderbar sein Französisch auffrischen.

Bibliographische Angaben
Joël Dicker: Das Geheimnis von Zimmer 622
Aus dem Französischen von Michaela Meßner und Amelie Thoma
ISBN: 9783492070904

Bildquelle
Joël Dicker, Das Geheimnis von Zimmer 622
© 2021 Piper Verlag GmbH, München


bookmark_borderPatrick Modiano: Encre sympathique

Es ist der unvergleichliche Modiano-Stil, der einen sofort gefangennimmt, wenn man den neuen Roman des französischen Schriftstellers aufschlägt, des nicht nur in seinem Schreiben, sondern auch im Austausch mit der Öffentlichkeit so diskreten Nobelpreisträgers von 2014: ein Stil, der sich zumindest andeutungsweise mit den Adjektiven poetisch, detektivisch, mysteriös, onirisch, und ja, auch urban umreißen lässt, schließlich ist der Schauplatz auch dieses Mal wieder ein knapp skizziertes und dennoch atmosphärisch dichtes Paris mit seinen Cafés, seinen Straßen, seinen Büros. Ein Paris wie aus einer Bleistiftzeichnung, dessen Romantik gerade nicht aus einem sentimentalen In-Farbe-Tauchen, sondern aus dem Mysterium des bloß Angedeuteten, Erahnten entsteht.

Wie so oft bei Modiano, gerät man auch hier als Leser in den Sog einer intellektuellen detektivischen Spurensuche. Es geht um die Rekonstruktion einer Geschichte, die sich in der Erzählweise des Romans selbst widerspiegelt, in der verschiedene Zeit-Ebenen und Erinnerungsschichten ineinandergreifen. So scheint zunächst alles auf eine lange zurückliegende und eigentlich ganz unscheinbare Episode aus dem Leben des Ich-Erzählers zurückzugehen, als dieser ein eher unspektakuläres Praktikum in einer Privatdetektei absolvierte. Seine einzige und damals ergebnislos verlaufende Aufgabe bestand darin, nach der Spur einer verschwundenen jungen Frau zu suchen. Doch Jahre später, in der Erzählgegenwart, nimmt er sich die fast leere Akte und das Adressbüchlein der Verschwundenen erneut vor, und obwohl er die Bedeutung des Ganzen erst herunterzuspielen versucht, erfährt man nach und nach, dass er auch in der Zwischenzeit sporadisch weiterermittelte und ihn die ungeklärte Geschichte nie wirklich losgelassen hat.

Immer wieder deutet sich in Form einer ganz leisen Ahnung an, dass das Verschwinden der jungen Frau irgendwie auch mit seiner eigenen Vergangenheit in Verbindung steht. Es ist nur eine ganz lose Verknüpfung von Ereignissen und Vermutungen, in die sich der Ich-Erzähler hier vorwagt und die der leisen, suggestiven écriture Modianos entspricht, mit der er auf seine ganz eigene Art eine subtile, fast mystische Spannung erzeugt, die einen als Leser zugleich fasziniert und in Bann schlägt. Zusammen mit dem Ich-Erzähler gibt man sich der Suche nach einem Zusammenhang hin, will man die identitären Leerstellen mit Bedeutung füllen, das Rätsel aufdecken und eine kohärente Geschichte (re)konstruieren. Denn für den Ich-Erzähler, so merkt man bald, bedeutet die wiederaufgenommene Spurensuche weit mehr als bloße Detektivarbeit: Sie ist, zunächst unbewusst, vor allem auch die Suche nach sich selbst, nach seiner eigenen Geschichte, deren Brüche und Leerstellen er in eine gerade, erzählbare Form bringen möchte:

Dans le tracé assez rectiligne de ma vie, elle était une question demeurée sans réponse. Et si je continue d’écrire ce livre, c’est uniquement dans l’espoir, peut-être chimérique, de trouver une réponse.

In der ziemlich geradlinigen Spur meines Lebens war diese Frage ohne Antwort geblieben. Und wenn ich das Buch hier weiterschreibe, so einzig in der vielleicht utopischen Hoffnung, eine Antwort zu finden.

Modiano, Encre sympathique, S. 101 (Übersetzung aus dem Französischen von mir)

Doch indem Modiano bzw. sein schreibender Ich-Erzähler die Biographien von Suchendem und Gesuchter ineinanderfließen lässt, indem er ihre Vergangenheiten miteinander verschmilzt, entfernt er sich natürlich erst recht von einer wie auch immer gearteten objektiven Wahrheit. Als Leser merkt man schnell, dass die Erzählung äußerst subjektiv gefärbt ist und beginnt, sie mit einer gewissen Vorsicht zu bedenken. Auch wenn wir es nicht mit einem absichtlich unzuverlässigen Erzähler zu tun haben, der seine Leser willkürlich in die Irre führen will, so ist dieser Erzähler doch auf jeden Fall in dem Grade unzuverlässig, als es auch die subjektive Erinnerung selbst ist, die im Nachhinein Geschichten konstruiert, sie ausschmückt oder verändert. Im suchenden Schreiben des Ich-Erzählers offenbart sich so eine tiefe Sehnsucht nach der Konstruktion einer in sich stimmigen Identität, die in präzisen, aber eben erst aufzudeckenden Linien schon vorgezeichnet ist:

Il me semble que tout était déjà écrit à l’encre sympathique. Quelle est dans le dictionnaire sa signification? ‚Encre qui, incolore quand on l’emploie, noircit à l’action d’une substance déterminée.‘ Peut-être, au détour d’une page, apparaîtra peu à peu ce qui a été rédigé à l’encre invisible, et la raison pour laquelle je me pose ces questions, tout cela sera résolu avec la précision et la clarté des rapports de police. D’une écriture très nette et qui ressemble à la mienne, les explications seront données dans les moindres détails et les mystères éclaircis. Et, en définitive, cela me permettra peut-être de mieux me comprendre moi-même.

Es scheint mir, als stünde alles bereits mit unsichtbarer Tinte geschrieben. Wie umschreibt das Wörterbuch ihre Bedeutung? „Tinte, die beim Schreiben farblos ist und erst beim Auftragen einer bestimmten Substanz sichtbar wird.“ Vielleicht wird, wenn die eine oder andere Seite umgeblättert ist, nach und nach darauf erscheinen, was mit unsichtbarer Tinte verfasst worden ist, und der Grund, warum ich mir diese Fragen stelle, all das wird mit der Präzision und Klarheit eines Polizeiberichts offenliegen. Mit einer sehr deutlichen Schreibweise, die meiner eigenen ähnelt, werden die kleinsten Details erklärt und die Geheimnisse gelüftet werden. Und letzten Endes wird mir das vielleicht die Möglichkeit geben, mich selbst besser zu verstehen.

Modiano, Encre sympathique, S. 91 (Übersetzung aus dem Französischen von mir)

Ist der Ich-Erzähler mit dieser romantischen Spekulation der unsichtbaren oder geheimen Tinte, die man aus so manchem Detektivroman kennt, auf einer heißen Spur oder auf dem Irrweg? Auf jeden Fall wartet der Roman mit vielen Unsicherheitsstellen auf, die diese Wunschvorstellung erst einmal in Frage stellen. Hinzu kommt, dass es auch einen Perspektivwechsel im Laufe der Geschichte gibt, nach ca. 100 Seiten, also im letzten Viertel des Romans, taucht man über die Form der internen Fokalisierung tatsächlich in die Erinnerung der gesuchten Noëlle ein, wodurch sich zumindest für den Leser ganz neue Möglichkeiten der Rekonstruktion der Geschichte ergeben…

Wie immer bei Modiano gibt es auch in seinem neuen Roman kein krachendes Finale, keine pompöse Auflösung. Die Geschichte klingt vielmehr ganz leise und unaufgeregt aus, und doch staunt man, dass der Ich-Erzähler am Ende doch den so zarten und fragilen Erinnerungsfaden, der die beiden Leben verknüpft, aufzudecken vermag. Hier leuchtet die Poesie, ja Romantik des Alltags für einen flüchtigen Moment auf! Eine Poesie, die ebenso darin besteht, daran zu glauben, dass wir unserem Leben eine Bedeutung geben können, wie auch darin, dass diese Bedeutung eine subjektive Erzählung ist, deren Schönheit gerade nicht in ihrer Geradlinigkeit, sondern in ihrer Offenheit besteht:

J’ai peur qu’une fois que vous avez toutes les réponses votre vie se referme sur vous comme un piège, dans le bruit que font les clés des cellules des prisons. Ne serait-il pas préférable de laisser autour de soi des terrains vagues où l’on puisse s’échapper?

Ich habe Angst, dass euer Leben gerade dann, wenn ihr alle Antworten habt, wie eine Falle über euch zuschnappt, mit dem Geräusch, das die Schlüssel der Gefängniszellen machen. Wäre es dem nicht vorzuziehen, dass man um sich gewisse Freiflächen lässt, wohin man sich flüchten kann?

Modiano, Encre sympathique, S. 102 (Übersetzung aus dem Französischen von mir)

Patrick Modiano: Encre sympathique, Gallimard (2019)
ISBN: 9782072753800

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