bookmark_borderPierre Raufast: Le cerbère blanc

Der neue Roman des französischen Schriftstellers Pierre Raufast, „Der weiße Zerberus“, ist eine mit der zumindest im Raum der Erzählung sinnstiftenden Kraft des Mythos aufgeladene Liebesgeschichte, die zugleich eine schreckliche Tragödie ist — es sein muss, denn erst in der schmerzhaften, schier unerträglichen Konfrontation mit dem Schicksal zeigt sich die Tragweite menschlicher Entscheidungen — und die zudem ganz in der heutigen Zeit verankert wird. Es geht um den Jugend- und Schönheitskult genauso wie um die Neigung unserer Gesellschaft, den Tod zu verdrängen, um die Macht und die Grenzen von Wissenschaft und Technik und die verzweifelten Versuche der Menschen, Verlust oder Schuld mit Narrativen zu kompensieren, die das Leben erträglich machen.

So tief die Wunden sind, denen die Menschen der Romanwelt ausgesetzt sind und die sie auch einander zufügen, so emotional Krankheit und Tod, tragische Unfälle, Trennung, Verlust, Verrat und Im-Stich-Lassen geschildert werden, ist die Geschichte doch mit einer faszinierenden Leichtigkeit erzählt, die einen sofort in Beschlag nimmt und atemlos bis zur letzten Seite gelangen lässt.

Orpheus und Eurydike, Agamemnon und Klytaimnestra, Aeneas und Dido, das sind Mathieu und Amandine, deren mythische Verbundenheit ihnen buchstäblich in die Wiege gelegt wurde. Kurz hintereinander in zwei eng befreundeten Familien geboren, sind die beiden von Geburt an untrennbar, verbringen ihre gesamte Kindheit miteinander, um sich schließlich wie selbstverständlich auf ganz behutsame, immer leidenschaftlichere Weise ineinander zu verlieben. Doch die kosmische Harmonie wird durch einen schweren Schicksalsschlag gestört, der in der Folge eine ganze Kette an tragischen Verwicklungen auslöst, aus denen es schließlich keinen versöhnlichen Ausweg mehr geben kann… Oder etwa doch? Kann der mythischen Fiktion gelingen, woran sich die Menschen seit jeher die Zähne ausgebissen haben: den Tod zu überwinden?

Mathieu jedenfalls ist seit dem plötzlichen Unfalltod seiner Eltern im Skiurlaub, an dem er sich zu Unrecht eine Mitschuld gibt, geradezu besessen vom Tod bzw. darauf, seine Macht zu brechen. Er will unbedingt Arzt werden, um mit Hilfe der Wissenschaft unheilbare Krankheiten auszumerzen. Doch dafür muss er nach Paris, weg von seiner großen Liebe Amandine, was ihm einerseits schier das Herz bricht, andererseits jedoch wie eine unbewusste Verlockung auf ihn wirkt, endlich mit dem Ort seiner Herkunft und den Zeugen seiner Kindheit auch die Erinnerung an das Unglück hinter sich zu lassen. Ohne es zu wollen, wird er genau im Moment der Entscheidung ein weiteres Mal in ein tragisches Unglück verwickelt — und ergreift die Flucht nach Paris.

Für Amandine, deren Perspektive mit derjenigen Mathieus kapitelweise alterniert, so dass man in beider wunder Seelen intensiven Einblick erhält, ändert sich mit einem Schlag alles in ihrem Leben: Sie verliert zwei innig geliebte Menschen, durchlebt ein emotionales Trauma von Verlust und Verrat — und macht eine weitere Entdeckung, die hier nicht verraten werden soll.

Von nun an führen beide junge Menschen getrennt voneinander ein eigenes Leben, doch immer wieder deutet sich an, dass ihre Schicksale auf mythische Weise miteinander verbunden sind. Symbol der Liebe und der Kraft des Mythos ist der titelgebende „weiße Zerberus“, den Mathieu bei einem Pariser Taxidermisten entdeckt, bei dem er während des Studiums aushilft. Mit seiner weißen Farbe ist er das Gegenbild zum schwarzen dreiköpfigen Höllenhund, den man unter diesem Namen aus der griechischen Mythologie kennt.

Der Roman ist eine gelungene Illustration des Fortwirkens magisch-mythischen Denkens: Um sich dem „Absolutismus der Wirklichkeit“, wie Hans Blumenberg die stets von Tod, Gewalt und Vergänglichkeit bedrohte conditio humana genannt hat, entgegenzustellen, schaffen sich die Menschen auch heute Bilder und Narrative, die Sinn stiften, und neue Götter, an deren Macht sie glauben können.

Die mythischen Anspielungen in Verbindung mit der vor allem gegen Ende auftretenden Fiktionsironie verhindern, dass die an eine antike Tragödie erinnernde Handlung zum Melodram gerät. Auf diese Weise vorbereitet, erscheint es nur folgerichtig, wenn die ansonsten in der wiedererkennbaren Gesellschaft des heutigen Frankreichs angesiedelte Geschichte am Schluss einen kleinen Schritt über die Realität hinaus ins Mythische tritt, das hier identisch mit dem Technisch-Utopischen wird.

Eine berührende Geschichte voller Metamorphosen, die das menschliche Dasein, und ebenso den Leser, erschüttern und verzaubern!

Pierre Raufast: Le cerbère blanc, Stock (2020)
ISBN: 9782234088498

bookmark_borderOlivier Guez: Koskas und die Wirren der Liebe

Wenn man den französischen Journalisten und Schriftsteller Olivier Guez über seinen ersten ins Deutsche übersetzten Roman Das Verschwinden des Josef Mengele kennengelernt hat, erwartet einen mit seinem eigentlichen Debütroman, der unter dem Titel Les révolutions de Jacques Koskas schon 2014 in Frankreich erschienen ist und nun auch in deutscher Übersetzung vorliegt, eine stilistische und auch inhaltliche Überraschung.

War sein Buch über den KZ-Arzt und Massenmörder Josef Mengele, seine Flucht nach Lateinamerika und sein langes, aber elendiges Überleben in wechselnden Verstecken eine auf intensiver historischer Recherche basierende psychologische Studie in literarisierter Form, so sprudelt sein Roman über den so gar nicht dämonischen Möchtegern-Schwerenöter Jacques Koskas geradezu vor satirisch-anarchischem Witz und fantasiereichem Überschwang, der auch dem Protagonisten eigen ist und diesem im Verlauf einer wahrlich turbulenten Handlung nicht selten zum Verhängnis wird.

Olivier Guez wurde wie sein Protagonist Jacques Koskas in Straßburg geboren, das im Roman allerdings unter der ironischen Verschleierung einer Stadt namens S. erwähnt wird, die durch ihre explizite Verortung im Elsass natürlich gar nichts mehr verschleiert, er ist ebenfalls jüdisch und schrieb einige Jahre für die französische Wirtschaftszeitung „La Tribune“, deren Buchstaben im Roman augenzwinkernd zu „La Turbine“ verdreht werden. Doch ist er trotz dieses autobiographischen Spiels natürlich keinesfalls mit seiner Romanfigur gleichzusetzen, wie der Autor im Interview mit dem Deutschlandfunk auf irgendwie schelmische Art betonte, auch wenn der deutsche Klappentext das nahelegen möchte.

Das Schelmische ist denn auch das zentrale Stilmerkmal des Romans und sein Protagonist ein moderner Pícaro, durch dessen Blick sich die ihn umgebenden gesellschaftlichen Milieus satirisch offenbaren, wenngleich Koskas‘ Geldsorgen stets von seiner Familie aufgefangen werden, ehe sie ihn tatsächlich in eine den spanischen Pícaros wohlbekannte prekäre Situation stürzen könnten. Prekär ist sein Leben eher in dem Sinne, dass er sowohl in beruflicher als auch romantischer Hinsicht weder seinem eigenen hedonistischen Ideal noch den Erwartungen seiner Eltern und seiner jüdischen Familie entsprechen kann, sich im Pariser Großstadtleben von spontanem Einfall zu spontaner Eroberung treiben lässt und trotz imaginärer Höhenflüge doch immer wieder zwar nicht allzu hart, aber etwas enttäuscht auf dem Boden der Tatsachen landet.

Fast unablässig dreht sich der Roman eher noch als um das Thema der Liebe, das erst im zweiten Teil an romantischer Spannungskraft gewinnt, als Koskas sich in Berlin zum ersten Mal unsterblich, erst glücklich und dann umso unglücklicher, verliebt, um die Frage der Männlichkeit, die den extrem spät pubertierenden Protagonisten lange — für seine besorgte Familie eine bedenklich lange — Zeit gar nicht, aber nach einem Schlüsselerlebnis, das den zarten, schmächtigen, in unschuldigen Fabeltierfantasien schwebenden Jüngling schließlich doch ereilt, umso heftiger umtreibt. Fast scheint es, als müsste er nun, wie um alles Verpasste nachzuholen, als junger Mann nun alle Frauen auf einmal begehren und verschleißen — oder von ihnen verschlissen werden.

Sein Königreich war das Mögliche, und beim geringsten Hindernis suchte er das Weite, als wäre das Leben nur eine unversiegbare Quelle von Vergnügungen, als lebte er noch immer und für alle Zeiten in der mütterlichen Gebärmutter, er, das Chamäleon, der Wetterhahn in seinem Saab Turbo, auf dessen spätes Auschlüpfen die Menschheit vergeblich wartete.

Guez, Koskas und die Wirren der Liebe

Pikaresk ist nicht nur die Unstetigkeit des Protagonisten, sondern auch die entlarvende Schilderung der modernen Gesellschaft in üppig-barocken, schmutzig-direkten und satirisch-überspitzten Bildern. Die Finanzkrise lässt ebenso grüßen wie die Wohnungsnot, die Fluktuation oberflächlicher Beziehungen und das Streben nach Konsum, Genuss und schnellem Geld. Doch auch die Banalität des geordneten Lebens eines erfolgreichen, aber doch immer vom Gespenst der Arbeitslosigkeit bedrohten Angestellten hält Jacques nicht lange aus:

Trotz seiner Essensmarken, der Ferienschecks und eines Schwimmbad-Abos zum halben Preis war Jacques missgelaunt. Er katzbuckelte und klammerte sich an seinen wurmstichigen Ast, weil er in jenen für die Pariser Presse mageren Zeiten Angst vor der Arbeitslosigkeit hatte. Wie praktisch alle nahm er Beruhigungsmittel und wartete auf den gesellschaftlichen Bing Bang.

Olivier Guez, Koskas und die Wirren der Liebe

Schließlich überschlagen sich die Ereignisse, wozu Jacques seinerseits einiges beisteuert, und er sieht seinen einzigen Ausweg — und vielleicht eine Chance — in einer Flucht nach Berlin, wo die hübsche blonde Barbara ihm den Kopf verdreht…

Guez‘ Roman ist auch eine — allerdings in sich schon wieder ironisch gebrochene — Dekadenz-Erzählung, in der das jüdische Herkunftsmilieu des Protagonisten, die jüdischen Feste und Traditionen immer wieder in einen bunten Kontrast zum hedonistischen Kapitalismus unserer modernen Gesellschaft gesetzt werden.

Europa und das Abendland waren verrottet. Die Geschichte würde sich für ihre Untaten rächen. Der Zorn schwelte, gewaltige Massen strömten heran, um endlich mit dem großen Vergnügen aufzuräumen, ein Fest, das fünf Jahrhunderte gewährt hatte, ging seinem Ende entgegen…

Guez, Koskas und die Wirren der Liebe

Denn uns Lesern wird diese dekadente Welt aus der Perspektive eines moralisch doch einigermaßen unzuverlässigen Erzählers präsentiert, der durchaus gebildet ist und an philosophisch-kritischen Einschätzungen und Kommentaren nicht geizt, die in Folge seiner überquellenden Fantasie jedoch die Vernunft allzu oft provozierend-amüsierend ad absurdum führen und den Erfindungsreichtum der literarischen Fiktion ausreizen.

Meine südamerikanischen Missgeschicke haben mich nicht sonderlich geknickt. Im Gegenteil, sie haben meinen Charakter geformt und mich in meiner Risikoliebe bestärkt. Ich bin ein Abenteurer, so viel steht fest, ein Spieler muss eben auch mal verlieren können. Aber bald gewinne ich, auf zu neuen Horizonten. (…) Übrigens höre ich jetzt mit diesem Tagebuch auf. Das ist mir abends doch zu viel Arbeit, ich hab weiß Gott Besseres zu tun, ich bin lebendig.

Guez, Koskas und die Wirren der Liebe

Der überraschende Wechsel zum Ich-Erzähler des eingeschobenen Tagebuchs, das über einen begrenzten Zeitraum den personalen Erzähler ablöst, ist eher Ausdruck der Launenhaftigkeit des Protagonisten, als dass er von einer stilistischen Notwendigkeit motiviert wäre, und wird ebenso plötzlich und fiktionsironisch wieder abgebrochen.

Dass am Ende der solcherart ausgiebig charakterisierte Antiheld eine religiöse Läuterung durchmacht, scheint eine fast unmögliche Vorstellung. Kann das gut gehen, oder rennt er schon wieder in sein Verderben…?

Das herauszufinden lohnt sich auf alle Fälle, denn Olivier Guez schreibt voll Verve und Witz und lässt seine Leser mit seinem hoffnungslosen Abenteurer bis zum Schluss atemlos mitjammern, mitschmunzeln, mitleiden und mitfiebern.

Bibliographische Angaben
Olivier Guez: Koskas und die Wirren der Liebe, Aufbau (2020)
Aus dem Französischen übersetzt von Nicola Denis
ISBN: 9783351034801

Bildquelle

Olivier Guez, Koskas und die Wirren der Liebe
© 2020 Aufbau Verlag GmbH & Co KG, Berlin

bookmark_borderLeïla Slimani: Le pays des autres

Im ersten Teil ihrer auf drei Bände angelegten marokkanischen Familiensaga zeigt Leïla Slimani eindrucksvoll, was für eine großartige Erzählerin sie ist. Ich habe das Buch kaum auf die Seite legen wollen, so mitreißend und einfühlsam entfaltet die Autorin die Auswirkungen der großen, von geschichtlichen Tumulten erschütterten Welt auf die kleine marokkanisch-französische Familie, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem kargen Land bei Meknès niederlässt. Wer Slimanis mit dem Goncourt 2016 ausgezeichneten Roman Chancon douce (dt. „Dann schlaf auch du“) gelesen hat und von dieser zutiefst schockierenden und zugleich behutsam erzählten Geschichte begeistert war, wird zunächst vielleicht überrascht sein. Denn mit ihrem neuen Roman betritt sie ein Terrain, das von der Tragödie, die sich zwischen einer modernen Pariser Familie und ihrem in prekären Verhältnissen lebenden, vereinsamten Kindermädchen abspielt, Welten entfernt zu sein scheint. Doch was man sofort wiedererkennt, ist die schlicht-poetisch schöne, sofort vereinnahmende Sprache, mit der Slimani ihre Leser ab der ersten Seite in ihre Geschichte hineinzuziehen versteht.

Le pays des autres (dt.: „Im Land der anderen“), der nun auf Französisch erschienene erste Teil der Trilogie, umfasst den Zeitraum von 1944 bis 1956 und ist zum Teil autobiographisch inspiriert; Slimanis aus dem Elsässer Bürgertum stammende Großmutter, die im Zweiten Weltkrieg einen algerischen Soldaten der französischen Kolonialarmee kennenlernte und mit ihm nach Marokko ging, war wohl das Vorbild für die Elsässerin Mathilde, die im Roman den Marokkaner Amine heiratet, mit ihm in seine Heimat zieht und dort ihre beiden gemeinsamen Kinder Aïcha und Selim aufzieht.

Mathilde und Amine sind ein zunächst leidenschaftlich verliebtes und optisch schönes, wenn auch sehr ungleiches Paar: Sie ist groß und blond, er ist dunkel und attraktiv und um einiges kleiner als sie. Sie verlässt ihre kriegsversehrte Heimat Frankreich, um mit ihrer großen Liebe im exotischen Marokko eine eigene Familie zu gründen, er kehrt nach dem Kriegseinsatz in Frankreich mit einer französischen Frau an seiner Seite zu seinen Wurzeln zurück und möchte das Land, das sein verstorbener Vater ihm als ältestem Sohn hinterlassen hat, modern bewirtschaften und zum Blühen bringen. Doch so wie Mathilde bald bewusst wird, dass ihre romantischen Erwartungen in der marokkanischen Realität enttäuscht werden und sie mit ihrem modernen Verständnis der Rolle der Frau und auch in ihrer ambivalenten Rolle als Französin und Frau eines Marokkaners zu kämpfen hat — bei den Gattinnen der französischen Kolonialbeamten fühlt sie sich nicht minder als Außenseiterin als unter ihren einheimischen Nachbarn und der marokkanischen Familie ihres Mannes –, wachsen auch Amine die Herausforderungen, die nicht nur landwirtschaftlicher, sondern auch kultureller und gesellschaftlicher Natur sind, zunehmend über den Kopf und bedrohen den inneren Frieden seiner Familie.

Rund um Mathildes und Amines kleine Familie entwirft die Autorin einen vielfältigen, aber stets überschaubaren Figurenkosmos, der auf sehr literarische Weise, nämlich über die narrative und dialogische Schilderung von Szenen, die Einblick in den Charakter und das von den äußeren Ereignissen geprägte Innenleben der Figuren geben, ein differenziertes Panorama der marokkanischen Gesellschaft der 1940er und 1950er Jahre vermittelt. Überhaupt zeigt sich in den vielen Szenen, in denen Slimani die Gedanken und Gefühle ihrer Figuren in großer Lebendigkeit und Poesie aufleben lässt, ihre Kunst, den Leser zum Mitfühlen zu bewegen, ohne sich deshalb mit dem oft ambivalenten Verhalten der Figuren kritiklos zu identifizieren. Ohne textliche Ausschweifung arbeitet sie das Wesentliche heraus, gibt den Figuren Raum und den Lesern die Möglichkeit, für einen Moment in ihre Empfindungen und ihre sehr unterschiedlichen Lebenswelten einzutauchen. Besonders nahe gehen einem dabei die Ängste, Sorgen und Hoffnungen von Mathildes und Amines Tochter Aïcha, etwa wenn sie voll furchtsamem Widerwillen das erste Mal die französische katholische Schule in der Stadt besucht, in der sie mit den auf sie zugleich fremd und faszinierend wirkenden Töchtern der Algerienfranzosen zusammenkommt, unter denen sie ein spöttisch belächelter Fremdkörper bleibt. Zwar macht sie in der Schule rasch Fortschritte und findet in einer der Schwestern eine ihr wohlwollende Beschützerin, doch ihre halbmarokkanische Herkunft, ihr auf die Mitschülerinnen rückständig wirkendes Zuhause auf dem Land weitab der kolonial geprägten Stadt und ihr introvertierter Charakter scheinen sie in ihrer Außenseiterposition festzunageln. Slimani zeichnet ein sehr sensibles Porträt des innerlich zerrissenen kleinen Mädchens, dessen mystisch veranlagte, sehnsüchtige, sehr intelligente Persönlichkeit auch eine grausame Seite aufweist, die aus dem Schmerz erwächst.

Immer wieder kreist die Geschichte um die konfliktreiche Frage der Zugehörigkeit und Herkunft, deren Ambivalenz sich am Beispiel einer halbfranzösischen-halbmarokkanischen Familie eindrücklich entfalten lässt. Es geht um Fragen von Herrschaft und Macht, um rassistische Arroganz, aber auch um Einsamkeit, Wut, Unverständnis, Verletzung und Verletzlichkeit. Der hybride Zitrusbaum, der „citrange“, eine Kreuzung aus Zitronen- und Orangenbaum, den Aïcha mit ihrem Vater pflanzt, nimmt in der Geschichte die Funktion einer Metapher ein. Die hybriden Früchte sollen ihrer Umwelt resistenter gegenüberstehen, doch haben sie auch einen fast ungenießbar bitteren Geschmack. In diesem Sinne ist auch Aïcha, die als Tochter einer Französin unter den marokkanischen Landarbeitern fernab des europäisch geprägten Stadtlebens aufwächst, aber zugleich Weihnachten unter einem aus dem Nachbargrundstück gestohlenen Nadelbaum feiert, eine solche Frucht, die ihre hybride Herkunft teils bitter zu spüren bekommt, ebenso wie ihre Eltern, die als „couple mixte“ von allen Seiten misstrauisch beäugt werden: Amine, der mit seiner blonden Frau und seiner Vergangenheit im Dienst der Kolonialarmee den Marokkanern zu französisch, seiner Frau hingegen zu stark den marokkanischen Traditionen verhaftet ist, und Mathilde, die immer wieder als Europäerin auffällt, wenn sie sich etwa sehr zum Unbehagen Amines dem traditionellen Teetrinken der Männer anschließt, wenn sie darauf besteht, dass ihre Schwägerin in die Schule geht oder ihr Hausmädchen von oben herab behandelt, und als Frau eines marokkanischen Bauern zugleich keinerlei Status bei der französischen Bevölkerung hat.

Le pays des autres ist somit auch ein (post)kolonialistischer Roman, der vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Konflikte zwischen den französischen Besatzern und den marokkanischen Unabhängigkeitskämpfern spielt. Die Autorin schildert, wie die politischen Unruhen und die zunehmende Gewalt Zwietracht und Schmerz auch innerhalb von Familien säen. Nach dem Tod des Vaters herrscht zwischen den Söhnen eine unterschwellige Konkurrenz, die Omar, den jüngeren Bruder Amines, in den bewaffneten Kampf treibt. Eifersüchtig auf die Auszeichnungen seines älteren Bruders im Zweiten Weltkrieg, entwickelt er einen umso größeren Hass auf die französischen Besatzer, für die sein Bruder einst gekämpft hat, überwirft sich mit Amine und verlässt sein Elternhaus, um sich den Unabhängigkeitskämpfern anzuschließen. Das Ineinander von persönlicher Biographie einerseits und dem mächtigen Einfluss der Geschichte andererseits, die bei Omars Rebellion zum Ausdruck kommt, tritt im Verlauf des Romans immer wieder zum Vorschein.

Vor dem Hintergrund der anderen Texte der Autorin ist es nicht überraschend, dass Kolonialismus und Sexualität hier eng miteinander verwoben werden und das Verhältnis von Männer- und Frauenrollen Machtstrukturen aufdeckt, die mit den kolonialen Herrschaftsbeziehungen verwandt sind. Isabela Figueiredo, deren literarisierte Erinnerungen an ihre Kindheit im portugiesischen Kolonialreich unter dem Titel Roter Staub vor kurzem ins Deutsche übersetzt wurden, schildert übrigens genau diesselbe Verflechtung der Unterwerfung der Frau und der kolonisierten Afrikaner in Bezug auf das portugiesische Kolonialsystem. Slimani selbst hat in ihrem Essay Sexe et mensonges (2017) die Situation der Frauen in Marokko untersucht und tritt für die Legalisierung der Abtreibung in dem Land ein, in dem sie geboren wurde. Dem Zusammenhang von weiblichem Begehren und Freiheit ging sie auch in ihrem Roman Dans le jardin de l’ogre (2014) nach. Wenn sie nun in Le pays des autres Beziehungen zwischen Männern und Frauen darstellt, wirkt das nie thesenhaft, sondern wird stets mit viel Gespür für die feinen Töne erzählt. Besonders unter die Haut geht die Geschichte von Selma, der bildhübschen jüngeren Schwester Amines, die sich in einen jungen Franzosen verliebt und erste Anstalten macht, sich aus dem für sie vorgesehenen gesellschaftlichen Rahmen zu lösen.

Selma, la veille, avait embrassé un garçon. Et depuis, elle ne cessait de se demander comment il était possible que les hommes qui l’empêchaient, qui la dominaient, soient aussi ceux pour qui elle avait tant envie d’être libre. (…) Depuis hier, sans cesse, elle avait besoin de fermer les yeux pour vivre encore, avec une excitation jamais tarie, ce moment délicieux. (…) Elle était comme prisonnière de ce souvenir (…). À chaque fois qu’il avait posé ses lèvres sur sa peau, il lui avait semblé qu’il la délivrait de la peur, de la lâcheté dans laquelle on l’avait élevée.

Était-ce à ça que servaient les hommes? Était-ce pour cela qu’on parlait tant d’amour? (…) Comme ils ont raison de se méfier et de nous mettre en garde car ce que nous cachons là, sous nos voiles et nos jupons, ce que nous dissimulons est plein d’un feu pour lequel nous pouvons tout trahir.

Selma hatte am Vortag einen Jungen geküsst. Und seitdem fragte sie sich unablässig, wie es möglich sein konnte, dass dieselben Männer, die ihr im Weg standen, die sie beherrschten, auch die waren, für die sie so große Lust verspürte, frei zu sein. (…) Seit gestern musste sie immerzu ihre Augen schließen, um wieder und wieder, mit einer nie versiegenden Erregung, diesen köstlichen Moment zu erleben. (…) Sie war wie gefangen von dieser Erinnerung (…). Jedesmal, wenn er mit seinen Lippen ihre Haut berührt hatte, war es ihr vorgekommen, als ob er sie von der Angst, von der Feigheit, in der sie erzogen worden war, befreite.
Waren die Männer dazu gut? War das der Grund, weshalb man so viel von Liebe sprach? (…) Wie Recht sie doch haben, dem zu misstrauen und uns davor zu warnen, denn was wir dort verbergen, unter unseren Schleiern und unseren Unterröcken, was wir dort verbergen, enthält ein Feuer, für das wir alles verraten können.

Slimani: Le pays des autres, S. 283 f. (Übersetzung der Rezensentin)

Doch in dem gewaltsamen gesellschaftlichen Kontext der 1950er Jahre ist der Konflikt vorgezeichnet. Als ein Fotograf von dem schönen jungen Paar ein Foto macht und es in seinem Laden ausstellt, fliegt die Liebesgeschichte ebenso auf wie die heimlichen Ausbrüche, die Selma während ihrer Schulzeit in die Freiheit der Stadt unternimmt. Amine, der ja selbst mit einer Französin verheiratet ist, entdeckt das Foto durch Zufall im Schaufenster, rastet aus und die erträumte Freiheit der jungen Frau endet in einer überstürzten Zwangsheirat.

Slimani gelingt es, das Auf und Ab der Sehnsüchte und Enttäuschungen in ihrer ganzen Ambivalenz in einer so gelungenen Balance aus mitreißender Unmittelbarkeit und reflektierender Distanz darzustellen, dass man nach der letzten Seite dieses ersten Bandes unbedingt nach einer Fortsetzung verlangt. Die ist auch geplant, jedoch erst für 2022 mit dem zweiten Teil, der die Zeit von 1970-1980 umfassen soll, in dem die Tochter Aïcha als junge Erwachsene im Zentrum steht, während Marokko von den Attentaten auf den König Hassan II. erschüttert wird, und für 2024 mit dem dritten Teil, in dem mit der Generation von Aïchas Kindern die globalisierte und vom islamistischen Terror geprägte Gegenwart erreicht wird. Wir brauchen also noch etwas Geduld, aber wenn die Autorin dem Stil des ersten Teils treu bleibt, wird sich das Warten auf jeden Fall lohnen!

Leïla Slimani: Le pays des autres, Gallimard (2020)
ISBN:  9782072887994

bookmark_borderMarion Messina: Faux départ

Der Debütroman der jungen Französin Marion Messina gilt als Roman über das Stigma der Armut, über die Klassengesellschaft, über die Spaltung der französischen Gesellschaft, und wird oft in einem Atemzug mit den Texten von Nicolas Mathieu, Edouard Louis oder Annie Ernaux genannt. Er ist aber auch der einzige mir bisher bekannte Roman, in dem — freilich nur als ein Aspekt eines viel umfangreicheren Gesellschaftspanoramas — ein akutes und immer größere Teile der Bevölkerung betreffendes soziales Problem auf sehr pointierte und eindringliche Weise geschildert wird: das eines außer Rand und Band geratenen Immobilienmarktes, an dem die sich zuspitzende soziale Ungleichheit eine geradezu symbolische Verdichtung erfährt, die jedoch auf einen leider sehr realen Zustand verweist:

Il n’y avait aucun contrôle, le marché immobilier parisien était le seul domaine de France parfaitement déréglementé, voire anarchique. Cette ville avait besoin de sa force de travail mais ne la voulait pas entre ses murs.

Es gab keinerlei Kontrolle, der Pariser Wohnungsmarkt war in Frankreich der einzige Bereich, der komplett dereguliert, ja anarchisch war. Diese Stadt brauchte ihre Arbeitskraft, aber wollte sie nicht innerhalb ihrer Mauern haben.

Faux départ, S. 139 (Übersetzung der Rezensentin)

Als Aurélie, die junge Antiheldin des Romans, ganz allein, ohne Partner, ohne Geld und ohne Beziehungen von Grenoble nach Paris geht, in der Hoffnung, dort ihr Studium fortsetzen und dank der Möglichkeiten der Hauptstadt endlich den sozialen Aufstieg vom Arbeiterkind zur akademisch gebildeten Angestellten meistern zu können, gerät sie in einen völlig entfesselten Wohnungsmarkt, der sich als kapitaler Wettkampf herausstellt, bei dem sie von vornherein chancenlos ist. Die Szene, in der Aurélie schildert, wie sie inmitten der sich auf wenigen Quadratmetern drängenden wohnungs- oder besser schlafplatzsuchenden Menschen Schlange steht, um eine winzige, heruntergekommene, völlig überteuerte Kammer ohne Sanitäreinrichtung zu besichtigen, bleibt einem in ihrem desillusionierten und entlarvenden Realismus noch lang im Gedächtnis. Letztlich bleibt Aurélie in ihrem Provisorium in der Jugendherberge, bis sie einen gut verdienenden Angestellten kennenlernt, mit dem sie weniger aus Liebe denn aus Not zusammenzieht.

Tatsächlich sind die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse, der Wunsch und die Schwierigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit, diese zu verlassen, in Faux départ Ausgangspunkt und treibende Kraft der Handlung. Doch meiner Ansicht nach lässt sich der in seiner Ernüchterung doch auch auf fast sanfte, melancholische Weise poetische Roman nicht auf dieses Thema beschränken. Vielmehr zeichnet sich dieser Text, der eben kein Sozialreport ist, durch eine höchst literarische Ambivalenz aus. So scheinen auch die Klassenkategorien einer gewissen Transformation unterworfen, durch die sie zwar nicht vollständig aufgehoben werden, jedoch im Kontext der wieder anders gearteten Machtstrukturen einer vernetzten, sexualisierten und durchökonomisierten Gesellschaft ihre Eindeutigkeit verlieren. Während Michel Houellebecq in Bezug auf die desillusionierende Schilderung einer konsumorientierten Sexualität oft als literarische Referenz Marion Messinas genannt wird, möchte ich hier auch die Theorien der Soziologin Eva Illouz ins Spiel bringen, die der ontologischen Haltlosigkeit als Folge prekär gewordener langfristiger romantischer Bindung auf den Grund geht, sowie die Studien der Philosophin Elizabeth Anderson über die modernen Irrwege des ökonomischen Liberalismus in Bezug auf Autonomie und Würde am Arbeitsplatz (vgl. Rezension vom 31.3.2020).

Erzählt wird die Geschichte, die trotz allem auch eine romantische Liebesgeschichte ist und in der — natürlich (post)modernisierten — Tradition einer Flaubert’schen Education sentimentale gelesen werden kann, in großen Teilen aus der Perspektive von Aurélie, die ihrem prekären Herkunftsmilieu über den Weg des Studiums zu entkommen hofft. Messina beschreibt aber auch die auf andere Weise holprige Suche nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit, auf der sich der aus Kolumbien stammende Alejandro, Aurélies große Liebe und großer Kummer, seit seiner Ankunft in Frankreich befindet. Stigmatisiert wird man selbst in einer so kosmopolitischen Stadt wie Paris nicht nur, wenn man sich den angesagten Style nicht leisten kann, sondern auch infolge einer ausländischen Herkunft. Gleichwohl dient die lateinamerikanische Identität Alejandros im Handlungsgefüge wohl hauptsächlich dazu, durch den Blick von außen — gleich Montesquieus Persischen Briefen — die Hybris zu entlarven, mit der eine privilegierte europäische Schicht nicht nur auf ihn blickt, den Ausländer mit Akzent, mit dem man sich ab und zu ganz gern als weltoffen schmückt, sondern auch auf die Mitglieder der Unterschicht, die man an ihren billigen, schlecht sitzenden Klamotten erkennt.

Aurélie ist in ärmlichen Verhältnissen in einem Vorort von Grenoble aufgewachsen, hat gerade ihr Abitur bestanden und ein Stipendium für ein Studium an einer renommierten Hochschule erworben — und erlebt die erste einer nicht enden wollenden Kette von Desillusionen, als sie begreift, dass sie ihr Stipendium nicht antreten kann, da ihre Eltern sich ihren Umzug in eine andere Stadt nicht leisten können. Kaum 18 geworden, zweifelt sie schon an allem:

Elle doutait de tout, à commencer par le destin émancipateur auquel elle s’était raccrochée pendant des années, prenant en horreur le mode de vie de ses parents, comme inscrit dans leurs gènes.

Sie zweifelte an allem, zuallererst an dem schicksalhaften Versprechen der Emanzipation, an das sie sich jahrelang geklammert hatte, während sie die Lebensweise ihrer Eltern, die ihnen gleichsam genetisch eingeprägt war, geradezu verabscheute.

Faux départ, S. 55 (Übersetzung der Rezensentin)

Die allseits verkündete Chancengleichheit erweist sich als „republikanischer Mythos“ (S. 54), Schule und Studium scheinen keinen Ausweg aus dem prekären Herkunftsmilieu zu bieten. Vielmehr gestaltet sich Aurélies Ankunft im Erwachsenenleben als unaufhörlicher Kampf um Beachtung, Geld und Liebe, in dem sie immer wieder unterzugehen droht. Sie fühlt sich einsam, nirgends zugehörig, macht unangenehme erste sexuelle Erfahrungen und als sie sich schließlich in den Kommilitonen Alejandro verliebt, den sie bezeichnenderweise nicht in der Vorlesung, sondern in ihrem Nebenjob als Putzhilfe kennenlernt, beschert ihr das zwar ein bisher ungekanntes Glücksgefühl, das jedoch überschattet wird von der Unverbindlichkeit ihrer Beziehung, auf der Alejandro besteht. Als Alejandro Grenoble verlässt, hält auch Aurélie nichts mehr in der Stadt, und sie geht nach Paris. In der Freiheit und Unbegrenztheit der Möglichkeiten, die das urbane Großstadtmilieu verspricht, potenzieren sich für Aurélie jedoch die Herausforderungen; ohne Wohnung, angewiesen auf einen schlecht bezahlten, ausbeuterischen Job als willkürlich herumkommandierte Messehostess, hat sie kaum Zeit für soziale Kontakte und an eine Fortsetzung ihres Studiums kann sie gar nicht erst denken. Der begrenzte soziale Aufstieg, auf den sie noch hoffen kann, gestaltet sich nicht nur äußerst mühevoll, sondern auch in einem Rahmen und unter Bedingungen, die es fraglich machen, inwieweit er überhaupt erstrebenswert ist:

Elle se sentait coincée entre un milieu ouvrier peu curieux, corvéable à merci, respectueux, soumis et craintif et une classe moyenne abêtie, déliquescente, qui semblait impatiente de liquider le peu de dignité sociale et intellectuelle dont elle aurait pu hériter.

Sie fühlte sich eingezwängt zwischen einem wenig neugierigen, der Fronarbeit ausgelieferten, respektbezeugenden, unterwürfigen und furchtsamen Arbeitermilieu einerseits, und einer verblödeten, dekadenten Mittelschicht andererseits, die es eilig zu haben schien, das Wenige an gesellschaftlichem und intellektuellem Ansehen, das sie hätte erben können, auszulöschen.

Faux départ, S. 116 (Übersetzung der Rezensentin)

Denn sie beobachtet, dass auch die mehr oder weniger nur für ihre Arbeit lebende Mittelschicht in Paris ein entfremdetes Dasein hat. Das Unbehagen, das die Autorin am Beispiel ihrer Protagonistin beschreibt, ist nicht nur ihrer Herkunft geschuldet, sondern auch Teil eines umfassenderen Lebensgefühls, das Generationen und soziale Schichten überschreitet und das in engem Zusammenhang mit der Technisierung, Sexualisierung und Ökonomisierung des ganzen Lebens steht, das auch Eva Illouz beschreibt (vgl. Rezension vom 25.2.2020). Bindungslosigkeit und Oberflächlichkeit als Folge von Akkumulation und Wahlfreiheit erstrecken sich dabei nicht nur auf zwischenmenschliche Beziehungen, sondern auch auf das Aurélie tief enttäuschende Bildungssystem und den stets zur Disposition stehenden Arbeitsplatz, der als Ort des Geldverdienens gleichwohl im Zentrum einer sich über Konsum und Lifestyle definierenden Gesellschaft steht. Auch Franck, der nicht mehr ganz junge und seines Single-Daseins überdrüssige Betriebswirt, mit dem Aurélie für eine Weile zusammenzieht, hat um den Preis von Einsamkeit und Burnout sein bisheriges Leben seiner beruflichen Karriere untergeordnet, um einen Lebensstandard zu erreichen, von dem Aurélie zwar nur träumen kann, der ihn in Paris jedoch nur um Haaresbreite vom Prekariat abgrenzt:

En province ils appartenaient à deux castes qui ne se fréquentaient pas, mais à Paris l’écart de niveau de vie entre classe moyenne et ouvriers disparaissait; il n’existait plus qu’une seule catégorie : les travailleurs pauvres.

Außerhalb von Paris gehörten sie zu zwei verschiedenen Kasten, die einander nicht begegneten, doch in Paris verschwand der Unterschied des Lebensstandards zwischen Mittelschicht und Arbeiterschicht; es gab nur noch eine einzige Kategorie: die arme arbeitende Schicht.

Faux départ, S. 174 (Übersetzung der Rezensentin)

Die Großstadt Paris ist in Faux départ gleichsam eine satirisch überspitzte Metapher für den urbanisierten Raum, an dem sich alles derart akkumuliert, dass sich die Wahlfreiheit in eine freiwillige Unterwerfung unter die ökonomischen Prinzipien verkehrt:

La vie en ville et ses temps de transports indécents limitaient singulièrement les aspirations à la lecture et aux séquences de repos. Le sexe, gage de plaisir immédiat et marqueur social, était devenu à lui seul un leitmotiv. Je baise donc je suis.

Das Leben in der Stadt und seine schamlosen Verkehrszeiten begrenzten die Sehnsucht nach Lektüre und einem Zur-Ruhe-Kommen auf einzigartige Weise. Der Sex war als Garantie unmittelbaren Genusses und als sozialer Marker ganz für sich allein zu einem Leitmotiv geworden. Ich ficke, also bin ich.

Faux départ, S. 167 (Übersetzung der Rezensentin)

Die Durchdringung von Sex, Konsum und urbanem Leben ist ein Motiv, dem Messina in ihrem Roman häufig nachspürt, mitunter in Sätzen, die tatsächlich sehr der Houellebecq’schen Sprache verwandt sind:

On n’avait jamais autant parlé de cul de manière libérée mais elle ne voyait que des célibataires decomplexés, obligés de consacrer une part non négligeable de leur revenu dans des sorties en quête du partenaire de débauche d’un soir ou d’un mois, délai maximal toléré.

Nie hatte man so viel und auf so befreite Weise über Sex gesprochen, und doch sah sie nur lauter Singles ohne Hemmungen, die sich verpflichtet fühlten, einen nicht geringen Teil ihres Einkommens fürs Weggehen aufzuwenden, auf der Suche nach einem Sexpartner für einen Abend oder — das war die maximal tolerierte Frist — für einen Monat.

Faux départ, S. 153 f. (Übersetzung der Rezensentin)

Im Schriftbild wird eine Eigenheit deutlich, die sich durch Messinas gesamten Text zieht, nämlich die Sichtbarmachung aktueller Diskurse und populärer Ausdrucksweisen durch Kursivdruck. Die Autorin entlarvt und ironisiert auf diese Weise verbreitete Labels begrifflicher Pauschalisierung, die zugleich viel über das Lebensgefühl unserer Gesellschaft verraten. Darüber hinaus legen diese auf eine metatextuelle Ebene verweisenden Markierungen die sich stets selbst hinterfragende Suche der Autorin nach einer Benennung immer fluiderer sozialer Beziehungen offen, die ja auch ihre Geschichte und die Sorgen ihrer Figuren bewegt.

Ähnlich wie Houellebecq beschreibt die Autorin die Wünsche und Nöte einer sexualisierten Gesellschaft und zeigt mit ihren verunsicherten und unzufriedenen Protagonisten die Kehrseite der scheinbaren Wahl-Freiheit auf: So hingezogen Alejandro sich zu Aurélie fühlt, die gerade durch ihre Unauffälligkeit und ihren Mangel an Selbstinszenierung unter all den jungen Frauen heraussticht, hat er Angst, eine Bindung zuzulassen. Getrieben von dem irrealen und doch allseits idealisierten Wunsch, alle Möglichkeiten auszukosten, verspürt er letztlich nur Leere, Einsamkeit, Melancholie und ein nicht näher bestimmbares Ungenügen: eine Art postmodernen „ennui“. Aurélie hingegen fühlt sich hoffnungslos überfordert im allgegenwärtigen Inszenierungswettbewerb, in dem sie aufgrund ihrer prekären Herkunft und auch aufgrund ihres fast aus der Zeit gefallenen romantischen Charakters von vornherein unterlegen ist.

Les femmes, elles, seraient toujours prêtes à mourir pour un homme qu’elles penseraient être unique (…); les hommes considéraient les femmes comme à leur disposition, elles devraient lutter pour être plus désirables que leurs congénères, se faire toujours plus belles, plus minces, plus toniques. Au contraire du règne animal, ce n’était pas à l’élément masculin de se battre pour conquérir la femelle qui assurerait la perpétuation de l’espèce, mais à la femelle de se battre pour avoir l’honneur de se faire pénétrer dans le cadre d’un rapport sexuel stérile. Ce retournement de la situation permettait à des acteurs du marché d’enregistrer des bénéfices records pour des biens et services marchands dévolus à la seule modification constante du corps féminin (…).

Die Frauen würden immer bereit sein, für einen Mann zu sterben, den sie für einzigartig hielten (…); die Männer hielten die Frauen für jederzeit verfügbar, sie — die Frauen — sollten darum kämpfen, begehrenswerter als ihre Geschlechtsgenossinnen zu sein, immer noch schöner, schlanker, anregender zu werden. Im Unterschied zum Tierreich war es nicht Aufgabe des Männchens zu kämpfen, um das Weibchen zu erobern, das das Fortleben der Art sicherstellte, sondern es war Aufgabe des Weibchens um die Ehre zu kämpfen, im Rahmen einer sterilen sexuellen Beziehung penetriert zu werden. Eine solche Umkehrung der Situation ermöglichte den Playern auf dem ökonomischen Markt, Rekordgewinne für ökonomische Güter und Dienstleistungen einzustreichen, die einzig der fortwährenden Anpassung des weiblichen Körpers dienten.

Faux départ, S. 147 (Übersetzung der Rezensentin)

Geradezu erfrischend liest sich hier der satirisch überspitzte weibliche Gegenblick zu Houellebecqs männlicher Perspektive, der einen an Eva Illouz‘ Feststellung erinnert, dass in der vernetzten Welt der Wahlfreiheit weiterhin gewisse Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen bestehen. Unabhängig vom Geschlecht tun sich auch bei Marion Messina die Figuren am schwersten, die sich nach Liebe und Bindung sehnen; die zitierte Passage macht deutlich, wie der beständige Konkurrenzkampf, in dem man sich bei der Suche nach einer romantischen Beziehung behaupten muss, an den Kräften und auch am Geldbeutel der Beteiligten nagt. Indem Messina jedoch eine weibliche Perspektive ins Zentrum rückt, kann sie vielleicht sogar noch besser die Kehrseite der allseits postulierten sexuellen Autonomie einfangen. Folgendes Zitat unterstreicht die Ambivalenz von Freiheit und Emanzipation, die dem ganzen Roman innewohnt:

…elle se réjouissait de pouvoir se soustraire aux convenances auxquelles elle aurait pourtant tant voulu se soumettre…

…sie freute sich, sich den Konventionen zu entziehen, denen sie sich doch so gern unterworfen hätte…

Faux départ, S. 80 (Übersetzung der Rezensentin)

Hervorheben muss man auch, dass sich Aurélie, gleichwohl in zweierlei Hinsicht scheinbar in der Situation des Opfers, als romantisch empfindende Frau und als Sprössling der Unterschicht, nicht eindeutig auf diese Rolle beschränken lässt. Zwar ist sie in der Beziehung mit Alejandro diejenige, die mehr liebt und mehr unter der Unverbindlichkeit der Beziehung leidet, doch darf man nicht übersehen, dass sie sich gleich zweimal aus freien Stücken für diese auf wackligen Füßen stehende Beziehung entscheidet. In der späteren Beziehung zu Franck ist sie sich der Machtverhältnisse absolut bewusst; hier nutzt sie ihr eigenes Kapital als junge attraktive Frau, die sich selbst im Austausch für eine gewisse Stabilität und den Komfort einer Wohnung einem Mann hingibt, der wiederum sein bisheriges emotionales Leben dem Beruf „geopfert“ hat. Schließlich verlässt sie Franck und entscheidet sich gegen eine Beziehung, in der sie keine emotionale Erfüllung findet.

Ausbeuterisch erscheinen fast eher die makroökonomischen Strukturen, der sich die meisten Menschen freilich allzu bereitwillig fügen. Messina erwähnt die „Gelbwesten“ mit keiner Silbe, ebenso wenig treten irgendwelche Rechts- oder Linkspopulisten auf; doch umso eindringlicher gelingt es ihr, am persönlichen und berührenden Schicksal zweier junger Menschen zu illustrieren, inwiefern sich hinter sozialen Ungleichheiten Machtstrukturen verbergen, die über eine stigmatisierte Klasse hinausreichen. Im Gedächtnis haften bleiben in diesem Kontext auch Aurélies Bewerbungsgespräch und die Beschreibungen ihres Arbeitsalltags als Messehostess. Die Einstellungsprozedur ist so aufwendig, als handelte es sich um einen hochkarätigen Posten, wo doch die Entlohnung und damit der Wert der Arbeitskraft hier in keinem Verhältnis etwa zur verlangten Ausbildung stehen; die ständige Verfügbarkeit und der mobile Einsatz an weit entlegenen Orten der Großstadt stehen im Kontrast zur niedrigen Bezahlung, die Aurélie nicht einmal für Essen, Kleidung und Wohnung ausreicht. Dennoch ist die Konkurrenz selbst im niedrig entlohnten und doch so benötigten Dienstleistungssektor riesig.

Avant les gens allaient à la messe, maintenant ils vont au travail, exécuter des gestes, des rituels, prononcer toujours les mêmes phrases. Ils en sortent épuisés et rassurés. (…) Rien n’angoisse plus que le chômage.

Früher gingen die Menschen in die Kirche, jetzt gehen sie in die Arbeit und führen bestimmte Gesten und Rituale aus, sprechen immer wieder dieselben Sätze. Um dann erschöpft und beruhigt nach Hause zu gehen. (…) Nichts macht mehr Angst als die Arbeitslosigkeit.

Faux départ, S. 194 f. (Übersetzung der Rezensentin)

Am Ende des Romans ist Aurélie gerade mal 20 Jahre alt, hat aber bereits so viele desillusionierende Erfahrungen gemacht, dass sie nun eine Entscheidung trifft, die vielleicht zum ersten Mal so frei ist, wie es eben geht.

Bibliographische Angaben
Marion Messina: Faux départ, J’ai lu (2018)
ISBN: 9782290164907

Zur deutschen Ausgabe im Carl Hanser Verlag:



Bildquelle
Marion Messina, Fehlstart
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
© 2020 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

bookmark_borderCécile Wajsbrot: Zerstörung

Zwei gegensätzliche Gefühle durchfahren einen bei der Lektüre dieses unheimlich eindringlichen bzw. unheimlichen und eindringlichen neuen Romans der Französin Cécile Wajsbrot: der mehr als beunruhigende Schauder, dass diese Dystopie einer jede Erinnerung auslöschenden, Reflexion und Komplexität durch Unterhaltung und banale Eindeutigkeit ersetzenden Diktatur im Paris des 21. Jahrhunderts sich als Folge von Entwicklungen darstellt, die wir Leser selbst in unserer unmittelbaren Gegenwart wahrnehmen können, sowie das ehrfürchtige und hingerissene Staunen angesichts der Poesie und metaphernreichen Vielstimmigkeit der Sprache, die all die Zwischentöne kunstvoll heraufbeschwört, die in der fiktionalen Realität des Romans in Auflösung begriffen, der titelgebenden Zerstörung anheimgefallen sind.

Form und Inhalt greifen in diesem poetischen Meisterwerk ineinander. Das Thema des Romans spiegelt sich in der Erzählsituation, die bis zuletzt von Ambivalenz (bzw. Polyvalenz) durchdrungen ist. Mysterium und Zweifel sind dem allmählichen Verstehensprozess eingeschrieben, Hoffnung und Misstrauen wechseln einander ab. Die Erzählerin, oder besser Sprecherin, ist eine namenlose Frau, Schriftstellerin und Literaturliebhaberin, die allein in einer Pariser Wohnung lebt. Eine mysteriöse Organisation, die ihre Ziele geheimhält, hat sie telefonisch kontaktiert. Sie lässt sich rekrutieren, getrieben vom „aufrichtigen Wunsch, zu widerstehen, de[m] Wunsch, etwas zu teilen…“ (Zerstörung, S. 35) Denn Paris, ja ganz Frankreich, wurde von einer diktatorischen Macht usurpiert, die schleichend die Herrschaft ergriffen hat und nun das öffentliche und private Leben der Menschen immer weiter kontrolliert, überwacht, einschränkt, bereinigt. Persönliche Bilder werden beschlagnahmt, Bücher eingezogen, Namen getilgt, die Erinnerung an alles, was älter als zehn Jahre ist, ausgelöscht, das Stadtbild verändert, Häuser abgerissen, Museen, Theater und Bibliotheken gesperrt. Durch diese Bilder fühlt man sich unweigerlich an die Diktaturen des vergangenen Jahrhunderts erinnert; droht sich hier die überwunden geglaubte Geschichte alptraumhaft zu wiederholen?

Die massive Zerstörung der traditionsreichen Stadt, ihre Verwandlung in eine einzige Baustelle, die ihren Bewohnern den Boden unter den Füßen entzieht, ist eine eindringliche Metapher, die das Bild des porösen, brüchigen, immer mehr Leerstellen und Abwesenheiten schaffenden Untergrunds mit dem fortschreitenden Verlust des kollektiven und individuellen Gedächtnisses zusammenbringt. Die andere Metapher, die das Buch leitmotivisch durchzieht, ist die der Sonnenfinsternis, die auch mit dem Raum der Nacht verschmilzt, aus dem heraus die Erzählerin spricht:

Ich bin in der Nacht — nicht nur in der mich umgebenden, die Sie gerne als einzigen Rahmen meiner Nachrichten sehen möchten (…), sondern auch in jener inneren, die meine sämtlichen Gedanken einhüllt.

Zerstörung, S. 31

Denn akustischen Kontakt zu ihren Auftraggebern hat sie nur des Nachts; der Kern ihres Daseins hat sich in die Dunkelheit verlagert, wenn sie über das Medium eines „Soundblogs“ eine Art Stimmen-Collage quasi ins Nichts hinein entstehen lässt. Dabei vermischt sich ihre eigene Stimme — suchend, fragend, zweifelnd, sich widerspenstig erinnernd — mit den Stimmen anderer namenloser Menschen, deren Gespräche sie aufgenommen und in ihren Text integriert hat. Dieses Sprachmaterial soll roh und unbearbeitet, nicht schriftlich fixiert und literarisiert sein, und bringt doch eine sehr literarische, ästhetisch-philosophische Textform hervor, die uns extrafiktionaler Leserschaft im zum Glück noch nicht verbotenen Medium Buch vorliegt. Allerdings ist man als Leser sehr versucht — und sollte sich unbedingt versuchen lassen –, sich den Text laut auf der Zunge zergehen zu lassen, erinnert die Form doch immer wieder an ein langes Prosagedicht.

Die Erzählerin erlaubt sich immer wieder kleine Akte des Widerstands gegenüber ihren Auftraggebern; so reist sie etwa unangekündigt nach Berlin, in dem noch kein diktatorischer Umsturz stattgefunden hat, vielleicht, weil hier die Erinnerung an die überwundenen Diktaturen der Nationalsozialisten und der DDR noch nicht ausgelöscht wurde? Dennoch kehrt sie in die Unfreiheit ihres eigenen Landes zurück, in banger Erwartung, am Widerstand teilnehmen zu können; und tatsächlich scheint die Widerstandsbewegung allmählich aus der Sonnenfinsternis herauszutreten, als stumme Menge, die ihr einvernehmliches Schweigen als womöglich einzig wirksame Waffe gegen die lärmende Diktatur einsetzt. Doch ist dieser von der ominösen Organisation diktierte Widerstand wirklich ein Widerstand, oder nur ein riesengroßer Fake, mit dem im Gegenteil jeder weitere Widerstand gebrochen wird?

Die große Faszination des Textes, seine poetische Kraft, beruht in der verdichteten Sprache, die niemals eindimensional ist, die Kehrseite eines Wortes immer mitassoziiert und viele weitere Schattierungen mitdenken lässt. Wenn etwa von den körperlosen Stimmen die Rede ist, die in der neuen Welt der Erzählerin bedeutsam sind, wird das mythologische Bild des in die Unterwelt hinabsteigenden Aeneas heraufbeschworen, und mit ihm der Tod, aber auch die Kraft des Gehörten, das frei von der sensationsheischenden Ebene des Visuellen ist; doch ebenso klingt in der Körperlosigkeit immer wieder auch die Entpersönlichung und Entmenschlichung, die Technisierung der Welt an. Ebenso zwiespältig ist die Anweisung der körperlosen Auftraggeber, die sich einen spontanen, ganz auf die Gegenwart gerichteten, vom Ballast der Tradition und der Künstlichkeit des Schriftlichen freien Text von ihr wünschen. Geht es ihnen um Befreiung oder nicht doch um Bereinigung? Entsteht so die Aufrichtigkeit des nackten, ungeschliffenen Gedankens oder eine ephemere, dem sofortigen Vergessen ausgelieferte Mündlichkeit, ein gedächtnisloser Abgrund, in dem wir uns verlieren?

Unbestreitbar ist, dass sich die Erzählerin trotz oder gerade durch den beengten Rahmen, der sie ganz auf sich selbst zurückwirft — „hier, in dieser Nacht, in der ich mit dem Widerhall meiner eigenen, wieder anders klingenden Stimme konfrontiert bin“ (Zerstörung, S. 98) –, auf das Wesentliche konzentriert und einen neuen und unverstellten Blick auf die Dinge freilegen kann. Und dabei spielt die allseits bedrohte und verpönte Erinnerung eine zentrale Rolle:

Die Menschen, die ich befrage (…) sind genauso verloren wie ich. Und in ihrem Verlorensein greifen sie oft auf die Vergangenheit zurück, auf ihre Erinnerungen. (…) um sich zu vergewissern, dass sie wirklich existieren.

Zerstörung, S. 54 f.

Die Stimmen, die sie aufnimmt und in ihre eigenen Gedanken einbaut, sind Stimmungs- und Diskursbilder des frühen 21. Jahrhunderts, und legen somit Zeugnis ab von einer Zeit, die unsere Gegenwart ist:

— Schließen.
— Davon war die Rede.
— Das Wort war allgegenwärtig.
— Die Grenzen.
— Die Türen.
— Sicherheit.
— Vorgeschobene Riegel.
— Schließen.
— Die Sache war allgegenwärtig.
— Aber man nannte sie In-den-Griff-Bekommen, Misstrauen.
— Und man sprach nicht von Intoleranz.
— Man sprach von Achtung.
— Achtung der Gesetze, des Rechts, des Territoriums.
— Nie der Person.

Zerstörung, S. 75

Stets ist diesen Stimm-Collagen eine hinterfragende, kritische Stimme eingeschrieben. Sie zeigen die Suggestions- und Manipulationskraft bestimmter Worte; verkümmerte, sinnentleerte, gewaltsame Parolen werden durch die stilistischen Operationen der Autorin als solche entlarvt und in ein vielschichtiges Klanggebilde eingebettet, das die hinter den vereinfachten Worthülsen und Slogans sich verbergenden Problematiken durchscheinen lässt. Jedoch ist dieses Unterfangen ein Wettlauf gegen die Zeit; die Distanz zwischen der Vergangenheit, welche die Stimmen evozieren, an die sie sich noch erinnern können, und der sich unaufhaltsam verabsolutierenden Gegenwart, die gedächtnislos in eine gewichts- und gesichtslose Zukunft steuert, nimmt immer mehr ab.

Die Erzählerin erkennt in diesen Diskursen, die unserer eigenen Gegenwart so unheimlich ähneln, im Nachhinein Symptome oder Zeichen, die die Zerstörung vorbereitet haben. Es geht um das Ausspielen der Sicherheit gegen die Freiheit, um Polarisierung, Gewalt, um Oberflächlichkeit und den Wunsch nach Vereindeutigung, um Rankings und Akkumulation statt Ästhetik, Reflexion und Komplexität, um steigendes Misstrauen, sinkende Solidarität, Beziehungslosigkeit und Virtualität:


— Man glaubte, mit der ganzen Welt in Kontakt zu sein. (…)
— Während man sich doch immer mehr hinter seinen Bildschirmen isolierte.
Abschirmte.

Zerstörung, S. 156

Im Unterschied zu den Stimm-Kompositionen der Erzählerin ist das Stimmengewirr der virtuellen Netzwerke ein akkumuliertes Chaos, das zwar allerhand Warnungen hervorstieß, die man in dem dabei entstehenden Lärm jedoch nicht mehr wahrnahm. Es gab keine reflexive Distanz mehr, „so dass schließlich der Kommentar unmittelbar auf das Geschehen folgte, quasi gleichzeitig eintrat“. (Zerstörung, S. 188) All das schuf eine Atmosphäre der Zerstörung, die schließlich in der dystopischen Situation mündete, die in der Gegenwart des Romans längst eingetreten ist.

Auch wenn es ihr zunehmend schwerer fällt, schreibt bzw. spricht die Erzählerin gegen das Vergessen an und setzt auf diese Weise einen Verstehensprozess über die Frage in Gang, wie sich die Diktatur etablieren konnte und nach welchen Prinzipien sie funktioniert. Selbstkritisch hinterfragt sie auch ihr eigenes Verhalten und erkennt, dass sie zu leichtfertig war, auch in ihrem früheren Schreiben. Ihr Stil ist jetzt ein anderer, beim Sprechen, aber auch bei ihren neuen Schreibversuchen. Immer wieder schleicht sich auch ein Gefühl der Ohnmacht ein, steht die Frage im Raum, wann die Kräfte des Widerstands aufgebraucht sind, wie lange eine Extremsituation der Bedrohung und Ungewissheit den Einzelnen über sich selbst hinauswachsen lässt und wann sie ihn zerbricht. Mögliche Antworten findet man in dem im Roman omnipräsenten Kontext der Literatur(geschichte), aus der sich erhellende oder ermutigende Vergleiche schöpfen lassen. Solange man sich an die düsteren Zeiten, die bestimmte Literatur verboten, zensierten oder verbrannten, noch erinnert, kann man sich auch Beispiele von Schriftstellern ins Gedächtnis rufen, die trotz dieser Schikanen weiter geschrieben haben, von verfemten Werken, die sich einen festen Platz im Geist ihrer künftigen Leserschaft erobert haben. Zudem ist die Fiktion der Ort, an dem man über die Wirklichkeit hinausgehen kann:

— (…) Warum sollte man sich für Geschichten interessieren, die es nicht gibt, für Ereignisse, die nie passiert sind?
— Weil sie manchmal mehr Existenz haben als die, die passiert sind.

Zerstörung, S. 41

Die Literatur, so lautet vielleicht die zentrale Botschaft des Romans, ist wie die Erinnerung unabkömmlich für den Fortbestand einer Gesellschaft. Gedächtnis, Tod und Imagination sind dabei eng miteinander verwoben:

Auf Friedhöfen ist das Denken freier. (…) wo das Erinnern erlaubt ist, geht der Geist auf Reisen.

Zerstörung, S. 125

Hier ist Cécile Wajsbrot — Tochter polnischer Juden, die während des Nationalsozialismus nach Frankreich geflohen waren, der Vater kam in Auschwitz um — auch geprägt von ihrer eigenen Geschichte. Erinnerungsarbeit und der Umgang mit den Traumata der Geschichte sind Themen, die sie bereits in ihren Vorgängerromanen behandelt hat. In vielem erinnert auch das lyrisch-romaneske Ich ihres neuen Romans an die Autorin, die Komparatistik in Paris studierte, u.a. als Rundfunkredakteurin arbeitete und sich heute als Übersetzerin, Romanautorin und Essayistin dem Lesen und Schreiben widmet.

— Die Ereignisse wiederholen sich nicht.
— Oder vielmehr, ihre Form verändert sich, sodass sie nicht wiederzuerkennen sind.
— Oder vielmehr, man erkennt sie wieder — wenn es zu spät ist.

Zerstörung, S. 3

Der Roman mit seinem offenen, aber beunruhigenden Ende wirft viele Fragen auf, auch die nach der Verantwortung:

Wir dachten, die Dinge stünden schlecht, taten aber, als stünden sie gut, und waren anschließend erstaunt, dass sich nichts änderte.

Zerstörung, S. 85

Unsere Demokratie und unsere Freiheit haben keine Ewigkeitsgarantie, und ihre Unterhöhlung ist ein schleichender Prozess. Umso wichtiger ist es, auf die kleinen Diskrepanzen und Misstöne zu achten, um nicht irgendwann überrumpelt zu werden. Gerade das Feld der Sprache sollte man nicht unterschätzen. Worte können eine performative Kraft entwickeln, im Guten wie im Schlechten, und in der Ausdrucksweise spiegelt sich auch das gesellschaftliche Bewusstsein einer Gesellschaft:

— Endlich äußern wir uns.
— Ohne Filter.
— Also ohne nachzudenken.
— Lassen freien Lauf.
— Dem Hass.
— Dem Groll.
— Dem Offenkundigen.
— Das tut gut.
— Es ist befreiend.
— Wir meiden komplizierte Wörter. (…)

Zerstörung, S. 147

Einer solchen Verarmung und Verrohung der Sprache, die wir als „hate speech“, in Form der enthemmten Beleidigungen und vorschnellen Urteilsbildungen der sozialen Medien längst kennen, setzt die Autorin ebenso wie ihre Erzählerin die reflektierte, vielstimmige Poesie ihrer eigenen Sprache entgegen — eine résistance poétique:

So sprachen sie nicht, sie drückten sich einfacher aus, aber ich will ihre Worte hier nicht wiedergeben, ich lehne es ab, mich von ihrer Sprache anstecken zu lassen. (…) Hinter den besänftigenden Worten kam der Hass zutage, hinter den einvernehmlich gewordenen Ideen tauchte ihr ursprüngliches Ansinnen auf — die Zerstörung. (…) Ich habe angefangen zu schreiben (…), und ich lasse mich mit Genuss in die Windungen der Sprache gleiten, die von den Schriften der Vergangenheit genährt sind.

Zerstörung, S. 66-69

Cécile Wajsbrot: Zerstörung, Wallstein (2020)
Aus dem Französischen von Anne Weber
ISBN: 9783835336100

bookmark_borderJérôme Ferrari: À son image

Mit seiner unvergleichlichen Sprache hat mich Jérôme Ferrari, den man in Deutschland vor allem durch seine Korsika-Trilogie kennt, auch in sein neues Buch tief, fast zu tief hineingezogen, man entkommt seiner Geschichte nicht unberührt, so wie die Figuren seines Romans der Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht unverletzt entkommen. Fasziniert und betroffen habe ich das Leben der jung verunglückten (Kriegs-)Fotografin Antonia im Rhythmus der Perspektiven und Zeiten zu einem virtuosen literarischen Gesamtkunstwerk fügenden Erzählerstimme miterlebt und mitreflektiert. Wäre der geschriebene Text eine Predigt, an den Lippen eines Priesters abzulesen, man würde an ihnen hängen bis zum letzten Wort, bis die Messe vorüber ist. Mit diesem Bild befindet man sich auch schon beinahe in dem poetisch-metaphysischen Raum, den Ferrari für seinen Roman geschaffen hat.

Antonia, die im Zentrum des Romans stehende junge Frau, verunglückt 2003 auf der Heimfahrt von Calvi, wo sie eine Hochzeit fotografiert hat, tödlich. Der Zufall oder das Schicksal hat sie kurz zuvor noch mit dem Kriegsveteranen Dragan zusammengeführt, den sie das letzte Mal vor zehn Jahren gesehen hatte, als sie ihn für eine Reportage über den Jugoslawienkrieg fotografiert und begleitet hatte. Ihr Leichnam wird in ihrem Heimatdorf aufgebahrt, die zwölf Kapitel des Romans entsprechen Abschnitten aus der katholischen Totenmesse, die von ihrem Patenonkel gehalten wird, der zugleich die Rolle des Priesters, des liebenden und trauernden Verwandten sowie in großen Teilen auch die eines personalen Erzählers einnimmt, aus dessen Innenschau wir das meiste über Antonias Leben erfahren.

Die Lebensgeschichte Antonias verknüpft Ferrari aufs Engste mit einer Geschichte der Fotografie, indem er tiefgründige Reflexionen über das Wesen dieses Mediums und seine Funktion für die Geschichte des 20. Jahrhunderts in die Erzählung integriert. Das intime Band zwischen Fotografie und Tod zieht sich durch den gesamten Roman, so dass man immer wieder an Roland Barthes‘ berühmten Essay über die Fotografie, La Chambre claire (Die helle Kammer), erinnert wird, an seine Beschreibung von Bildern zum Tode Verurteilter und auch an seine Definition des geheimnisvollen „punctum“, des Zufälligen der Fotografie, das emotional, unbewusst und eben auch gewaltsam auf den Betrachter wirkt und ihn verwundet. Von daher ist es nur konsequent, wenn Ferrari in seinem Roman auch der Affinität der Fotografie zur Gewalt auf den Grund zu gehen versucht, ihre Funktion im Krieg, ihre Neigung zur Obszönität oder zur symbolischen Überfrachtung erforscht sowie ihrer oft nur dem Zufall zu verdankenden Bedeutung oder eben auch Bedeutungslosigkeit nachgeht.

Jedem Kapitel ist eine Bildunterschrift vorangestellt, jedoch ohne den Abdruck der zugehörigen Fotografien, die sich meist aus der Imagination des Autors speisen, der diese fiktiven Bilder mit großer Suggestionskraft aus der Erzählung der Geschichte hervorgehen lässt. Zum Teil handelt es sich auch um real existierende Fotografien, die Ferrari — so liest man im Nachwort — zu seiner Geschichte inspiriert haben, ebenso wie auch die fiktionalisierten historischen Figuren, deren Fotografen-Biographien er in die Erzählung einbaut. Auf diese Weise ist dem Roman eine Meta-Ebene eingeschrieben, die aber an keiner Stelle den Lesefluss oder die poetische Bildersprache unterbricht, vielmehr der Geschichte noch mehr Dichte und Tiefe verleiht. Denn so wie die korsische Biographie Antonias und ihrer Familie und Freunde, darunter viele Separatisten, auf der Makroebene die Geschichte des 20. Jahrhunderts, seiner Gewalt und seiner Kriege, widerspiegelt, wird die fotografische (Sinn-)Suche der jungen Frau auch in eine universelle Beziehung gesetzt zu den über das visuelle Medium aufgeworfenen Fragen nach dem Verhältnis von Ästhetik und Verantwortung, Idolatrie und Wahrhaftigkeit, Oberflächlichkeit und Obszönität.

Spannend ist in dieser Hinsicht auch die religiöse oder eher metaphysische Dimension, in der sich der Text bewegt, was schon durch den liturgischen Rahmen der Erzählsituation deutlich wird, und die sich immer wieder in den assoziativ sich hin und herbewegenden Gedanken und Erinnerungen des Priesters manifestiert. Der Priester selbst hat bezeichnenderweise als einzige der tragenden Figuren keinen Namen, er ist der Patenonkel Antonias, die er geliebt und gefördert hat und für deren Tod er kaum Trost finden kann. Immer wieder hadert er, muss um seinen Glauben kämpfen, der alles andere als selbstverständlich in sein Leben trat. In seiner Person sind deutliche Anklänge an Georges Bernanos auszumachen, fast scheint er eine Verkörperung von dessen Tagebuch schreibendem Landpfarrer zu sein. Die Schilderung seiner plötzlichen Berufung zum Priestertum hingegen erinnert an die zentrale Passage in Bernanos‘ Sous le Soleil de Satan (Die Sonne Satans), er fühlt sich, allein des Nachts auf dem kilometerlangen Heimweg ins Dorf, verfolgt von einer unheimlichen Gestalt, die aber unsichtbar bleibt:

Il a l’impression que quelqu’un le suit. Il se retourne de temps en temps pour scruter les ténèbres. Son cœur s’affole.

Es kommt ihm vor, als würde ihm jemand folgen. Er dreht sich von Zeit zu Zeit um und versucht, die Dunkelheit zu durchdringen. Sein Herz ist wahnsinnig vor Angst.

A son image, S. 101 (Kap. 6)

Tatsächlich ist seine Berufung untrennbar mit dem Tod verknüpft: In ebenjener Nacht, in der Antonias Onkel angst- und ahnungsvoll am Pfarramt vorüberläuft, stirbt der alte Priester. Und die Nachfolge ist mit Schmerz verbunden, der Berufene verlässt seine Freundin und deren Sohn —

il les abandonne tous les deux pour répondre à l’appel d’une voix qui a retenti dans la nuit

er lässt sie alle beide zurück, um dem Ruf einer Stimme zu folgen, die in der Nacht erklungen ist

A son image, S. 103 (Kap. 6)

— und er verlässt später auch seine Heimatgemeinde, um aufs französische Festland zu gehen, nachdem mehrere junge Männer in der Gewaltspirale des korsischen Separatismus zu Tode gekommen sind, obwohl sie sich in der Zwischenzeit vom militanten Kampf abgewendet hatten. Sie zu beerdigen übersteigt seine Kraft.

Die innerliche Zerrissenheit, mit der er sich unablässig auseinandersetzt, macht den Priester zu einer sehr sympathischen, aber zugleich auch tragischen Figur mit einer fast übergroßen Verantwortung, die er in seiner Totenmesse für Antonia anzunehmen versucht. Denn er war es, der Antonia einst die Kamera geschenkt, der sie zu ihrer Berufung hingeführt hatte, an der sie sich ein Leben lang verzweifelt abarbeiten würde. Ihre Suche nach Wahrheit, nach Wahrhaftigkeit ließ sie sich mitten hinein begeben in die Gewalt der Natur, der Menschen, des Krieges — bis sie durch ihre Erfahrung im Jugoslawienkrieg den Glauben nicht nur an Gott, sondern auch an die Fotografie verlor. Ihre Kriegsreportage, die ihr anfangs als langersehnte Erfüllung ihrer mühevollen, oft frustrierenden Fotografen- und Journalistenkarriere erschien, würde sie nie veröffentlichen:

Elle commence à penser qu’elle a vu quelque chose qu’il aurait été infiniment préférable pour elle de ne pas voir parce que maintenant, elle ne peut plus en détourner le regard.

Sie begreift allmählich, dass es für sie unendlich viel besser gewesen wäre, wenn sie das, was sie gesehen hat, nie gesehen hätte, denn jetzt kann sie den Blick davon nie mehr abwenden.

A son image, S. 178 (Kap. 10)

Sie zieht sich aus dem Journalismus zurück und macht von nun an nur noch harmlose Hochzeitsfotos. Ihr Scheitern ist verbunden mit der resignierten Feststellung, dass es nur zwei Arten von Bildern gibt: Entweder sie sind belanglos oder obszön, entweder haben sie zu wenig oder zu viel Bedeutung, entweder sind sie oberflächlich und für die Nachwelt nicht relevant oder aber sie treffen so mitten hinein, dass es pietätlos und grausam wäre, sie zu veröffentlichen.

Eine dritte Möglichkeit des Bildes deutet der Autor mehrmals an, wenngleich die Frage offen bleibt, ob sie letztlich ein unmögliches Unterfangen, eine Utopie darstellt: wenn es dem Bild nämlich gelingt, die Ebene des Todes durch die Ebene der Transzendenz zu durchbrechen, zu sublimieren, so wie im verwundeten Christus das Wunder der Auferstehung durchzuscheinen vermag. Übertragen auf die Fotografie wäre das perfekte Bild dann eines, das eine Offenheit in sich trägt auf etwas, das man nicht sehen und schon gar nicht fassen, sondern nur erahnen kann. Ein solches Bild ist dann aber eigentlich keine Kunst, da es nicht planbar, sondern dem Zufall der Geschichte ausgeliefert ist. Der besondere Moment der Geschichte und der auslösende Moment der Kamera müssen zusammenfallen. Es ist die Geschichte, die dem Bild ihre Bedeutung verleiht. Oder aber man betrachtet die Fotografie ganz einfach als Spur der Geschichte, als Spur eines Lebens:

leur enfance disparue avait pourtant déposé sur la pellicule une trace de sa réalité aussi tangible et immédiate que l’empreinte d’un pas dans un sol d’argile (…) comme si tous les instants du passé subsistaient simultanément, non dans l’éternité, mais dans une inconcevable permanence du présent

ihre verschwundene Kindheit hatte auf dem Film dennoch eine Spur ihrer Wirklichkeit hinterlassen, die ebenso berührbar und unmittelbar war wie der Abdruck eines Schrittes auf einem lehmigen Boden (…) als würden alle Augenblicke der Vergangenheit gleichzeitig fortbestehen, nicht in der Ewigkeit, sondern in einer unvorstellbaren Fortdauer der Gegenwart

A son image, S. 21 (Kap. 2)

Genau das hat schon die kleine Antonia so an den alten Familienfotografien fasziniert, und genau das macht in seiner Bescheidenheit und technischen Imperfektion auch den Reiz ihrer letzten Fotografie aus, auf der sie den Söldner Dragan am Strand von Calvi ablichtet.

Schließlich ist Antonias Geschichte auch als Versuch zu lesen, aus der beengenden und gewaltsamen korsischen Dorfgemeinschaft mit ihrem patriarchalischen Frauenbild auszubrechen. Antonias Leben scheint schon früh vorherbestimmt, lange Jahre ist sie reduziert auf ihre Rolle als „Frau von Pascal B.“, der als Anführer militanter korsischer Separatisten immer wieder im Gefängnis landet, bis sie sich schließlich von ihm löst, um frei zu sein. Sie führt von nun an ein bei weitem selbständigeres Leben als ihre Freundinnen, doch letztlich entkommt auch sie ihrer Herkunft nicht.

Was mir neben der wunderschönen Sprache und der unheimlich anregenden Auseinandersetzung mit dem Wesen des Bildes ganz besonders an diesem Roman gefällt, ist die feinfühlige Art, wie der Autor seine Figuren zeichnet. Er zeigt ihre Schwächen, ihre Ambivalenz und beschönigt nichts, doch verurteilt er sie auch nicht, sondern wagt einen Blick auf sie, der vom Anspruch getragen wird, den innerhalb des Textes die Figur des Priester für sich annimmt: den Nächsten zu lieben, auch wenn es schwer ist:

Si l’amour du prochain était chose aisée, il le sait bien, le Christ n’aurait certes pas pris la peine d’en faire le premier des devoirs.

Wenn die Liebe zum Nächsten eine leichte Aufgabe wäre, das weiß er wohl, hätte sich Christus sicher nicht die Mühe gemacht, sie zur ersten aller Pflichten zu machen.

A son image, S. 105 (Kap. 6)

Ferrari gelingt ein kritisches, aber mitfühlendes „Verstehen“ der Figuren und er zeigt, wie sie geprägt werden durch die Zeit, die Gesellschaft, das System, in dem sie leben. Er zeigt auch, wie manche versuchen auszubrechen und wie schwierig, wenn nicht gar unmöglich das ist, besonders, wenn man sich einmal der Gewalt verschrieben hat, deren Absurdität und schier unaufhaltsame Dynamik ein wiederkehrendes Thema des Autors ist.

Jérôme Ferrari: À son image, Actes Sud 2018
ISBN: 9782330109448

bookmark_borderSylvain Prudhomme: Légende

Ich muss gestehen, ich habe Sylvain Prudhommes Roman ursprünglich vor allem deshalb angefangen zu lesen, weil sein Name meinem französischen Lieblingsdichter Sully Prudhomme so wundersam ähnelt. Mit dem übrigens nobelpreisgekrönten Dichter aus dem 19. Jahrhundert hat der französische Gegenwartsautor Sylvain Prudhomme, Jahrgang 1979, dessen jüngster Roman Par les routes kürzlich mit dem Prix Femina ausgezeichnet wurde, nun wirklich nicht im Mindesten etwas zu tun. Trotzdem habe ich diesem klanglichen Zufall eine wunderschöne literarische Entdeckung zu verdanken.

In Légende, 2016 in Frankreich erschienen, erzählt Sylvain Prudhomme zurückhaltend, feinsinnig und zugleich unheimlich intensiv von einer kargen Landschaft in der südfranzösischen Provinz, und entfaltet ausgehend von diesem lokalen Mikrokosmos eine Geschichte, die letztlich weit über die französische Grenze hinaus- und tief in die Vergangenheit hineinführt.

Getragen und in Bewegung gebracht wird der Roman durch die Geschichte einer noch jungen Freundschaft. Die Familienväter Nel und Matt haben sich über ihre Kinder kennengelernt und durch ihre geteilte Liebe zur Natur einen Draht zueinander gefunden. Nel ist Fotograf und fängt die raue, schroffe Schönheit von La Crau, der Gegend östlich von Arles, in der er aufgewachsen ist, in zahlreichen Landschaftsaufnahmen ein. Auch der Engländer Matt ist dem visuellen Medium verbunden, er plant einen Film über seine südfranzösische Wahlheimat, den er ausgehend von Gesprächen mit ihren Bewohnern, und natürlich auch mit Nel, entwickeln möchte.

In vielen Gesprächen, die Nel bisweilen fast zu intim werden, so dass er sich phasenweise aus der Freundschaft zurückzieht, entsteht so die Geschichte einer vergangenen Epoche voller Intensität, Freiheit und jugendlicher Grenzüberschreitung, deren Kehrseite mit den Begriffen Aids, Drogen, Gewalt und Tod aufwartet. Der Übergang vom Heute ins Gestern, die Rekonstruktion einer Familiengeschichte, die immer wieder sehr persönliche und bilderreiche Einblicke in das Frankreich der achtziger Jahre gibt, gelingt dem Autor dabei auf ganz unauffällige und sehr stimmige Weise.

Man erfährt von Nels Cousins Fabien und Christian, die nicht nur auf den kleinen Nel damals faszinierend gewirkt haben müssen, da sie so frei und anders zu leben schienen als man es in der französischen Provinz kannte. Fabien ist der Intellektuelle, der Selbständige, der Freigeist, der als Kind allein mit seiner Großmutter in Frankreich lebt, während seine Eltern und sein jüngerer Bruder am anderen Ende der Welt Schmetterlinge fangen und klassifizieren. Doch dann erkrankt Fabien an der damals neuen tödlichen Krankheit Aids. Sein Bruder Christian ist auf andere Weise ebenso hungrig nach Leben wie Fabien, er kann seine Leidenschaft für das Abenteuer zeitweise in der Natur ausleben, indem er in die Fußstapfen seines Vaters tritt und in Afrika unbekannten Schmetterlingen nachjagt. Doch lässt sich sein Verlangen allein dadurch nicht stillen, immer wieder provoziert er, wird handgreiflich und verfällt schließlich den Drogen. Ohne auf irgendeine Weise moralisch zu argumentieren, zeichnet Prudhomme ein ambivalentes Bild jener Zeit, er zeigt auch die beängstigende Seite einer Autonomie, die nicht vor Verletzlichkeiten schützt. Beide Brüder werden fast zeitgleich und in sehr jungen Jahren vom Tod eingeholt, der ihr exzessiv aber auch poetisch geführtes Leben grausam beendet.

Fast zwangsläufig, wenngleich eher skeptisch blickt Nel gemeinsam mit Matt auch in die eigene, ganz in der Provinz verankerte Familiengeschichte zurück. Seine Vorfahren lebten als Schäfer und Schafzüchter in enger Verbundenheit mit der Natur ein anspruchsloses, nomadenhaftes Dasein. Sein Vater entschied sich bewusst gegen die Tradition, indem er die Tochter von Landwirten heiratete und von da an einen Bauernhof bewirtschaftete. Doch der Region blieb er treu, genauso wie auch sein Sohn Nel durch seine Landschaftsfotografie der Heimat wie schicksalhaft verbunden bleibt. So führt uns Prudhomme mit seiner Erzählung behutsam vor Augen, dass man seinen Wurzeln trotz neuer Lebensentwürfe nie ganz entkommt.

Die Gegend von La Crau, ob Heimat oder Wahlheimat, ist letztlich auch die eigentliche „Hauptfigur“, das Zentrum, in dem die Geschichten von Nel und Matt, Fabien und Christian zusammenlaufen. Durch den Titel und ebenso auf den ersten Seiten der Erzählung wird diese Landschaft geradezu mythisch aufgeladen. Die Legende von Herakles, der sich hier einst, so wird es von Aischylos in dem nur fragmentarisch erhaltenen Stück Der gelöste Prometheus überliefert, dank einem von Zeus gesandten Steinregen gegen die riesenhaften Liguren verteidigen konnte, wird hier gleichsam als Ursprungsmythos der Region heraufbeschworen (vgl. Valéry Raydon: Le mythe de la Crau).

In der deutschen Übersetzung wurde vielleicht gar nicht zu unrecht der Titel Legenden im Plural gewählt, werden im Text doch weitere Legenden ausgegraben, um die herum sich Geschichten spinnen, wie die der verstorbenen Brüder oder der alten Diskothek, die damals eine Art symbolischer Mittelpunkt für die Jugend von La Crau darstellte. Schließlich taucht der Begriff „légende“ auch im Sinne einer Bildunterschrift auf, als Klassifizierung der von Christian und Onkel André neu entdeckten Schmetterlingsarten und wird auf diese Weise zu einem Symbol des Exotischen, zum Gegenpol der südfranzösischen Steinwüste, die letztlich doch alle Figuren wieder zu sich „nach Hause“ holt.

Die Geschichte ist einfach so wunderschön erzählt, so unaufdringlich und sensibel für die feinen Töne, dass sie ihren ganz eigenen Zauber entfaltet und man bald dem rauen, zerklüfteten Charme der Landschaft und seiner Bewohner verfällt.

Sylvain Prudhomme: Légende, Gallimard Collection Folio (2018)
ISBN: 9782072765124

bookmark_borderPhilippe Lançon: Der Fetzen

Philippe Lançon hat das Attentat auf Charlie Hebdo mit einer schweren Verletzung überlebt. Dieses Überleben macht er zum Thema seiner Aufzeichnungen, deren bisweilen schockierende Offenheit dem Leser sehr nahe geht. Er schildert auf nachdenkliche und sehr feinsinnige Weise die zahlreichen Herausforderungen, vor die ihn die Wiedereingliederung in das „normale“ Leben stellt. Hilfe findet er bei Kafka und Proust, aber auch durch die vielen neuen Bande, die er mit Chirurgen und Personenschützern knüpft. Innen und außen spiegeln sich dabei, sein Gesicht besteht aus ebensolchen Fetzen wie sein neues Leben, das gewaltsam vom alten getrennt wurde. 

Bibliographische Angaben
Philippe Lançon: Der Fetzen, Tropen (2019)
Aus dem Französischen von Nicola Denis, Originaltitel: Le lambeau (Gallimard)
ISBN 9783608504231

Bildquelle
Philippe Lançon, Der Fetzen
© 2019 Tropen im Klett-Cotta Verlag, Stuttgart

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner