bookmark_borderDaniela Krien: Der Brand

Daniela Krien hat schon in ihrem Vorgängerroman Die Liebe im Ernstfall gezeigt, dass sie sich gut in ihre Figuren und deren Beziehungsgefüge hineinzuschreiben versteht. Ähnlich locker und unterhaltsam geht sie auch in Der Brand wieder Männer- und Frauenrollen in unserer Gesellschaft auf den Grund, die sie von Vorurteilen und Klischees, auch solchen scheinbar progressiven Charakters, befreit. Diesmal steht eine Frauenfigur, die etwa 50jährige Rahel, im Vordergrund, aus ihrer Perspektive wird die Geschichte, die sich auf zwei intensiv erlebte Wochen konzentriert, in erzählerisch einnehmender Weise empfunden und erzählt.

Eigentlich war ein Urlaub an einem romantischen Idyll in den bayerischen Alpen geplant, doch der titelgebende Brand macht dieses Vorhaben kurzerhand zunichte. Da dieser Brand nicht erzählt wird und nur der Ausgangspunkt der Geschichte ist, die Rahel mit ihrem Mann Peter stattdessen zu einem ungeplanten Urlaub in die Uckermark führt, wo sie Haus und Hof einer langjährigen mütterlichen Freundin hüten sollen, liegt es nahe, darin eine Metapher zu sehen: eine Metapher für die Befindlichkeiten und existenziellen Nöte der Figuren. Zwischen diesen Begrifflichkeiten ist die Grenze hier nicht immer klar umrissen, sie immer wieder umzuwerfen, von neuem auszuloten, ist ein wichtiges Anliegen der Autorin sowie ihrer Erzählerin in diesem Buch.

Nicht zufällig macht Daniela Krien die Erzählerin zur Psychotherapeutin, ihren Mann zum Literaturwissenschaftler. Und konfrontiert ihre beruflichen und intellektuellen Perspektiven dann immer wieder mit dem gelebten Leben. Es geht um das Selbstverständnis und Zusammenleben als Paar nach 30 Jahren Ehe, um das Verhältnis zu den inzwischen erwachsenen Kindern, zu gesellschaftlichen Diskursen, von denen man sich entfremdet fühlt, zur ostdeutschen Vergangenheit, um die schmerzhafte Hinterfragung der eigenen Rolle als Mutter, als Tochter, als Frau, und immer wieder um den Platz, den man als Individuum in einer Gesellschaft einnimmt, die sich für einen selbst spürbar verändert hat.

Das stimmt immer wieder nachdenklich, lässt aber dank des selbstkritischen Charakters der im Vergleich zu ihrem bedachtsamen Ehemann recht impulsiven Erzählerin sowie dank des Talents der Autorin, Situationen der Konfrontation mit Humor zu schildern, genug Raum für eine Form der Leichtigkeit, die auch den schweren Ereignissen und Erfahrungen im Leben, den Bränden des Körpers und der Seele, mehr als nur einen Funken Lebensmut abzugewinnen versteht.

Bibliographische Angaben
Daniela Krien: Der Brand, Diogenes 2021
ISBN: 9783257070484

Bildquelle
Daniela Krien, Der Brand
© 2021 Diogenes Verlag AG, Zürich

bookmark_borderRobert Seethaler: Das Café ohne Namen

Robert Seethaler widmet sich in seinem neuen Buch wieder ganz den kleinen Leuten, den einfachen Menschen aus dem Volk, den Marktleuten und Fabrikarbeiterinnen, den Obdachlosen, brotlosen Künstlern und Kriegswitwen. Sie alle sind in dieser zarten Erzählung, der die Vergänglichkeit fast auf jeder Seite eingeschrieben ist, Verirrte oder Gestrandete: in einer vergangenen Zeit, dem Wien der 60er, 70er Jahre, und an einem namenlosen Ort, dem titelgebenden Café ohne Namen.

Dieses Café, das Robert Simon, der sich zuvor auf dem Markt mit Gelegenheitsarbeiten verdingt hat, in Erfüllung seines Lebenstraumes neu eröffnet, ist eigentlich kein Café, zumindest nicht im Sinne eines mondänen Kaffeehauses, sondern eher eine kleine bescheidene Wirtsstube mit Sommerterrasse und nur einer Bedienung, der jungen, zupackenden Mila, die vom Land kommt und ihrerseits im Café gestrandet ist, nachdem sie ihre Stelle in der Fabrik verloren hat.

Bescheidenheit und Unaufgeregtheit charakterisieren aber nicht nur die durchaus aufgewühlten und vom Schicksal gebeutelten Hauptfiguren, die mit einer Art radikalen Akzeptanz wie ein moderner Sisyphus ihren Fels immer wieder nach oben rollen und ihr Leben leben, sondern auch den Ton der Erzählung. All die Schicksale, in die man als Leser eintaucht wie in ein unbeabsichtigt belauschtes intimes Gespräch am Nebentisch eines Cafés, berühren in ihrer innewohnenden Traurigkeit, ohne einen jedoch deprimiert zurückzulassen. Denn in fast all diesen so einfachen Leuten, ob derb, skurril, verwirrt, verrannt oder sonstwie versehrt, ahnt man eine „verborgene Zärtlichkeit“, um den treffenden Ausdruck einer der Figuren zu verwenden. Diese ist auch der in ihrer scheinbaren Schlichtheit doch so gefangen nehmenden Schreibweise Seethalers eigen, dessen Erzähler verborgen ist, hinter seinen Figuren ganz zurücktritt, um ihnen momenteweise auf eine doch fast zärtliche Weise nahe zu kommen, ehe er sie wieder in das unaufhaltsame Wirken der Geschichte, in das unerbittliche Räderwerk der Zeit, entlässt.

Bibliographische Angaben
Robert Seethaler: Das Café ohne Namen, Claassen 2023
ISBN: 9783546100328

Bildquelle
Robert Seethaler, Das Café ohne Namen
© 2023 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

bookmark_borderMartin Suter: Melody

Was für Robert Seethaler das Leben der einfachen, kleinen Leute ist, das sind für Martin Suter die gehobenen Milieus, in denen seine Romane mit Vorliebe spielen. Bei der Schilderung dieser Welten, in denen Champagner fließt, die Anzüge maßgeschneidert sind und die Dialoge elegant, hat Martin Suter sichtlich eine große Freude, genauso wie darin, in diese so geglätteten Oberflächen feine Risse einzuweben, die sich mit Hintersinn füllen lassen.

Auch in Melody werden im Hause, nein, in der Villa des ehemaligen Weltmannes Dr. Peter Stotz edle Tropfen kredenzt, köstliche Gerichte von einer ergebenen italienischen Köchin serviert und die Millionen ebenso wie die edlen Oldtimer an die Erben vermacht. Was außerdem vermacht werden soll, ist die Deutungshoheit über das Leben des in Politik- und Finanzkreisen berühmt und reich gewordenen Dr. Stotz, der kurz vor seinem absehbaren Tod einen jungen Juralangzeitstudenten gegen Kost und Logis und ein immenses Honorar engagiert, seinen Nachlass zu sichten und für die Nachwelt zu ordnen. In vertraulichen Kamingesprächen offenbart er dem jungen Mann nach und nach den Teil seiner Lebensgeschichte an, der in dem zu sichtenden Ordnerchaos eine Leerstelle bleibt — seine große, verlorene Liebe zu einer Frau, die sich Melody nannte, die er in einer Buchhandlung kennenlernte und die kurz vor der geplanten Heirat scheinbar spurlos verschwand. Diese wie ein Feuilletonroman von Kamingespräch zu Kamingespräch fortgesetzte Liebesgeschichte baut Suter als zweite Erzählebene in seinen Roman ein, der natürlich gegen Ende auch noch in eine dritte mündet, in der alle Gewissheiten der ersten und zweiten erschüttert werden. In dem Wein, der im Hause Stotz eingeschenkt wird, liegt weniger die Liebe zur Wahrheit als zur Fiktion, mit der Suter, wie seine immer zwielichtigere Hauptfigur, sein fiktionsironisches Spiel treibt.

Das alles liest sich unbestreitbar süffig wie die Spirituosen in der Villa Stotz, auch wenn mir, im Vergleich mit früheren Romanen wie Elefant oder Small World, ein wenig die thematische Komplexität gefehlt hat. Es ist dann doch eine sehr selbstreferentielle Erzählung geworden, eine Feier der Fiktion, in der Lebenslügen und Liebesfluchten zur intelligenten Unterhaltung der Leser gesponnen werden.

Bibliographische Angaben
Martin Suter: Melody, Diogenes 2023
ISBN: 9783257072341

Bildquelle
Martin Suter, Melody
© 2023 Diogenes Verlag AG, Zürich

bookmark_borderTomasz Jedrowski: Im Wasser sind wir schwerelos

Du hast mich auf eine Weise angesehen, die mir das Gefühl gab, nicht beurteilt zu werden. Im Leben begegnen wir nicht vielen Menschen, die uns dieses Gefühl geben.“ Dieses Du, diese so intime Anrede des Erzählers, die für einen Moment auch etwas Irritierendes hat, als öffne man einen nicht für einen selbst bestimmten Brief, nimmt einen doch von der ersten Seite an gefangen und trägt einen hinein in eine Geschichte, in der Persönliches und Historisches sich auf eben sehr intime Weise miteinander verbinden. Der Erzähler richtet sich, wie im Laufe der Geschichte klar wird, an seinen Geliebten Janusz, und stellt mit dieser zumindest ungewöhnlichen Erzählhaltung eine Reminiszenz an den Autor James Baldwin her — dazu weiter unten noch mehr.

Im Wasser sind wir schwerelos ist der Debütroman von Tomasz Jedrowski, der als Kind polnischer Eltern in Westdeutschland aufgewachsen ist, in Cambridge und Paris studiert hat und heute in Paris lebt. Sein Erzähler Ludwik ist freilich eine fiktive Figur, doch kehrt er mit ihr gewissermaßen zurück in das Osteuropa seiner Vorfahren, in ein Polen, das in den 1980er Jahren einen Kampf zwischen rigoroser kommunistischer Staatspolitik und revolutionärer Sehnsucht nach Freiheit und Demokratie ausfocht. Im Roman wächst Ludwik in Breslau bei Mutter und Großmutter auf, seine Kindheit ist von Geheimnissen umwoben, wie das heimliche Radiohören zuhause, und von einem tiefen Verlustgefühl geprägt; er wächst ohne Vater auf, die Mutter stirbt früh, sein jüdischer Freund Beniek, in den er sich verliebt, ist eines Tages von heute auf morgen verschwunden; die Zusammenhänge werden Ludwik erst im Nachhinein klar, die Unruhen im Land und die Repressionsmaßnahmen der Partei, für die die jüdische Bevölkerung ein willkommener Sündenbock ist.

Deshalb war Benieks Familie fortgezogen. Nachdem sie weg waren, sprach niemand mehr über sie. An einem Tag ist es dein Land und am nächsten nicht mehr.
Benieks Abreise bedeutete das Ende meiner Kindheit und meines kindlichen Denkens: Es schien, als hätte sich alles, wovon ich vorher ausgegangen war, als falsch erwiesen […].

Tomasz Jedrowski, Im Wasser sind wir schwerelos

Ludwik geht zum Studium nach Warschau, vertieft sich heimlich in die Lektüre von James Baldwins Roman Giovannis Zimmer und lernt bei einem verpflichtenden Landwirtschaftshilfsprogramm Janusz kennen, der ihn fasziniert und der zugleich ein Seelenverwandter und so anders ist als er. Janusz kommt vom Land und sein größter Wunsch ist es, sozial aufzusteigen und sei es um den Preis der Anpassung an das System, während Ludwik seine Ideale, vor allem seinen Wunsch nach Freiheit, nicht verraten will. Ihre Liebe ist eine Zeit lang leicht und wunderbar, doch der nur schlecht verdrängte weltanschauliche Konflikt kommt an unvermuteter Stelle immer wieder an die Oberfläche. Was Ludwik während seiner Promotion in Warschau erlebt, schürt seine Gewissenskonflikte weiter an; die von oben gesteuerte Ernährungspolitik, die Schlangen vor den Geschäften, der Hunger, der Aufstand der Landwirte, ebenso wie das Versteckspiel seiner Liebe zu Janusz, all das lässt ihn zweifeln, ob es für ihn mit seinem Gewissen vereinbar ist, in einem Land zu bleiben, in dem er sich in jeder Hinsicht verbiegen und verstellen muss. Womit er sich in seiner Doktorarbeit über den schwarzen Schriftsteller Baldwin philosophisch auseinandersetzt, nämlich mit dem Versuch, innerhalb eines repressiven Systems eine äußerste gedankliche Freiheit zu erreichen, erscheint ihm in der eigenen Realität unmöglich.

„Komm mit mir“, flüsterte ich. „Es ist nicht zu spät. Wir könnten gehen, ohne dass jemand davon weiß, über die Berge in die Tschechoslowakei, dann weiter nach Österreich. Dort kennt uns niemand.“
„Wir hätten nichts“, kam es unter deinen Händen hervor. „Wir sprechen nicht die Sprache. Wir wären verloren.“
„Wir wären frei.“
Das Zimmer war so erfüllt von uns, von den geballten Wolken unserer Worte, dem Nebel unserer Gedanken.

Tomasz Jedrowski, Im Wasser sind wir schwerelos

Eins mit sich sein, ein Mensch sein, das bleibt im sowjetischen Satellitenstaat eine Utopie für Ludwik. Jedrowski gibt dieser Sehnsucht seiner Hauptfigur mit einer stark verdichteten Schreibweise seines Romans Ausdruck, in einer Art neuem poetischem Realismus.

Ich akzeptierte die Verbindung zwischen der Erde und meinem Körper, ich ließ los, und zum ersten Mal in meinem Leben honorierte ich alles als das, was es war, betrachtete es als Wunder. Ich sah die Erde als Erde, meine Hände als Hände, die Pflanzen, aus denen Samen wuchsen, die anderen um mich herum, alle mit ihren eigenen Rechten, Träumen und Innenleben.

Tomasz Jedrowski, Im Wasser sind wir schwerelos

Neben der nur augenblicksweise erspürten Verbundenheit mit der Erde ist auch das Element des Wassers von besonderer Bedeutung für Ludwik. In ihm kristallisiert sich die für den Roman zentrale Metapher der Schwerelosigkeit, die sich wie zur Probe mit den verschiedenen Elementen verbindet.

Ich dachte dann an unseren gemeinsamen Sommer, an die Unbeschwertheit, mit der wir durch den See geschwebt waren. Wenn ich schwamm, löste ich mich im Wasser auf, und aus den Tiefen meiner Erinnerung tauchte etwas in mir auf.

Tomasz Jedrowski, Im Wasser sind wir schwerelos

Diese Leichtigkeit im Wasser, das Gefühl von Vertrauen und Freiheit, verbindet er mit seiner früh verstorbenen Mutter, und er erfährt sie erneut, als er Janusz weitab von den anderen in der Hitze des Sommers und der gegenseitigen Anziehungskraft beim Baden im Fluss begegnet. Aber auch die riskante Schwerelosigkeit der herabsegelnden Flugblätter, die er als Akt des äußersten Widerstands, den er im System zu leisten imstande ist, und die betäubende Schwerelosigkeit der Rauschmittel, die er mit Janusz‘ Freunden einnimmt, sind Varianten derselben Metapher.

Schließlich noch ein Wort zur Intertextualität des Romans, die nicht nur eine inhaltliche, sondern auch eine sprachliche ist. Jedrowski bezieht sich explizit auf James Baldwin, indem er parallel zum Erwachen von Ludwiks Liebe zu Janusz seine intensive Leseerfahrung des amerikanischen Schriftstellers schildert. Die Darstellung einer homosexuellen Liebe in einem feindseligen gesellschaftlichen Umfeld ist teilweise bis in die Details eine deutliche Reminiszenz an Baldwins Roman Giovannis Zimmer (vgl. Rezension vom 09.07.2020). Besonders auffällig ist die in beiden Texten gewählte Erzählsituation eines unmittelbaren Rückblicks, der auf die Du-Form zurückgreift, und mit einer nachdenklichen, selbstbefragenden Schreibweise einhergeht, einer Gewissenserforschung, die einen großen Schmerz bereithält, den Schmerz der Liebe und der Erkenntnis ihrer Ausweglosigkeit in einer als unaufrichtig empfundenen Daseinsform. Auch der poetisch-melancholische Stil, der einen Realismus der Sprache nicht ausschließt, hat mich sehr an Baldwins Roman erinnert, den er zitiert, ohne ihn bloß zu imitieren. Denn Jedrowski gelingt über alle Ähnlichkeit hinaus zum Glück ein eigenständiger Stil, der Im Wasser sind wir schwerelos zu einer neuen und sehr lesenswerten Antwort auf Giovannis Zimmer macht. Hier ein abschließendes Textbeispiel:

Du hast mich auf eine Weise angesehen, die mir das Gefühl gab, nicht beurteilt zu werden. Im Leben begegnen wir nicht vielen Menschen, die uns dieses Gefühl geben. Und dennoch hatte ich an jenem Abend Angst, als ich im Bett lag und las […]. Angst wegen des Lochs, das durch mein Vertrauen in dich entstanden war, Angst vor der Verletzlichkeit, die es geschaffen hatte. […] Vor mir lag schwarz auf weiß die Unermesslichkeit der Lügen, die ich mir all die Jahre eingeredet hatte, gespiegelt im Leben des Erzählers, […] als würde meine Scham von einem kalten, klaren Licht beleuchtet. […] Seine Angst schürte meine Angst. Ich war wie David [die Hauptfigur aus Giovannis Zimmer], weder hier noch dort, fühlte mich nirgendwo wohl und sah keinen Ausweg.

Tomasz Jedrowski, Im Wasser sind wir schwerelos

Bibliographische Angaben
Tomasz Jedrowski: Im Wasser sind wir schwerelos, Hoffmann und Campe (2021)
Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Jakobeit
ISBN: 9783455011173

Bildquelle
Tomasz Jedrowski, Im Wasser sind wir schwerelos
© 2021 Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg

bookmark_borderZeruya Shalev: Schicksal

Sie könnten Mutter und Tochter sein: Atara, auf die 50 zugehend, Mutter von zwei gerade erwachsenen Kindern, die mit ihrem zweiten Ehemann in Haifa wohnt und denkmalgeschützte Häuser restauriert, und Rachel, eine 90jährige ehemalige Widerstandskämpferin gegen die britischen Besatzer in Israel, die in Jerusalem wohnt und zu ihren beiden längst erwachsenen Söhnen ein kompliziertes Verhältnis hat. Die beiden könnten Mutter und Tochter sein, aber das Schicksal hat es anders gewollt.

Trotzdem sind die beiden Frauen, ohne es zu wissen, seit langem miteinander verbunden, über einen Mann namens Menachem, kurz Meno: Meno ist Ataras Vater, zu dem diese eine schwierige Vater-Tochter-Beziehung hatte, und er war Rachels große Liebe, ihr Freund und Schicksalsgefährte im gemeinsamen Untergrundkampf, mit dem sie für ein kurzes Jahr verheiratet war, bevor sie die Ehe wieder lösten, schmerzhaft getrennt durch eine als übergroß empfundene Verantwortung für ein tragisches Verhängnis, das der Zufall zum Schicksal gemacht hat, zu einem Schicksal, das Meno nicht ertrug.

Nach Menos Tod begegnen sich die beiden Frauen und kommen sich näher, doch ihre Annäherung ist ein schwieriger Prozess, geprägt von Ängsten und Vorbehalten, aber auch von Neugier und dem Wunsch endlich zu verstehen. Bis das Schicksal mitten in diesem sensiblen Prozess der Annäherung und Aufarbeitung erneut zuschlägt.

Das mag nach Stoff für einen pathetischen Familien- und Beziehungroman klingen, ist aber ganz wunderbar geschrieben, bewegend und einfühlsam, ohne Kitsch und künstliches Drama. Vor allem bekommt man viel mit von der Geschichte und Gesellschaft Israels, dieses so besonderen Landes, von den Flüchtlingen und Exilanten, der Besatzung, der Siedlungspolitik, dem orthodoxen Judentum, dem Militärdienst.

Shalevs Roman ist aber auch eine Charakterstudie, sie geht in ihrem dicht gewobenen Text dem menschlichen Verhalten in Krisensituationen auf den Grund, und sie spürt den subtilen, unterschwelligen Gefühlsschwankungen und Komplikationen im ganz alltäglichen und doch verwickelten Familienleben nach. Ganz nah kommt einem besonders Atara, die jüngere der beiden Frauen, deren Vorstellungs- und Gefühlswelt in vielen Nuancen geschildert wird; man merkt, dass sie, ihr Arbeits-, Ehe- und Familienleben, der Autorin noch näher ist als die Greisin Rachel, deren Vergangenheit schon Teil der israelischen Geschichte ist.

Im Hörbuch erlebt man die Gedanken und Gefühle der beiden Frauen, die im Wechsel zu Wort kommen, dank der beiden tollen Sprecherstimmen von Maria Schrader und Eva Meckbach ganz intensiv. Gerade Ataras turbulentes Innenleben — ihre Selbstkritik, ihre Liebe, ihre Wut –, das immer wieder von bedachteren Momenten und Gedanken abgelöst wird, ist fesselnd zu hören und Ergebnis einer guten Regie — und einer beeindruckenden Buchvorlage!

Bibliographische Angaben
Zeruya Shalev: Schicksal, Piper 2022
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
ISBN: 9783492319294

Hörbuch: Hörbuch Hamburg HHV GmbH 2022
Gesprochen von Maria Schrader und Eva Meckbach
ISBN: 9783869524801

Bildquelle
Zeruya Shalev, Schicksal
© 2022 Piper Verlag GmbH, München

bookmark_borderSylvie Schenk: Maman

Die berühmteste Maman der Literaturgeschichte findet sich wohl bei Marcel Proust, der den jeden Abend so sehnsüchtig erwarteten und ob seiner Vergänglichkeit gefürchteten mütterlichen Gutenachtkuss zum emotionalen Zentrum der verlorenen Kindheit seines Erzählers macht. Die Beziehung zur Mutter, die bei Proust, zwischen Liebesbedürfnis und Sich-Entziehen, auch ein Grundmuster des gesamten Romanwerks darstellt, scheint überhaupt ein wiederkehrendes Thema der Literatur zu sein, auch Simone de Beauvoir oder Annie Ernaux haben zum Beispiel inspirierende literarische Texte aus diesem ursprünglich ja zutiefst biographischen Stoff gemacht. Auffällig ist dabei der Zusammenhang zwischen dem Tod der Mutter und der Motivation zum Schreiben — Gleiches gilt auch für Sylvie Schenk und ihren neuen Roman Maman.

Das Verhältnis der schon lange in Deutschland lebenden französischen Autorin zu ihrer Mutter war ein vielleicht noch ambivalenteres; im Gegensatz zu Prousts Erzähler schildert sie keine Erinnerungen an vergleichbare intime Momente mit ihrer in Romangestalt verwandelten Maman. Dieses Fehlen von Warmherzigkeit und Innigkeit in der Beziehung zu ihrer Mutter, die immerhin fünf Kinder großgezogen hat, wird, so lese ich den Text, zum Antrieb der Autorin für ihr Schreiben. Sylvie Schenks Erzählerin schreibt erkundend, erkundet schreibend die Vergangenheit ihrer Familie und ihr Nachwirken auf die Gegenwart. Sie streift das Leben, die gescheiterten Beziehungen und die Mutterschaft ihrer Schwestern, vor allem aber rekonstruiert sie das Leben ihrer Mutter, Renée, und ihrer Großmutter, Cécile. Dabei stößt sie auf viele Leerstellen, zum einen, weil sie, wie es das nur zum Teil selbstverantwortete Schicksal der meisten Kinder ist, nicht rechtzeitig danach gefragt hat, zum anderen war ihre Mutter aber auch alles andere als gesprächig in Bezug auf die Vergangenheit und sich selbst. Noch weniger Worte hatte die Mutter ihrer Mutter, die unmittelbar nach der Geburt ihrer Tochter gestorben war. So ist es fast folgerichtig, dass Sylvie Schenk nicht in ihrer Muttersprache schreibt, in ihrer französischen „langue maternelle“, als ob es für diese Geschichte gar keine solche gibt.

Genauso folgerichtig ist es, dass dieses Buch, dass die Geschichte ihrer Familie erzählt, nur bedingt dem Genre der Autofiktion angehört, nämlich nur mit besonderem Fokus auf das Element der Fiktion. Die Erzählerin lässt mehrfach verschiedene Versionen oder Interpretationen zu, am deutlichsten im Falle der vermuteten kurzen Liebesaffäre ihrer Mutter während der Kriegsjahre, infolge derer sie ihren Verlobungsring verpfändet hatte und vorübergehend vor ihrer Ehe und Familie geflüchtet war. Verschiedene kursierende Gerüchte werden skizziert oder angedeutet, von denen sich die Autorin zwar bewusst für eine Version, die ihr für ihre Fiktion am geeignetsten erscheint, entscheidet, ihr Vorgehen aber zugleich offenlegt. Ihre Rekonstruktion der Vergangenheit ist letztlich eine fiktive, und es entsteht ein sehr lebendiger Text, romanesk, mitreißend, und zugleich einordnend und reflektierend, so dass trotz der schicksalsreichen Lebensgeschichte(n) an keiner Stelle Rührseligkeit aufkommt, sehr wohl aber Mitgefühl.

Ihre Mutter Renée, auf französisch die „Wiedergeborene“, wurde in Lyon als Tochter einer einfachen Arbeiterin geboren, die als Zubrot wohl auch ihren Körper verkaufte und infolge ihrer dritten Geburt noch im Krankenhaus starb. Die kleine Waise wuchs die ersten sechs Jahre ihres Lebens unter wie man heute sagen würde traumatischen Bedingungen auf. Es war die Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, ein Paar auf dem Land, das seinen Sohn im Krieg verloren hatte, nahm Renée gegen Geld bei sich auf. Allem Anschein nach, das heißt, der spärlichen Aktenlage zufolge, wurde sie dort vernachlässigt, ausgebeutet und wohl auch misshandelt und missbraucht, ehe sie zurück nach Lyon kam, zu Pflegeeltern, die sie, als das gesetzlich möglich war, auch adoptierten. Die plötzliche, bis dahin unbekannte Zuwendung und Liebe, die sie von ihren neuen Eltern bekommt, kann das kleine Mädchen, emotional überfordert, gar nicht richtig einordnen; auch in der Schule und mit ihren Mitschülern tut sie sich schwer. Sie heiratet jung, bekommt insgesamt fünf Kinder, während und nach dem Zweiten Weltkrieg, und scheint erst ein wenig Erleichterung in ihrem Leben zu verspüren, als die ehelichen Pflichten nach der Geburt des letzten Kindes an Bedeutung verlieren.

Sylvie Schenk zeichnet das Leben ihrer Mutter als das einer Frau, einer Gattin, einer Mutter nach, und dabei öffnet sich die traurige individuelle Geschichte Renées auf einen größeren Horizont von weiblichen Daseinsformen, deren Vielfalt auch die Frage nach dem Grad der Schicksalshaftigkeit, der historischen und gesellschaftlichen Gebundenheit, und der Freiheit, des individuellen Spielraums, aufkommen lässt. So wie sich auch Schenks Roman nur als eine Lesart, eine Annäherung an das Leben der Mutter versteht. Vor allem soll die Geschichte der Mutter keine Opfergeschichte werden, als Protagonistin von Schenks Roman wird sie weder verurteilt noch freigesprochen.

Einnehmend sind besonders Sprache und Stil, in dem die Autorin ihren Text verfasst hat; dass sie nicht in ihrer französischen Muttersprache schreibt, verleiht ihr ein anderes Gespür für die Sprache und ihre Wendungen, wie man das im Übrigen immer wieder bei Schriftstellern beobachten kann — die Dramatiker des absurden Theaters, Beckett, Ionesco, und ihre sprachlichen Dekonstruktionen fallen einem hier sofort ein. So weit geht Sylvie Schenk freilich nicht, aber ihr offener, direkter, unverklemmter, jugendlich sprudelnder Stil, der trotzdem sensibel und feinsinnig ist, machen Maman zu einem mehr als lesenswerten Text.

Bibliographische Angaben
Sylvie Schenk: Maman, Hanser 2023
ISBN: 9783446276239

Bildquelle
Schenk, Maman
© 2023 Carl Hanser Verlag, München

bookmark_borderAyelet Gundar-Goshen: Wo der Wolf lauert

Die größte Unbekannte in unserem Leben sind unsere Kinder“, so eine Romanfigur in Ayelet Gundar-Goshens aufwühlendem vierten Roman „Wo der Wolf lauert“. Elternschaft ist, wenn auch nicht das einzige, so doch das in meinen Augen zentrale Thema dieses vielschichtigen Textes, der Familien- und Gesellschaftsroman ist und stark mit Spannungselementen arbeitet. Die israelische Autorin, die auch als Psychologin tätig ist, erforscht hier auf literarische Weise das Thema der zwischenmenschlichen Beziehungen in vielen Variationen.

Erzählt wird die Geschichte durchgehend aus der Perspektive der israelischen Jüdin Lilach Schuster, Mutter des Teenagers Adam und Ehefrau von Michael, mit dem sie als junge Frau aus Israel in die USA ausgewandert ist. Man erhält einen intimen Einblick in ihr Leben als Familie sowie in Lilachs Hoffnungen, Ängste, Sorgen und Wertvorstellungen — als Frau, als Mutter, als Ausgewanderte. So erfährt man, dass sie damals mit ihrem Mann die gemeinsame Heimat verließ, weil dieser ein überzeugendes Jobangebot in Amerika bekommen hatte; Lilach hingegen gab ihren eigenen Beruf auf und arbeitet nun mehr oder weniger ehrenamtlich als Kulturbeauftragte in einem Altenheim – das Thema der sozialen Rollen scheint im ganzen Roman immer wieder durch. Mit dem Ortswechsel war für sie aber auch die Hoffnung auf ein friedlicheres Leben verbunden, darauf, das eigene Kind fern der gewaltsamen Konflikte im Nahen Osten aufwachsen zu sehen. Umso größer ist der Schock, als — und hier setzt die Romanhandlung ein — ihr scheinbar so beschauliches und weltoffenes Palo Alto im Silicon Valley von einem Anschlag auf eine Synagoge erschüttert wird. Und der Täter ist ausgerechnet ein Schwarzer. Kurz darauf stirbt ein schwarzer Junge auf einer Party, auf der auch Lilachs Sohn Adam zugegen war. Als wenn das nicht ohnehin schon das Leben der jüdischen Familie in Aufruhr versetzen würde, drängt sich der Ich-Erzählerin mehr und mehr ein schrecklicher Verdacht auf: Hat ihr Junge, ihr geliebtes Kind, ihr Sohn, der heftige Prügel von tierquälenden Altersgenossen eingesteckt hat, um einem kleinen unansehlichen Straßenhund das Leben zu retten, etwas mit dem Tod seines schwarzen Mitschülers zu tun?

Der Roman ist ein hörbares Echo auf Antisemitismus und Black Live Matters, doch er enthält sich jeder vereinfachenden Eindeutigkeit, dringt vielmehr tief und mit psychologischem Feinsinn in die widersprüchlichen und nicht weniger gewaltsamen Grauzonen der in unserer Zeit fortwährend schwelenden gesellschaftlichen Konflikte ein. Wer ist Opfer, wer ist Täter — ohne etwas zu verharmlosen, zeigt die Autorin mit ihrer Geschichte, dass beide Begriffe fließend und ungenau sind, ohne klare Linien. Dass das nicht leicht zu akzeptieren ist, wird an ihren Romanfiguren deutlich; Adams Vater Michael, der wie seine Frau durchaus sympathisch gezeichnet ist, sein Vatersein auf seine Weise ebenso ernst nimmt wie Lilach ihr Muttersein, vertritt die Meinung, jeder sei entweder Täter oder Opfer und bleibe dies ein Leben lang, weshalb er seinen Sohn, der im Kindergarten von anderen Kindern malträtiert wird, dazu erziehen will, sich zu behaupten und lieber selbst zu schlagen als sich schlagen zu lassen. Diese Weltsicht ist ihrerseits das Ergebnis von Michaels eigener Biographie, seiner Herkunft und sicher auch der Prägung durch das kollektive Trauma seiner jüdischen Vergangenheit. Doch Adam lässt sich nicht so einfach verbiegen, er ist ein zurückgezogener Junge, der lieber Schach spielt und in seinem eigenem Chemielabor experimentiert als Sport zu machen oder Partys zu feiern, und der auch in der High School gemobbt wird. Bis der Anschlag auf die Synagoge passiert, bis er auf Drängen seines Vaters an einem Selbstverteidigungskurs teilnimmt, der von dem fast rattenfängerhaft charismatischen Israeli Uri geleitet wird, und bis kurz darauf sein schwarzer Mitschüler stirbt…

Die Erzählperspektive der Mutter Lilach ist sehr überzeugend gestaltet. Sie ist diejenige, die nach der Wahrheit sucht, die, auch wenn es weh tut, Fragen stellt, Indizien nachgeht und auf ihr Bauchgefühl hört, die Gedanken und Spuren zu folgen wagt, denen man als Mutter eigentlich nicht folgen möchte. Vor allem versucht sie, in all den aufwühlenden Ereignissen ein Mensch zu bleiben, mitfühlend und im Wissen darum, dass auch sie nicht frei von Irrtümern ist. Auch die anderen Charaktere sind lebendig und plastisch dargestellt, wobei das Interesse der Autorin vor allem auf dem sozialem Gefüge liegt, das sie gekonnt aus den individuellen Geschichten der Figuren und ihrer Beziehungen zueinander aufscheinen lässt.

Gruppenzugehörigkeiten sind im Amerika von heute, in dem der Roman spielt, als gesellschaftliche Diskurse natürlich omnipräsent und prägen auch das Selbstverständnis und das zwischenmenschliche Verhalten der Figuren, werden zugleich aber in ihrer Neigung zur Reduktion und zur Pauschalisierung hinterfragt. Auch der damit eng zusammenhängende Täter-/Opferdiskurs wird auf vielschichtige Weise und, genauso wie das Thema der Elternschaft, in verschiedenen Konstellationen aufgegriffen und durchgespielt. So sind die beiden Opfergruppen, „die Juden“ und „die Schwarzen“ in den beiden kurz aufeinander folgenden Gewalthandlungen nacheinander und wechselweise „Opfer“ und „Täter“. Die Anführungszeichen verraten es — auch diese Zusammenfassung wäre zu kurz gegriffen.

Der Roman, der in der Hörbuchfassung von Milena Karas (synchron)filmreif gesprochen wird, löst vieles bei seinem Leser aus, Mitgefühl, Empörung, Bestürzung, Erkenntnis, aber auf keinen Fall die Anmaßung eines endgültigen oder einziggültigen Urteils. Ein fesselndes Porträt unserer gegenwärtigen Gesellschaft und eine einfühlsame und intelligente Analyse der komplexen Zusammenhänge von Biographien, Diskursen und eigenem Handeln.

Bibliographische Angaben
Ayelet Gundar-Goshen: Wo der Wolf lauert, Kein & Aber 2021
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
ISBN: 9783036958491 [Taschenbuch: Kein & Aber 2022, ISBN: 9783036961477]

Hörbuch: Argon Verlag AVE GmbH 2021
Gesprochen von Milena Karas
ISBN: 9783839819364

Bildquelle

Ayelet Gundar-Goshen, Wo der Wolf lauert
© 2022 Kein & Aber AG, Zürich, Berlin

bookmark_borderKatja Petrowskaja: Vielleicht Esther

Mit der Geschichte „Vielleicht Esther“ gewann Katja Petrowskaja 2013 den Ingeborg-Bachmann-Preis. 2014 erschien der Text in einem um weitere Geschichten erweiterten Buch mit demselben Titel, 2022 ein von Meike Rötzer gelesenes Hörbuch. Die Autorin geht darin auf Spurensuche, recherchiert in ihrer eigenen jüdisch-ukrainischen Familiengeschichte und taucht auf eine zugleich sehr persönliche, essayistische und dokumentarische Weise tief in die Vergangenheit der Sowjetunion und eigentlich ganz Europas ein. 

In den aufeinander folgenden Geschichten rekonstruiert Katja Petrowskaja das Leben, die Schicksale vieler verschiedener Verwandter mütterlicher- und väterlicherseits, doch tut sie das nicht als epische Erzählerin einer Familiensaga, sondern als Suchende, Fragende, als eine, die begreifen will, was sich immer wieder als nicht begreifbar herausstellt, die die zahlreichen Leerstellen der Vergangenheit zu ergründen sucht, und diese, wo dies nicht möglich ist, auch als solche belässt, anstatt sie fiktional zu füllen. Denn trotz ihrer emsigen Recherchearbeit, ihrer Reisen nach Warschau, Kiew und Mauthausen, verbirgt sich die Wahrheit ihrer eigenen Familiengeschichte und genauso auch der Geschichte im Großen, der Geschichte der Juden, der Menschen im 20. Jahrhundert, immer wieder hinter Unklarheiten und Widersprüchen. Oder ist die Wahrheit manchmal nichts anderes als Unklarheit und Widersprüchlichkeit?

Es entsteht ein immer dichter gewebtes Netz von Geschichten, das sich der auch dem Leser oder Hörer manchmal labyrinthisch anmutenden Vergangenheit mit einzelnen Ariadnefäden nähert und das mit Absicht unvollständig bleibt, endlos weiter gewebt werden könnte und trotzdem exemplarisch ist.

Ausgangspunkt der Erzählungen ist dabei jedesmal die Gegenwart, der Besuch in Archiven, Gedenkstätten, ein Telefonat mit einer Holocaustüberlebenden in Amerika.
Verknüpft sind nicht nur Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch die verschiedenen Länder und Sprachen, und mit ihnen die Schicksale der Menschen.

Ganz bewusst schreibt die Autorin auch nicht in ihrer Muttersprache, eine Möglichkeit, nicht mit dem eigenen Thema zu verschmelzen oder von ihm überwältigt zu werden. So wird auch die Sprache selbst, die Sprache angesichts von Unaussprechlichem, Gegenstand des Textes, Gegenstand der Aufarbeitung und Annäherung. Hinterfragt werden darüber hinaus auch die Zahlen, welche die Geschichte nicht angemessen („angemessen“, auch ein Wort, über das sie reflektiert) darstellen kann: Wurden in Babyn Jar 100.000 oder 200.000 Menschen umgebracht, gab es also ein Babyn Jar oder zwei? Der menschlichen Absurdität dieser historischen Frage antwortet Petrowskaja mit ihrem Buch, indem sie mit ihren Geschichten den abstrakten Zahlen ein Gesicht gibt.

Dafür findet sie, und das macht ihren Text so besonders, einen Erzählton zwischen Involviertheit und Dokumentation, zwischen Betroffenheit und sachlicher Aufarbeitung, ein Ton, den die Sprecherin gut einzufangen versteht. Die Erzählung, die auch humorvolle Stellen hat, ist berührend und an einigen Stellen erschütternd, ohne dass oder gerade weil sie nicht dramatisiert, sondern emotionale Nähe und kritische Distanz in ihr Hand in Hand gehen.

Bibliographische Angaben
Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther, Suhrkamp 2014
ISBN: 9783518424049

Hörbuch:
Der Audio Verlag 2022
Gelesen von Meike Rötzer
ISBN: 9783742426352

Bildquelle
Katja Petrowskaja, Vielleicht Esther
© 2023 Suhrkamp Verlag AG, Berlin

bookmark_borderMuriel Barbery: Eine Rose allein

Wie in Die Eleganz des Igels spielt die japanische Kultur, als Faszinosum und als Quelle von Poesie und Weisheit, eine bedeutende Rolle im neuen Roman der französischen Autorin Muriel Barbery. Und wie dort begegnet man auch hier wieder einer kratzbürstigen, seelisch verwundeten Protagonistin, die man sofort ins Herz schließen mag.

Rose, die nicht zufällig den Namen der schillerndsten Blume der Kulturgeschichte trägt, führt nach dem Tod ihrer Mutter und Großmutter in uneingestandener Trauer und Einsamkeit ein ungebundenes Leben in Paris. Nach dem Tod ihres japanischen Vaters, den sie nie kennengelernt hat, reist sie zum ersten Mal in ihrem Leben in dieses Land. Paul, ein Vertrauter ihres Vaters, führt sie, dessen letzten Wunsch erfüllend, an verschiedene ihm zu Lebzeiten wichtige Orte: Zen-Gärten und Tempel, die eine ganz andere Sprache sprechen, der Rose anfangs mit Skepsis, nach und nach jedoch mit wachsender Neugier begegnet.

Ein zarter Roman, voll unaufdringlicher Poesie und mit einer Handvoll versehrter, eigenwilliger und liebenswerter Figuren, und eine ebenso zarte Liebesgeschichte, gelesen in der deutschen Hörbuchfassung von Elisabeth Günther, die die Hörer mit ihrer ebenfalls auf zarte Weise gestalteten Erzähl- und Figurenstimme leicht und angenehm durch die Geschichte führt.

Bibliographische Angaben
Muriel Barbery: Eine Rose allein, List Hardcover 2022
Aus dem Französischen von Norma Cassau
ISBN: 9783471360460

Hörbuch:
Hörbuch Hamburg 2022
Gesprochen von Elisabeth Günther
ISBN: 9783957132697

Bildquelle
Muriel Barbery, Eine Rose allein
© 2022, Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

bookmark_borderCamille Laurens: Es ist ein Mädchen

Es ist ein Mädchen!

Dieser kurze Satz, der Camille Laurens‘ autofiktional genannten Roman strukturiert, ihm geradezu mythisch aufgeladener Anfang und Ende (oder Neuanfang?) ist, hat vor kurzem auch in meinem Leben eine neue Bedeutung erlangt. Schicksalshaft, das ist er für mich auch, allerdings im Sinne von Wunder und Freude, Glück und Liebe; und ja, auch Sorge, welche die Liebe wohl immer begleitet. Die 1960er Jahre, in denen der Roman spielt und in denen es nicht so abwegig war, dass der Satz auch Gefühle wie Enttäuschung oder Angst auslöste, sind lange vorbei. Und doch hat mich die neue Rolle als Mutter, die ich nun zum ersten Mal in Körper und Geist und Herz erfahre, noch stärker als zuvor erwartet für Geschlechterfragen sensibilisiert, für Themen wie die inzwischen viel besprochene, aber immer noch nicht ganz anerkannte „care-Arbeit“ oder das Ringen um gleichberechtigte Partnerrollen, die auch heute gar nicht so leicht auszuhandeln sind, und einfach viele Gedanken darüber aufkommen lassen, was es, in der Familie, in der Gesellschaft, bedeutet, ein Mädchen zu sein.

Genau das befragt und hinterfragt auf intelligente, entlarvende, sprachwitzige Weise auch der in scheinbar so fernen Zeiten spielende Roman der französischen Autorin, die einen zugleich gesellschaftlichen und psychologischen Blick auf das Thema wirft. Erzähltechnisch ist die Geschichte interessant konstruiert, da die Perspektive zwischen Außen- und Innenschau, nämlich zwischen einer die Protagonistin mit einem eher ungewöhnlichen „Du“ anredenden Stimme (z.B. für die Szene der Geburt) und derjenigen einer Ich-Erzählerin wechselt. So entsteht auf wenigen Seiten und dennoch bildhaft und einprägsam die Lebensgeschichte einer Frau, die sozusagen ab ovo erzählt wird: von der Geburt, die sehr realistisch, aber durch die Du-Perspektive aus einer gewissen kritischen Distanz geschildert wird, über die Kindheit und Jugend bis zum Mutterwerden und Leben als Ehefrau. Ihr Heranwachsen vom Mädchen zur jungen Frau ist von mehreren traumatischen Erlebnissen geprägt, die jedoch in der sich jeder Dramatisierung enthaltenden Erzählung nur angedeutet werden. Erst ihre Tochter ist, am überraschenden Ende der Erzählung, in der Lage, die erlernten Konventionen umzustürzen und eine positive Identität als Mädchen anzunehmen und zu leben, für die man sich nicht schämen, aus der man sich nicht befreien muss, sondern die etwas Schönes und Richtiges und vor allem Selbstverständliches ist.

So verwandelt die Autorin ein schicksalhaftes Mädchen-Dasein vom Mythos in eine Utopie, und als Schriftstellerin und Mitglied der Académie Goncourt, die den berühmtesten französischen Literaturpreis vergibt, tut sie dies natürlich mit dem symbolischen Mittel der Sprache. Das macht diesen kurzen Text auch so lesenswert, der durchgehend mit Sprachkritik und Sprachwitz arbeitet — was für die Übersetzung eine kleine, aber bestimmt spannende Herausforderung dargestellt haben muss –, und auf diese Weise zeigt, wie wandelbar Wirklichkeitswahrnehmung und Machtpositionen sind.

Bibliographische Angaben
Camille Laurens: Es ist ein Mädchen, dtv 2022
Aus dem Französischen von Lis Künzli
ISBN 978342329016

Bildquelle
Camille Laurens, Es ist ein Mädchen
© 2022, dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner