bookmark_borderLeïla Slimani: Le pays des autres

Im ersten Teil ihrer auf drei Bände angelegten marokkanischen Familiensaga zeigt Leïla Slimani eindrucksvoll, was für eine großartige Erzählerin sie ist. Ich habe das Buch kaum auf die Seite legen wollen, so mitreißend und einfühlsam entfaltet die Autorin die Auswirkungen der großen, von geschichtlichen Tumulten erschütterten Welt auf die kleine marokkanisch-französische Familie, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem kargen Land bei Meknès niederlässt. Wer Slimanis mit dem Goncourt 2016 ausgezeichneten Roman Chancon douce (dt. „Dann schlaf auch du“) gelesen hat und von dieser zutiefst schockierenden und zugleich behutsam erzählten Geschichte begeistert war, wird zunächst vielleicht überrascht sein. Denn mit ihrem neuen Roman betritt sie ein Terrain, das von der Tragödie, die sich zwischen einer modernen Pariser Familie und ihrem in prekären Verhältnissen lebenden, vereinsamten Kindermädchen abspielt, Welten entfernt zu sein scheint. Doch was man sofort wiedererkennt, ist die schlicht-poetisch schöne, sofort vereinnahmende Sprache, mit der Slimani ihre Leser ab der ersten Seite in ihre Geschichte hineinzuziehen versteht.

Le pays des autres (dt.: „Im Land der anderen“), der nun auf Französisch erschienene erste Teil der Trilogie, umfasst den Zeitraum von 1944 bis 1956 und ist zum Teil autobiographisch inspiriert; Slimanis aus dem Elsässer Bürgertum stammende Großmutter, die im Zweiten Weltkrieg einen algerischen Soldaten der französischen Kolonialarmee kennenlernte und mit ihm nach Marokko ging, war wohl das Vorbild für die Elsässerin Mathilde, die im Roman den Marokkaner Amine heiratet, mit ihm in seine Heimat zieht und dort ihre beiden gemeinsamen Kinder Aïcha und Selim aufzieht.

Mathilde und Amine sind ein zunächst leidenschaftlich verliebtes und optisch schönes, wenn auch sehr ungleiches Paar: Sie ist groß und blond, er ist dunkel und attraktiv und um einiges kleiner als sie. Sie verlässt ihre kriegsversehrte Heimat Frankreich, um mit ihrer großen Liebe im exotischen Marokko eine eigene Familie zu gründen, er kehrt nach dem Kriegseinsatz in Frankreich mit einer französischen Frau an seiner Seite zu seinen Wurzeln zurück und möchte das Land, das sein verstorbener Vater ihm als ältestem Sohn hinterlassen hat, modern bewirtschaften und zum Blühen bringen. Doch so wie Mathilde bald bewusst wird, dass ihre romantischen Erwartungen in der marokkanischen Realität enttäuscht werden und sie mit ihrem modernen Verständnis der Rolle der Frau und auch in ihrer ambivalenten Rolle als Französin und Frau eines Marokkaners zu kämpfen hat — bei den Gattinnen der französischen Kolonialbeamten fühlt sie sich nicht minder als Außenseiterin als unter ihren einheimischen Nachbarn und der marokkanischen Familie ihres Mannes –, wachsen auch Amine die Herausforderungen, die nicht nur landwirtschaftlicher, sondern auch kultureller und gesellschaftlicher Natur sind, zunehmend über den Kopf und bedrohen den inneren Frieden seiner Familie.

Rund um Mathildes und Amines kleine Familie entwirft die Autorin einen vielfältigen, aber stets überschaubaren Figurenkosmos, der auf sehr literarische Weise, nämlich über die narrative und dialogische Schilderung von Szenen, die Einblick in den Charakter und das von den äußeren Ereignissen geprägte Innenleben der Figuren geben, ein differenziertes Panorama der marokkanischen Gesellschaft der 1940er und 1950er Jahre vermittelt. Überhaupt zeigt sich in den vielen Szenen, in denen Slimani die Gedanken und Gefühle ihrer Figuren in großer Lebendigkeit und Poesie aufleben lässt, ihre Kunst, den Leser zum Mitfühlen zu bewegen, ohne sich deshalb mit dem oft ambivalenten Verhalten der Figuren kritiklos zu identifizieren. Ohne textliche Ausschweifung arbeitet sie das Wesentliche heraus, gibt den Figuren Raum und den Lesern die Möglichkeit, für einen Moment in ihre Empfindungen und ihre sehr unterschiedlichen Lebenswelten einzutauchen. Besonders nahe gehen einem dabei die Ängste, Sorgen und Hoffnungen von Mathildes und Amines Tochter Aïcha, etwa wenn sie voll furchtsamem Widerwillen das erste Mal die französische katholische Schule in der Stadt besucht, in der sie mit den auf sie zugleich fremd und faszinierend wirkenden Töchtern der Algerienfranzosen zusammenkommt, unter denen sie ein spöttisch belächelter Fremdkörper bleibt. Zwar macht sie in der Schule rasch Fortschritte und findet in einer der Schwestern eine ihr wohlwollende Beschützerin, doch ihre halbmarokkanische Herkunft, ihr auf die Mitschülerinnen rückständig wirkendes Zuhause auf dem Land weitab der kolonial geprägten Stadt und ihr introvertierter Charakter scheinen sie in ihrer Außenseiterposition festzunageln. Slimani zeichnet ein sehr sensibles Porträt des innerlich zerrissenen kleinen Mädchens, dessen mystisch veranlagte, sehnsüchtige, sehr intelligente Persönlichkeit auch eine grausame Seite aufweist, die aus dem Schmerz erwächst.

Immer wieder kreist die Geschichte um die konfliktreiche Frage der Zugehörigkeit und Herkunft, deren Ambivalenz sich am Beispiel einer halbfranzösischen-halbmarokkanischen Familie eindrücklich entfalten lässt. Es geht um Fragen von Herrschaft und Macht, um rassistische Arroganz, aber auch um Einsamkeit, Wut, Unverständnis, Verletzung und Verletzlichkeit. Der hybride Zitrusbaum, der „citrange“, eine Kreuzung aus Zitronen- und Orangenbaum, den Aïcha mit ihrem Vater pflanzt, nimmt in der Geschichte die Funktion einer Metapher ein. Die hybriden Früchte sollen ihrer Umwelt resistenter gegenüberstehen, doch haben sie auch einen fast ungenießbar bitteren Geschmack. In diesem Sinne ist auch Aïcha, die als Tochter einer Französin unter den marokkanischen Landarbeitern fernab des europäisch geprägten Stadtlebens aufwächst, aber zugleich Weihnachten unter einem aus dem Nachbargrundstück gestohlenen Nadelbaum feiert, eine solche Frucht, die ihre hybride Herkunft teils bitter zu spüren bekommt, ebenso wie ihre Eltern, die als „couple mixte“ von allen Seiten misstrauisch beäugt werden: Amine, der mit seiner blonden Frau und seiner Vergangenheit im Dienst der Kolonialarmee den Marokkanern zu französisch, seiner Frau hingegen zu stark den marokkanischen Traditionen verhaftet ist, und Mathilde, die immer wieder als Europäerin auffällt, wenn sie sich etwa sehr zum Unbehagen Amines dem traditionellen Teetrinken der Männer anschließt, wenn sie darauf besteht, dass ihre Schwägerin in die Schule geht oder ihr Hausmädchen von oben herab behandelt, und als Frau eines marokkanischen Bauern zugleich keinerlei Status bei der französischen Bevölkerung hat.

Le pays des autres ist somit auch ein (post)kolonialistischer Roman, der vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Konflikte zwischen den französischen Besatzern und den marokkanischen Unabhängigkeitskämpfern spielt. Die Autorin schildert, wie die politischen Unruhen und die zunehmende Gewalt Zwietracht und Schmerz auch innerhalb von Familien säen. Nach dem Tod des Vaters herrscht zwischen den Söhnen eine unterschwellige Konkurrenz, die Omar, den jüngeren Bruder Amines, in den bewaffneten Kampf treibt. Eifersüchtig auf die Auszeichnungen seines älteren Bruders im Zweiten Weltkrieg, entwickelt er einen umso größeren Hass auf die französischen Besatzer, für die sein Bruder einst gekämpft hat, überwirft sich mit Amine und verlässt sein Elternhaus, um sich den Unabhängigkeitskämpfern anzuschließen. Das Ineinander von persönlicher Biographie einerseits und dem mächtigen Einfluss der Geschichte andererseits, die bei Omars Rebellion zum Ausdruck kommt, tritt im Verlauf des Romans immer wieder zum Vorschein.

Vor dem Hintergrund der anderen Texte der Autorin ist es nicht überraschend, dass Kolonialismus und Sexualität hier eng miteinander verwoben werden und das Verhältnis von Männer- und Frauenrollen Machtstrukturen aufdeckt, die mit den kolonialen Herrschaftsbeziehungen verwandt sind. Isabela Figueiredo, deren literarisierte Erinnerungen an ihre Kindheit im portugiesischen Kolonialreich unter dem Titel Roter Staub vor kurzem ins Deutsche übersetzt wurden, schildert übrigens genau diesselbe Verflechtung der Unterwerfung der Frau und der kolonisierten Afrikaner in Bezug auf das portugiesische Kolonialsystem. Slimani selbst hat in ihrem Essay Sexe et mensonges (2017) die Situation der Frauen in Marokko untersucht und tritt für die Legalisierung der Abtreibung in dem Land ein, in dem sie geboren wurde. Dem Zusammenhang von weiblichem Begehren und Freiheit ging sie auch in ihrem Roman Dans le jardin de l’ogre (2014) nach. Wenn sie nun in Le pays des autres Beziehungen zwischen Männern und Frauen darstellt, wirkt das nie thesenhaft, sondern wird stets mit viel Gespür für die feinen Töne erzählt. Besonders unter die Haut geht die Geschichte von Selma, der bildhübschen jüngeren Schwester Amines, die sich in einen jungen Franzosen verliebt und erste Anstalten macht, sich aus dem für sie vorgesehenen gesellschaftlichen Rahmen zu lösen.

Selma, la veille, avait embrassé un garçon. Et depuis, elle ne cessait de se demander comment il était possible que les hommes qui l’empêchaient, qui la dominaient, soient aussi ceux pour qui elle avait tant envie d’être libre. (…) Depuis hier, sans cesse, elle avait besoin de fermer les yeux pour vivre encore, avec une excitation jamais tarie, ce moment délicieux. (…) Elle était comme prisonnière de ce souvenir (…). À chaque fois qu’il avait posé ses lèvres sur sa peau, il lui avait semblé qu’il la délivrait de la peur, de la lâcheté dans laquelle on l’avait élevée.

Était-ce à ça que servaient les hommes? Était-ce pour cela qu’on parlait tant d’amour? (…) Comme ils ont raison de se méfier et de nous mettre en garde car ce que nous cachons là, sous nos voiles et nos jupons, ce que nous dissimulons est plein d’un feu pour lequel nous pouvons tout trahir.

Selma hatte am Vortag einen Jungen geküsst. Und seitdem fragte sie sich unablässig, wie es möglich sein konnte, dass dieselben Männer, die ihr im Weg standen, die sie beherrschten, auch die waren, für die sie so große Lust verspürte, frei zu sein. (…) Seit gestern musste sie immerzu ihre Augen schließen, um wieder und wieder, mit einer nie versiegenden Erregung, diesen köstlichen Moment zu erleben. (…) Sie war wie gefangen von dieser Erinnerung (…). Jedesmal, wenn er mit seinen Lippen ihre Haut berührt hatte, war es ihr vorgekommen, als ob er sie von der Angst, von der Feigheit, in der sie erzogen worden war, befreite.
Waren die Männer dazu gut? War das der Grund, weshalb man so viel von Liebe sprach? (…) Wie Recht sie doch haben, dem zu misstrauen und uns davor zu warnen, denn was wir dort verbergen, unter unseren Schleiern und unseren Unterröcken, was wir dort verbergen, enthält ein Feuer, für das wir alles verraten können.

Slimani: Le pays des autres, S. 283 f. (Übersetzung der Rezensentin)

Doch in dem gewaltsamen gesellschaftlichen Kontext der 1950er Jahre ist der Konflikt vorgezeichnet. Als ein Fotograf von dem schönen jungen Paar ein Foto macht und es in seinem Laden ausstellt, fliegt die Liebesgeschichte ebenso auf wie die heimlichen Ausbrüche, die Selma während ihrer Schulzeit in die Freiheit der Stadt unternimmt. Amine, der ja selbst mit einer Französin verheiratet ist, entdeckt das Foto durch Zufall im Schaufenster, rastet aus und die erträumte Freiheit der jungen Frau endet in einer überstürzten Zwangsheirat.

Slimani gelingt es, das Auf und Ab der Sehnsüchte und Enttäuschungen in ihrer ganzen Ambivalenz in einer so gelungenen Balance aus mitreißender Unmittelbarkeit und reflektierender Distanz darzustellen, dass man nach der letzten Seite dieses ersten Bandes unbedingt nach einer Fortsetzung verlangt. Die ist auch geplant, jedoch erst für 2022 mit dem zweiten Teil, der die Zeit von 1970-1980 umfassen soll, in dem die Tochter Aïcha als junge Erwachsene im Zentrum steht, während Marokko von den Attentaten auf den König Hassan II. erschüttert wird, und für 2024 mit dem dritten Teil, in dem mit der Generation von Aïchas Kindern die globalisierte und vom islamistischen Terror geprägte Gegenwart erreicht wird. Wir brauchen also noch etwas Geduld, aber wenn die Autorin dem Stil des ersten Teils treu bleibt, wird sich das Warten auf jeden Fall lohnen!

Leïla Slimani: Le pays des autres, Gallimard (2020)
ISBN:  9782072887994

bookmark_borderAnna Maria Ortese: Il mare non bagna Napoli

Neapel liegt nicht am Meer“ — Italienkenner und -liebhaber mögen sich wundern, doch die Schriftstellerin Anna Maria Ortese (1914-1998), die diesen Band mit Erzählungen und literarischen Reportagen über Neapel zum ersten Mal 1953 veröffentlichte und selbst lange Jahre in der Stadt lebte, wirft hier einen anderen, ungewohnten und dennoch wahrhaftigen Blick auf die berühmte Stadt am Mittelmeer: ein Blick, geprägt von Elend, Armut, Verzweiflung, aber auch von träumerischen Anwandlungen der Hoffnung und einem mal kämpferischen, mal resignierten Durchhaltevermögen, von sozialen Ungleichheiten und engen Familienstrukturen, und bevölkert von all den vielen und vielseitigen, zugleich abstoßenden und faszinierenden Charakteren, denen die Autorin bei ihrer Rückkehr in die Stadt ihrer Jugend nach dem Krieg begegnete.

Der Matthes & Seitz Verlag hat nun das Buch, das bisher nur noch antiquarisch unter dem Titel „Neapel — Stadt ohne Gnade“ in einer Übersetzung von 1955 zu haben war, in neuer und zum ersten Mal vollständiger Übersetzung herausgebracht — und schon ist das Buch wieder vergriffen und harrt einer Neuauflage. Turbulent ist die Verlagsgeschichte des Buches von Beginn an. Als es 1953 beim Verlag Einaudi erscheint, wird es von großen Teilen der italienischen Kulturszene als Buch „contro Napoli“, gegen Neapel, verurteilt; die Stadt Neapel — und vor allem auch die jungen journalistischen und schriftstellerischen Kollegen, die Ortese in einem der in diesem Band versammelten Texte mit einem für sie typischen, desillusionierend scharfen Blick wohl allzu kritisch porträtiert, erscheinen der intellektuellen Öffentlichkeit in so unlieb düsterem Licht, dass die talentierte junge Schriftstellerin ungeachtet der Preise, die sie für ihre Werke erhält, lange Zeit als Außenseiterin der damaligen Kulturwelt Italiens gilt und mit Geldsorgen zu kämpfen hat. Damals hielt sie es übrigens für das Beste, Neapel zu verlassen; sie lebte nie mehr in der Stadt, deren Charakter sie literarisch so beeindruckend eingefangen hatte; nur in ihren literarischen Texten kehrte sie doch immer wieder an diesen Ort zurück.

1994 legte der Adelphi Verlag ihr Neapel-Buch neu auf; im Vorwort ordnet die Autorin ihren einst so heftig kritisierten hoffnungs- und skrupellosen Blick auf Neapel in ihre Poetik des Irrealen ein, das ihren literarisch verdichteten schriftstellerischen Blick auf die Wirklichkeit charakterisiert, der, wie sie betont, immer auch ein subjektiv-poetischer ist. Ortese verlor in der Zeit, als sie an dem Buch arbeitete, nacheinander beide Eltern, davor waren schon zwei ihrer Brüder verunglückt. Der Tod ihres ersten Bruders, den sie mit dem Schreiben von Gedichten verarbeitete, war wohl auch der Anstoß zu ihrer literarischen Karriere. Vor diesem biographischen Hintergrund lässt sich die folgende Äußerung über ihren auch persönlich geprägten Blick auf Neapel besser verstehen:

Io, invece, mancava di radici, o stavo perdere le ultime, e attribuii alla bellissima città questo ’spaesamento‘ che era soprattutto il mio.

Ich hingegen hatte keine Wurzeln mehr, oder war gerade dabei, die letzten zu verlieren, und schrieb daher der wunderschönen Stadt ein ‚Unbehagen‘ zu, das vor allem mein persönliches war.

Ortese, Vorwort zur Neuauflage 1994 (Übersetzung der Rezensentin)

Nicht nur in ihren literarischen Reportagen, in denen sich Journalistisches und Poetisches mischt, sondern etwa auch in der 1975 erschienenen neuartigen autobiographischen Erzählung Il Porto di Toledo. Ricordi della vita irreale — das die der Wirklichkeit eingeschriebene Irrealität bereits im Titel trägt — experimentiert sie mit Stilen und Genres. Trotzdem bezeichnet Ortese auch Jahrzehnte später ihre Neapel-Texte, wenn auch als subjektiv literarisiert, so doch unbedingt als wahrhaftig:

Erano molto veri i dolore e il male di Napoli, uscita in pezzi dalla guerra.

Sie waren sehr real, der Schmerz und das Leid Neapels, das in Trümmern aus dem Krieg hervorgegangen war.

Ortese, Vorwort zur Neuauflage bei Adelphi 1994 (Übersetzung der Rezensentin)

Die Gattungsfrage ist auch in Il mare non bagna Napoli hochspannend und es ist überaus faszinierend, wie der sehr wiedererkennbare, poetisch dichte Stil, ihr entlarvend-einfühlsames und auf sehr genauen, in die Tiefe und ins Detail gehenden Beobachtungen beruhendes Schreiben sich fast unmerklich von der fiktiven Erzählung weg und ins Essayistische hineinbewegt. Während die ersten beiden Texte noch eindeutig als Fiktion bezeichnet werden können, würde man die folgenden doch eher Reportagen nennen, in denen das Journalistische jedoch nie ohne das Literarische, Poetische auskommt.

„Un paio di occhiali“ heißt die Erzählung, mit der man als Leser in Orteses neapolitanische Welt eingeführt wird. Die Hauptfigur ist Eugenia, ein kleines Mädchen, das sehr schlecht sieht und daher ihre ärmliche Umwelt noch nie in all ihrer Schärfe zu Gesicht bekommen hat. Voll Stolz und Vorfreude, ja geradezu euphorisch, wartet sie auf ihre erste Brille, die sich ihre arme Familie gewissermaßen vom Leibe abgespart hat; immer wieder wird betont, dass ihre Tante Nunzia beim Optiker dafür 800 Lire bezahlt hat. Endlich ist es nun soweit, ihre Mutter holt die Brille ab und die ganze Nachbarschaft hat sich auf dem schmutzigen Innenhof versammelt, um das fast biblische Ereignis zu verfolgen, wenn Eugenia zum ersten Mal ihre neue Brille aufsetzt und sehend wird. Doch alle Erwartungen werden gebrochen, Eugenia ist völlig überfordert mit dem, was sie nun auf einmal in aufdringlicher Schärfe zu sehen bekommt — und ihr wird übel:

Come un imbuto viscido il cortile, con la punta verso il cielo e i muri lebbrosi fitti di miserabili balconi; (…) il selciato bianco di acqua saponata, le foglie di cavolo, i pezzi di carta, i rifiuti, e, in mezzo al cortile, quel gruppo di cristiani cenciosi e deformi, coi visi butterati dalla miseria e dalla rassegnazione, che la guardavano amorosamente. Cominciarono a torcersi, a confondersi, a ingigantire.

Der Hof wie ein klebriger Trichter, dessen Spitze zum Himmel zeigte, und die Mauern wie Aussätzige mit erbärmlichen Balkonen übersät; (…) das vom Seifenwasser weiße Pflaster, die Blätter von Kohlköpfen, die Papierfetzen, der Müll und in der Mitte des Hofes jene zerlumpte und entstellte Christengruppe, mit ihren vom Elend und der Resignation pockennarbigen Gesichtern, die sie liebevoll anschauten. Sie begannen sich zu verdrehen, zu verschwimmen, sich riesenhaft zu vergrößern.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 33 (Übersetzung der Rezensentin)

Im entsetzten Blick des Mädchens, das die sie umgebende Hässlichkeit der Armut wie ein Schock trifft, offenbart sich das ganze Elend der Hausgemeinschaft. Doch selbst innerhalb dieses einen Wohnblocks zeigt sich auch die soziale Ungleichheit, die Ortese im Nachkriegsneapel immer wieder beobachtet. Denn das obere Stockwerk gehört einer wohlhabenderen Dame, die Verwandte im reichen Viertel Posillipo hat und der alle übrigen Hausbewohner mit geradezu andächtiger Ehrfurcht begegnen. Die Arroganz, die ihrer zur Schau gestellten Großzügigkeit innewohnt, entlarvt die Autorin in einer Szene, als Eugenia die Gnade erfährt, ein altes, abgetragenes, fadenscheiniges Kleid von ihr zum Geschenk zu bekommen. Doch wie staunt Eugenia, als sie auf den Balkon ihrer reichen Nachbarin tritt, der mit seiner Aussicht auf das nahe und doch so ferne Meer zum Zeichen des höheren gesellschaftlichen Ranges wird, während das Sehen für die Armen entweder unmöglich ist oder zur Qual wird.

Uscì sul balcone. Quant’aria, quanto azzurro! Le case, come coperte da un velo celeste, e giù il vicolo, come un pozzo, con tante formiche che andavano e venivano… come i suoi parenti (…). E intorno, quasi invisibile nella gran luce, il mondo fatto da Dio, col vento, il sole, e laggiù il mare pulito, grande… Stava lì, col mento inchiodato sui ferri, improvvisamente pensierosa, con un’espressione di dolore che la imbruttiva, di smarrimento.

Sie trat auf den Balkon hinaus. Wie viel Luft, wie viel Blau! Die Häuser, wie bedeckt von einem himmlischen Schleier, und unten die Gasse, wie ein Schacht, mit lauter Ameisen, die hin und herliefen… wie ihre Eltern (…). Und ringsum, fast unsichtbar in all dem Licht, die Welt, die Gott gemacht hatte, mit dem Wind, der Sonne, und da unten das saubere, weite Meer… Dort stand sie, das Kinn wie festgenagelt auf dem Geländer, plötzlich ganz nachdenklich, mit einem Ausdruck des Schmerzes, des Verlustes, der sie hässlich aussehen ließ.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 30 (Übersetzung der Rezensentin)

Die zweite Erzählung, „Interno familiare“, schildert ein kleinbürgerliches „Familienintérieur“. Schonungslos und zugleich einfühlsam werden wir als Leser in das für Frauen ab einem gewissen Alter hoffnungslose Milieu herangeführt sowie an die nicht mehr ganz junge Anastasia, die älteste Tochter einer Familie, deren väterliches Oberhaupt gestorben ist, und die sich in einem letzten Aufbäumen ihrer Sehnsucht für die kurze Dauer eines Tages einer unerfüllbaren Hoffnung hingibt. Als Anastasia nämlich von der Rückkehr eines Jugendfreundes erfährt, der lange auf See unterwegs war, gerät sie in Tagträume — Träume ganz bescheiden anmutender Art, dass sie als Frau doch noch begehrt werden, ja vielleicht sogar noch heiraten könnte –, die den Familienfrieden dennoch zu erschüttern drohen:

Con una vera angoscia, capiva che l’equilibrio, la pace della famiglia erano in pericolo, se la colonna di quella casa s’inteneriva.

Mit einer wahren Angst begriff sie (die Mutter), dass das Gleichgewicht, der Familienfrieden in Gefahr waren, wenn die Säule dieses Hauses in Rührung geriete.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 52 (Übersetzung der Rezensentin)

Denn Anastasia, die „Säule des Hauses“, verdient nach dem Tod des Vaters mit ihrem eigenen Strickwarenladen das Geld für die ganze Familie, sie übernimmt auf Kosten ihrer eigenen Träume die Verantwortung für ihre Geschwister und deren künftige Kinder, für ihre Tante und für ihre Mutter, die ihr ihre jüngere, kränkliche Tochter vorzieht und Anastasia unsanft, fast abfällig behandelt und doch zugleich liebt und genau weiß, welches Opfer sie von ihrer Ältesten wie selbstverständlich erwartet. Angesichts der erstickenden Strukturen, in denen sich die Frauen ihrer sozialen Schicht damals in Neapel bewegten, begreift man die Kühnheit und Vergeblichkeit, ja die Irrealität des so harmlos anmutenden Traums von Anastasia:

Non poteva pensare, vivere. Qualche cosa era vivo in lei, e neppure poteva dirlo. Questa era la sua bontà, la sua forza, questa incapacità d’intendere e di volere una vita sua. Soltanto ricordare poteva, di quando in quando, vedere, e poi subito quel lume, quel paesaggio era spento.

Sie konnte nicht denken, nicht leben. Etwas in ihr war lebendig, und sie konnte es nicht einmal ausdrücken. Dies war ihre Güte, ihre Stärke, diese Unfähigkeit, etwas anzustreben und ein eigenes Leben haben zu wollen. Sie konnte sich nur erinnern, von Zeit zu Zeit etwas sehen, und dann plötzlich war jenes Licht, jene Landschaft wieder erloschen.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 40 (Übersetzung der Rezensentin)

Vor Tränen sieht auch Anastasia — wie Eugenia in der ersten Erzählung — kaum etwas, ihr verschwommener Blick weiß den Hafen, an dem das Schiff ihres Jugendfreundes ankert, nur einen Kilometer entfernt, der für sie jedoch eine unüberbrückbare Distanz darstellt; doch der Schmerz erlischt zusammen mit ihrer Sehnsucht so schnell, wie er gekommen ist, und Anastasia fügt sich ohne Hoffnung und ohne Klage wieder in die von ihr erwartete Rolle.

Die sich anschließenden Kapitel nähern sich dem Genre der Reportage und des Essays an und sind allesamt aus einer Ich-Perspektive erzählt, die man wohl mit derjenigen der jungen Journalistin Ortese gleichsetzen kann. In „Oro a Forcella“ läuft sie, mit wachem Blick alle möglichen Szenen und Charaktere einfangend, durch eine Straße, in der sich die Menschen dicht an dicht drängen, beobachtet und macht sich Gedanken über das so eigene Elend der Stadt:

Una miseria senza più forma, silenziosa come un ragno, disfaceva e rinnovava a modo suo quei miseri tessuti, invischiando sempre più gli strati minimi della plebe, che qui è regina. (…) Qui, il mare non bagnava Napoli. Ero sicuro che nessuno lo avesse visto (…). In questa fossa oscurissima, non brillava che il fuoco del sesso, sotto il cielo nero del sovrannaturale.

Ein Elend, das keine Form mehr annahm, das still war wie eine Spinne, zerstörte und erneuerte auf seine Weise jene elenden Netze, indem es die kleinsten Schichten des Pöbels, der hier regierte, immer dichter einwickelte. (…) Hier lag Neapel nicht am Meer. Ich war sicher, dass niemand hier es gesehen hatte. (…) In dieser stockfinsteren Grube leuchtete nichts als das Feuer des Sex, unter dem schwarzen Himmel des Übernatürlichen.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 67 (Übersetzung und Hervorhebung der Rezensentin)

Dieser extrem verdichtete, bildhafte Stil ist typisch für Ortese und zeigt, welche Literarizität und fast ins Mythische reichende psychologische Tiefenbohrung auch denjenigen ihrer Texte innewohnt, die bereits mehr in Richtung Reportage gehen.

In diesem Sinne weist auch das auf den ersten Blick sehr journalistisch anmutende Kapitel „La città involuntaria“ irrealisierende, mythisch-metaphorische Tendenzen auf, die Ortese aber unmittelbar aus sehr präzisen Beobachtungen der Wirklichkeit hervorgehen lässt. Wie in ihren Kurzgeschichten verwendet sie auch hier eine große literarische Einfühlsamkeit auf jede einzelne der beschriebenen Figuren, auch dann, wenn die berichterstattende Erzählerin nur einen kurzen, aber nicht weniger intensiven Blick auf sie erhaschen kann. Die „unfreiwillige Stadt“ ist ein riesiges Industriebauwerk am Hafen — die III e IV Granili, ehemalige Kornspeicher –, in dem nach dem Krieg unzählige Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht leben. Wiederum befindet sich dieses Gebäude räumlich ganz nah an Neapels Meer, doch die meisten seiner Bewohner bekommen es nie ins Gesicht; statt in mediterranem Ambiente leben sie inmitten einer feuchten Dunkelheit, die allenfalls von künstlichem Licht durchbrochen wird.

Die Journalistin folgt einer „guida“, die sie in einer Art Céline’schen Reise ans Ende der Nacht tief hinein in das riesige kerkerkafte Gebäude führt und ihr Szenen zu sehen gibt, in denen sich das Elend der eingepferchten Menschen nackt und schonungslos offenbart. Es ist wie ein Eintritt in die Hölle, Schmutz, Blut, Urin, Finsternis, Hunger, Tod beherrschen das Innere des Gebäudes. Und wie in Dantes Unterwelt gibt es auch hier gewisse hierarchische Abstufungen der Qual; je höher die Etage liegt, desto größer der Komfort und Lebensmut, und sei er nur illusorisch, und je tiefer, desto schmutziger, dunkler und erbärmlicher ist auch der Zustand der Zimmer und ihrer Bewohner. Letztlich gibt es nur eine Richtung, die nach unten:

Evitavano qualsiasi contatto con i cittadini dei primi piani, mostrando per la loro abiezione una severità non priva di compassione (…). Non risaliva più nessuno, da giù. Non era facile risalire quei gradini in apparenza piani e comodissimi. C’era qualcosa che chiamava, da giù, e chi cominciava a scendere era perduto (…).

Sie (die Bewohner der oberen Etage) vermieden jeden erdenklichen Kontakt mit den Bürgern aus den ersten Etagen und legten dabei für deren Verworfenheit eine Strenge an den Tag, die nicht ohne Mitleid war (…). Von dort unten kam niemand mehr nach oben. Es war nicht leicht, jene dem Schein nach so ebenen und bequemen Stufen zu erklimmen. Da war etwas, das nach einem rief, einen nach unten zog, und wer den ersten Schritt nach unten getan hatte, war verloren (…).

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 87 f. (Übersetzung der Rezensentin)

Besonders unter die Haut geht die Schilderung der Kinderschicksale, von denen die Erzählerin berichtet. Ein Junge bricht plötzlich tot zusammen, eine Trauerfeier wird improvisiert und niemand ist allzu überrascht über das Vorkommnis, das längst kein Einzelfall ist; ein kleines zweijähriges Mädchen, das so klein und schwächlich ist, dass es die Erzählerin erst für ein Neugeborenes hält, hat in ihrem Leben bisher nur ein einziges Mal das Tageslicht gesehen.

Questa infanzia, non aveva d’infantile che gli anni. Pel resto, erano piccoli uomini e donne, già a conoscenza di tutto, il principio come la fine delle cose, già consunti dai vizi, dall’ozio, dalla miseria più insostenibile, malati nel corpo e stravolti nell’animo, con sorrisi corrotti o ebeti, furbi e desolati nello stesso tempo. Il novanta per cento, mi disse la Lo Savio, sono già tuberculotici o disposti alla tubercolosi (…). Assistono normalmente all’accoppiamento dei genitori, e lo ripetono per giuoco. Qui non esiste altro giuoco, poi, se si escludono le sassate.

Diese Kindheit hatte nichts Kindliches außer der Zahl der Lebensjahre. Ansonsten waren sie kleine Männer und Frauen, die schon über alles Bescheid wussten, über den Anfang wie über das Ende der Dinge, die schon aufgezehrt waren von den Lastern, dem Nichtstun, dem unerträglichsten Elend, die körperlich krank waren, seelisch verwirrt, deren Lächeln verdorben oder schwachsinnig war, die listig und trostlos zugleich dreinblickten. 90 Prozent von ihnen, so sagte es mir die Lo Savio, litten schon an Tuberkulose oder würden es bald (…) Es war ganz normal, dass sie dabei waren, wenn ihre Eltern Sex hatten, und sie wiederholten es, wenn sie spielten. Hier gibt es kein anderes Spiel, wenn man das Steinewerfen mal ausnimmt.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 93 (Übersetzung der Rezensentin)

Im letzten und längsten Kapitel, „Il silenzio della ragione“ („Das Schweigen der Vernunft“) erzählt Ortese, wie sie quer durch Neapel pilgert, um ihre früheren Journalistenkollegen aufzusuchen, über die sie eine Reportage plant. Ihre Porträts sind wenig schmeichelhaft; so wie sie den jahrhundertealten Mythos der Stadt entzaubert, entzaubert sie auch die junge Intellektuellenszene im Nachkriegsneapel. Einst engagiert und idealistisch neigten sie, so das harte Urteil der Autorin, nun zu hohlen, unaufrichtigen Posen und fänden keine Sprache mehr, um der Stadt und ihren Bewohnern gerecht zu werden:

Quello che vedevo al mio lato, fra gli altri ragazzi muti, era un piccolo uomo dal viso appassito, dallo sguardo monotono. Uno che non aveva più il coraggio di alzare gli occhi, di riprendere un discorso, di pensare un pensiero chiaro, logico. La città lo aveva distrutto. (…) Tutti erano caduti, qui, quelli che avevano desiderato pensare o agire, tutte le lingue si erano confuse ed erano andate a incrementare la dolorosa vegetazione umana.

Jener, der da neben mir lief, inmitten der anderen stummen Jungen, war ein kleiner Mann mit verwelktem Gesicht, mit eintönigem Blick. Einer, der nicht mehr den Mut aufbrachte, den Blick zu erheben, eine Unterhaltung aufzunehmen, einen klaren, logischen Gedanken zu fassen. Die Stadt hatte ihn zerstört. (..) Alle waren sie hier gefallen, jene, die einmal unbedingt denken oder handeln wollten, alle Sprachen waren verwirrt und dazu übergegangen, die schmerzensreiche menschliche Vegetation sprießen zu lassen.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 168 (Übersetzung der Rezensentin)

Die große Stärke Orteses, die diesen Band trotz all seiner desillusionierenden und schockierenden Elemente so reizvoll macht, sind meiner Ansicht nach ihre Porträts; sie beobachtet ganz genau und findet für die feinsten Charakterzüge eine differenzierte und hochpoetische Sprache, die einem bisweilen Schauer über den Rücken laufen lässt und einen immer wieder staunen lässt.

Als Ferrante-Leserin erkennt man auch einige der Viertel Neapels wieder, in denen Lenùs und Lilas Geschichte spielt, sowie gewisse soziale Strukturen, die sich im Stadtbild abzeichnen. Orteses Neapelbild inspirierte Ferrante, wie sie selber sagt, und auch wenn sie der Schönheit und Lebenslust einen größeren Platz in ihrer großen Neapelsaga einräumt als Ortese in ihren kurzen, auf Desillusion zielenden Texten, so ist doch auch Elena Ferrantes Neapel von einem genauen Blick auf die verschiedenen sozialen Milieus geprägt und alles andere als eine hübsche mediterrane Kulisse.

Questa limpida e dolce bellezza di colline e di cielo, solo in apparenza era idillica e soave. Tutto, qui, sapeva di morte, tutto era profondamente corrotto e morto, e la paura, solo la paura, passeggiava nella folla da Posillipo e Chiaia.

Diese reine und sanfte Schönheit der Hügel und des Himmels war nur dem Schein nach idyllisch und süß. Alles hier wusste vom Tod, alles war zutiefst verdorben und tot, und die Angst, nur die Angst, wanderte in der Menge zwischen Posillipo und Chiaia.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 156 (Übersetzung der Rezensentin)

Bibliographische Angaben
Anna Maria Ortese: Il mare non bagna Napoli, Adelphi (1994)
ISBN: 9788845910548

Zur neuen deutschen Übersetzung bei Matthes & Seitz:

Bildquelle
Anna Maria Ortese, Neapel liegt nicht am Meer
Aus dem Italienischen von Marianne Schneider
© 2019 Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH

bookmark_borderMarion Messina: Faux départ

Der Debütroman der jungen Französin Marion Messina gilt als Roman über das Stigma der Armut, über die Klassengesellschaft, über die Spaltung der französischen Gesellschaft, und wird oft in einem Atemzug mit den Texten von Nicolas Mathieu, Edouard Louis oder Annie Ernaux genannt. Er ist aber auch der einzige mir bisher bekannte Roman, in dem — freilich nur als ein Aspekt eines viel umfangreicheren Gesellschaftspanoramas — ein akutes und immer größere Teile der Bevölkerung betreffendes soziales Problem auf sehr pointierte und eindringliche Weise geschildert wird: das eines außer Rand und Band geratenen Immobilienmarktes, an dem die sich zuspitzende soziale Ungleichheit eine geradezu symbolische Verdichtung erfährt, die jedoch auf einen leider sehr realen Zustand verweist:

Il n’y avait aucun contrôle, le marché immobilier parisien était le seul domaine de France parfaitement déréglementé, voire anarchique. Cette ville avait besoin de sa force de travail mais ne la voulait pas entre ses murs.

Es gab keinerlei Kontrolle, der Pariser Wohnungsmarkt war in Frankreich der einzige Bereich, der komplett dereguliert, ja anarchisch war. Diese Stadt brauchte ihre Arbeitskraft, aber wollte sie nicht innerhalb ihrer Mauern haben.

Faux départ, S. 139 (Übersetzung der Rezensentin)

Als Aurélie, die junge Antiheldin des Romans, ganz allein, ohne Partner, ohne Geld und ohne Beziehungen von Grenoble nach Paris geht, in der Hoffnung, dort ihr Studium fortsetzen und dank der Möglichkeiten der Hauptstadt endlich den sozialen Aufstieg vom Arbeiterkind zur akademisch gebildeten Angestellten meistern zu können, gerät sie in einen völlig entfesselten Wohnungsmarkt, der sich als kapitaler Wettkampf herausstellt, bei dem sie von vornherein chancenlos ist. Die Szene, in der Aurélie schildert, wie sie inmitten der sich auf wenigen Quadratmetern drängenden wohnungs- oder besser schlafplatzsuchenden Menschen Schlange steht, um eine winzige, heruntergekommene, völlig überteuerte Kammer ohne Sanitäreinrichtung zu besichtigen, bleibt einem in ihrem desillusionierten und entlarvenden Realismus noch lang im Gedächtnis. Letztlich bleibt Aurélie in ihrem Provisorium in der Jugendherberge, bis sie einen gut verdienenden Angestellten kennenlernt, mit dem sie weniger aus Liebe denn aus Not zusammenzieht.

Tatsächlich sind die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse, der Wunsch und die Schwierigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit, diese zu verlassen, in Faux départ Ausgangspunkt und treibende Kraft der Handlung. Doch meiner Ansicht nach lässt sich der in seiner Ernüchterung doch auch auf fast sanfte, melancholische Weise poetische Roman nicht auf dieses Thema beschränken. Vielmehr zeichnet sich dieser Text, der eben kein Sozialreport ist, durch eine höchst literarische Ambivalenz aus. So scheinen auch die Klassenkategorien einer gewissen Transformation unterworfen, durch die sie zwar nicht vollständig aufgehoben werden, jedoch im Kontext der wieder anders gearteten Machtstrukturen einer vernetzten, sexualisierten und durchökonomisierten Gesellschaft ihre Eindeutigkeit verlieren. Während Michel Houellebecq in Bezug auf die desillusionierende Schilderung einer konsumorientierten Sexualität oft als literarische Referenz Marion Messinas genannt wird, möchte ich hier auch die Theorien der Soziologin Eva Illouz ins Spiel bringen, die der ontologischen Haltlosigkeit als Folge prekär gewordener langfristiger romantischer Bindung auf den Grund geht, sowie die Studien der Philosophin Elizabeth Anderson über die modernen Irrwege des ökonomischen Liberalismus in Bezug auf Autonomie und Würde am Arbeitsplatz (vgl. Rezension vom 31.3.2020).

Erzählt wird die Geschichte, die trotz allem auch eine romantische Liebesgeschichte ist und in der — natürlich (post)modernisierten — Tradition einer Flaubert’schen Education sentimentale gelesen werden kann, in großen Teilen aus der Perspektive von Aurélie, die ihrem prekären Herkunftsmilieu über den Weg des Studiums zu entkommen hofft. Messina beschreibt aber auch die auf andere Weise holprige Suche nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit, auf der sich der aus Kolumbien stammende Alejandro, Aurélies große Liebe und großer Kummer, seit seiner Ankunft in Frankreich befindet. Stigmatisiert wird man selbst in einer so kosmopolitischen Stadt wie Paris nicht nur, wenn man sich den angesagten Style nicht leisten kann, sondern auch infolge einer ausländischen Herkunft. Gleichwohl dient die lateinamerikanische Identität Alejandros im Handlungsgefüge wohl hauptsächlich dazu, durch den Blick von außen — gleich Montesquieus Persischen Briefen — die Hybris zu entlarven, mit der eine privilegierte europäische Schicht nicht nur auf ihn blickt, den Ausländer mit Akzent, mit dem man sich ab und zu ganz gern als weltoffen schmückt, sondern auch auf die Mitglieder der Unterschicht, die man an ihren billigen, schlecht sitzenden Klamotten erkennt.

Aurélie ist in ärmlichen Verhältnissen in einem Vorort von Grenoble aufgewachsen, hat gerade ihr Abitur bestanden und ein Stipendium für ein Studium an einer renommierten Hochschule erworben — und erlebt die erste einer nicht enden wollenden Kette von Desillusionen, als sie begreift, dass sie ihr Stipendium nicht antreten kann, da ihre Eltern sich ihren Umzug in eine andere Stadt nicht leisten können. Kaum 18 geworden, zweifelt sie schon an allem:

Elle doutait de tout, à commencer par le destin émancipateur auquel elle s’était raccrochée pendant des années, prenant en horreur le mode de vie de ses parents, comme inscrit dans leurs gènes.

Sie zweifelte an allem, zuallererst an dem schicksalhaften Versprechen der Emanzipation, an das sie sich jahrelang geklammert hatte, während sie die Lebensweise ihrer Eltern, die ihnen gleichsam genetisch eingeprägt war, geradezu verabscheute.

Faux départ, S. 55 (Übersetzung der Rezensentin)

Die allseits verkündete Chancengleichheit erweist sich als „republikanischer Mythos“ (S. 54), Schule und Studium scheinen keinen Ausweg aus dem prekären Herkunftsmilieu zu bieten. Vielmehr gestaltet sich Aurélies Ankunft im Erwachsenenleben als unaufhörlicher Kampf um Beachtung, Geld und Liebe, in dem sie immer wieder unterzugehen droht. Sie fühlt sich einsam, nirgends zugehörig, macht unangenehme erste sexuelle Erfahrungen und als sie sich schließlich in den Kommilitonen Alejandro verliebt, den sie bezeichnenderweise nicht in der Vorlesung, sondern in ihrem Nebenjob als Putzhilfe kennenlernt, beschert ihr das zwar ein bisher ungekanntes Glücksgefühl, das jedoch überschattet wird von der Unverbindlichkeit ihrer Beziehung, auf der Alejandro besteht. Als Alejandro Grenoble verlässt, hält auch Aurélie nichts mehr in der Stadt, und sie geht nach Paris. In der Freiheit und Unbegrenztheit der Möglichkeiten, die das urbane Großstadtmilieu verspricht, potenzieren sich für Aurélie jedoch die Herausforderungen; ohne Wohnung, angewiesen auf einen schlecht bezahlten, ausbeuterischen Job als willkürlich herumkommandierte Messehostess, hat sie kaum Zeit für soziale Kontakte und an eine Fortsetzung ihres Studiums kann sie gar nicht erst denken. Der begrenzte soziale Aufstieg, auf den sie noch hoffen kann, gestaltet sich nicht nur äußerst mühevoll, sondern auch in einem Rahmen und unter Bedingungen, die es fraglich machen, inwieweit er überhaupt erstrebenswert ist:

Elle se sentait coincée entre un milieu ouvrier peu curieux, corvéable à merci, respectueux, soumis et craintif et une classe moyenne abêtie, déliquescente, qui semblait impatiente de liquider le peu de dignité sociale et intellectuelle dont elle aurait pu hériter.

Sie fühlte sich eingezwängt zwischen einem wenig neugierigen, der Fronarbeit ausgelieferten, respektbezeugenden, unterwürfigen und furchtsamen Arbeitermilieu einerseits, und einer verblödeten, dekadenten Mittelschicht andererseits, die es eilig zu haben schien, das Wenige an gesellschaftlichem und intellektuellem Ansehen, das sie hätte erben können, auszulöschen.

Faux départ, S. 116 (Übersetzung der Rezensentin)

Denn sie beobachtet, dass auch die mehr oder weniger nur für ihre Arbeit lebende Mittelschicht in Paris ein entfremdetes Dasein hat. Das Unbehagen, das die Autorin am Beispiel ihrer Protagonistin beschreibt, ist nicht nur ihrer Herkunft geschuldet, sondern auch Teil eines umfassenderen Lebensgefühls, das Generationen und soziale Schichten überschreitet und das in engem Zusammenhang mit der Technisierung, Sexualisierung und Ökonomisierung des ganzen Lebens steht, das auch Eva Illouz beschreibt (vgl. Rezension vom 25.2.2020). Bindungslosigkeit und Oberflächlichkeit als Folge von Akkumulation und Wahlfreiheit erstrecken sich dabei nicht nur auf zwischenmenschliche Beziehungen, sondern auch auf das Aurélie tief enttäuschende Bildungssystem und den stets zur Disposition stehenden Arbeitsplatz, der als Ort des Geldverdienens gleichwohl im Zentrum einer sich über Konsum und Lifestyle definierenden Gesellschaft steht. Auch Franck, der nicht mehr ganz junge und seines Single-Daseins überdrüssige Betriebswirt, mit dem Aurélie für eine Weile zusammenzieht, hat um den Preis von Einsamkeit und Burnout sein bisheriges Leben seiner beruflichen Karriere untergeordnet, um einen Lebensstandard zu erreichen, von dem Aurélie zwar nur träumen kann, der ihn in Paris jedoch nur um Haaresbreite vom Prekariat abgrenzt:

En province ils appartenaient à deux castes qui ne se fréquentaient pas, mais à Paris l’écart de niveau de vie entre classe moyenne et ouvriers disparaissait; il n’existait plus qu’une seule catégorie : les travailleurs pauvres.

Außerhalb von Paris gehörten sie zu zwei verschiedenen Kasten, die einander nicht begegneten, doch in Paris verschwand der Unterschied des Lebensstandards zwischen Mittelschicht und Arbeiterschicht; es gab nur noch eine einzige Kategorie: die arme arbeitende Schicht.

Faux départ, S. 174 (Übersetzung der Rezensentin)

Die Großstadt Paris ist in Faux départ gleichsam eine satirisch überspitzte Metapher für den urbanisierten Raum, an dem sich alles derart akkumuliert, dass sich die Wahlfreiheit in eine freiwillige Unterwerfung unter die ökonomischen Prinzipien verkehrt:

La vie en ville et ses temps de transports indécents limitaient singulièrement les aspirations à la lecture et aux séquences de repos. Le sexe, gage de plaisir immédiat et marqueur social, était devenu à lui seul un leitmotiv. Je baise donc je suis.

Das Leben in der Stadt und seine schamlosen Verkehrszeiten begrenzten die Sehnsucht nach Lektüre und einem Zur-Ruhe-Kommen auf einzigartige Weise. Der Sex war als Garantie unmittelbaren Genusses und als sozialer Marker ganz für sich allein zu einem Leitmotiv geworden. Ich ficke, also bin ich.

Faux départ, S. 167 (Übersetzung der Rezensentin)

Die Durchdringung von Sex, Konsum und urbanem Leben ist ein Motiv, dem Messina in ihrem Roman häufig nachspürt, mitunter in Sätzen, die tatsächlich sehr der Houellebecq’schen Sprache verwandt sind:

On n’avait jamais autant parlé de cul de manière libérée mais elle ne voyait que des célibataires decomplexés, obligés de consacrer une part non négligeable de leur revenu dans des sorties en quête du partenaire de débauche d’un soir ou d’un mois, délai maximal toléré.

Nie hatte man so viel und auf so befreite Weise über Sex gesprochen, und doch sah sie nur lauter Singles ohne Hemmungen, die sich verpflichtet fühlten, einen nicht geringen Teil ihres Einkommens fürs Weggehen aufzuwenden, auf der Suche nach einem Sexpartner für einen Abend oder — das war die maximal tolerierte Frist — für einen Monat.

Faux départ, S. 153 f. (Übersetzung der Rezensentin)

Im Schriftbild wird eine Eigenheit deutlich, die sich durch Messinas gesamten Text zieht, nämlich die Sichtbarmachung aktueller Diskurse und populärer Ausdrucksweisen durch Kursivdruck. Die Autorin entlarvt und ironisiert auf diese Weise verbreitete Labels begrifflicher Pauschalisierung, die zugleich viel über das Lebensgefühl unserer Gesellschaft verraten. Darüber hinaus legen diese auf eine metatextuelle Ebene verweisenden Markierungen die sich stets selbst hinterfragende Suche der Autorin nach einer Benennung immer fluiderer sozialer Beziehungen offen, die ja auch ihre Geschichte und die Sorgen ihrer Figuren bewegt.

Ähnlich wie Houellebecq beschreibt die Autorin die Wünsche und Nöte einer sexualisierten Gesellschaft und zeigt mit ihren verunsicherten und unzufriedenen Protagonisten die Kehrseite der scheinbaren Wahl-Freiheit auf: So hingezogen Alejandro sich zu Aurélie fühlt, die gerade durch ihre Unauffälligkeit und ihren Mangel an Selbstinszenierung unter all den jungen Frauen heraussticht, hat er Angst, eine Bindung zuzulassen. Getrieben von dem irrealen und doch allseits idealisierten Wunsch, alle Möglichkeiten auszukosten, verspürt er letztlich nur Leere, Einsamkeit, Melancholie und ein nicht näher bestimmbares Ungenügen: eine Art postmodernen „ennui“. Aurélie hingegen fühlt sich hoffnungslos überfordert im allgegenwärtigen Inszenierungswettbewerb, in dem sie aufgrund ihrer prekären Herkunft und auch aufgrund ihres fast aus der Zeit gefallenen romantischen Charakters von vornherein unterlegen ist.

Les femmes, elles, seraient toujours prêtes à mourir pour un homme qu’elles penseraient être unique (…); les hommes considéraient les femmes comme à leur disposition, elles devraient lutter pour être plus désirables que leurs congénères, se faire toujours plus belles, plus minces, plus toniques. Au contraire du règne animal, ce n’était pas à l’élément masculin de se battre pour conquérir la femelle qui assurerait la perpétuation de l’espèce, mais à la femelle de se battre pour avoir l’honneur de se faire pénétrer dans le cadre d’un rapport sexuel stérile. Ce retournement de la situation permettait à des acteurs du marché d’enregistrer des bénéfices records pour des biens et services marchands dévolus à la seule modification constante du corps féminin (…).

Die Frauen würden immer bereit sein, für einen Mann zu sterben, den sie für einzigartig hielten (…); die Männer hielten die Frauen für jederzeit verfügbar, sie — die Frauen — sollten darum kämpfen, begehrenswerter als ihre Geschlechtsgenossinnen zu sein, immer noch schöner, schlanker, anregender zu werden. Im Unterschied zum Tierreich war es nicht Aufgabe des Männchens zu kämpfen, um das Weibchen zu erobern, das das Fortleben der Art sicherstellte, sondern es war Aufgabe des Weibchens um die Ehre zu kämpfen, im Rahmen einer sterilen sexuellen Beziehung penetriert zu werden. Eine solche Umkehrung der Situation ermöglichte den Playern auf dem ökonomischen Markt, Rekordgewinne für ökonomische Güter und Dienstleistungen einzustreichen, die einzig der fortwährenden Anpassung des weiblichen Körpers dienten.

Faux départ, S. 147 (Übersetzung der Rezensentin)

Geradezu erfrischend liest sich hier der satirisch überspitzte weibliche Gegenblick zu Houellebecqs männlicher Perspektive, der einen an Eva Illouz‘ Feststellung erinnert, dass in der vernetzten Welt der Wahlfreiheit weiterhin gewisse Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen bestehen. Unabhängig vom Geschlecht tun sich auch bei Marion Messina die Figuren am schwersten, die sich nach Liebe und Bindung sehnen; die zitierte Passage macht deutlich, wie der beständige Konkurrenzkampf, in dem man sich bei der Suche nach einer romantischen Beziehung behaupten muss, an den Kräften und auch am Geldbeutel der Beteiligten nagt. Indem Messina jedoch eine weibliche Perspektive ins Zentrum rückt, kann sie vielleicht sogar noch besser die Kehrseite der allseits postulierten sexuellen Autonomie einfangen. Folgendes Zitat unterstreicht die Ambivalenz von Freiheit und Emanzipation, die dem ganzen Roman innewohnt:

…elle se réjouissait de pouvoir se soustraire aux convenances auxquelles elle aurait pourtant tant voulu se soumettre…

…sie freute sich, sich den Konventionen zu entziehen, denen sie sich doch so gern unterworfen hätte…

Faux départ, S. 80 (Übersetzung der Rezensentin)

Hervorheben muss man auch, dass sich Aurélie, gleichwohl in zweierlei Hinsicht scheinbar in der Situation des Opfers, als romantisch empfindende Frau und als Sprössling der Unterschicht, nicht eindeutig auf diese Rolle beschränken lässt. Zwar ist sie in der Beziehung mit Alejandro diejenige, die mehr liebt und mehr unter der Unverbindlichkeit der Beziehung leidet, doch darf man nicht übersehen, dass sie sich gleich zweimal aus freien Stücken für diese auf wackligen Füßen stehende Beziehung entscheidet. In der späteren Beziehung zu Franck ist sie sich der Machtverhältnisse absolut bewusst; hier nutzt sie ihr eigenes Kapital als junge attraktive Frau, die sich selbst im Austausch für eine gewisse Stabilität und den Komfort einer Wohnung einem Mann hingibt, der wiederum sein bisheriges emotionales Leben dem Beruf „geopfert“ hat. Schließlich verlässt sie Franck und entscheidet sich gegen eine Beziehung, in der sie keine emotionale Erfüllung findet.

Ausbeuterisch erscheinen fast eher die makroökonomischen Strukturen, der sich die meisten Menschen freilich allzu bereitwillig fügen. Messina erwähnt die „Gelbwesten“ mit keiner Silbe, ebenso wenig treten irgendwelche Rechts- oder Linkspopulisten auf; doch umso eindringlicher gelingt es ihr, am persönlichen und berührenden Schicksal zweier junger Menschen zu illustrieren, inwiefern sich hinter sozialen Ungleichheiten Machtstrukturen verbergen, die über eine stigmatisierte Klasse hinausreichen. Im Gedächtnis haften bleiben in diesem Kontext auch Aurélies Bewerbungsgespräch und die Beschreibungen ihres Arbeitsalltags als Messehostess. Die Einstellungsprozedur ist so aufwendig, als handelte es sich um einen hochkarätigen Posten, wo doch die Entlohnung und damit der Wert der Arbeitskraft hier in keinem Verhältnis etwa zur verlangten Ausbildung stehen; die ständige Verfügbarkeit und der mobile Einsatz an weit entlegenen Orten der Großstadt stehen im Kontrast zur niedrigen Bezahlung, die Aurélie nicht einmal für Essen, Kleidung und Wohnung ausreicht. Dennoch ist die Konkurrenz selbst im niedrig entlohnten und doch so benötigten Dienstleistungssektor riesig.

Avant les gens allaient à la messe, maintenant ils vont au travail, exécuter des gestes, des rituels, prononcer toujours les mêmes phrases. Ils en sortent épuisés et rassurés. (…) Rien n’angoisse plus que le chômage.

Früher gingen die Menschen in die Kirche, jetzt gehen sie in die Arbeit und führen bestimmte Gesten und Rituale aus, sprechen immer wieder dieselben Sätze. Um dann erschöpft und beruhigt nach Hause zu gehen. (…) Nichts macht mehr Angst als die Arbeitslosigkeit.

Faux départ, S. 194 f. (Übersetzung der Rezensentin)

Am Ende des Romans ist Aurélie gerade mal 20 Jahre alt, hat aber bereits so viele desillusionierende Erfahrungen gemacht, dass sie nun eine Entscheidung trifft, die vielleicht zum ersten Mal so frei ist, wie es eben geht.

Bibliographische Angaben
Marion Messina: Faux départ, J’ai lu (2018)
ISBN: 9782290164907

Zur deutschen Ausgabe im Carl Hanser Verlag:



Bildquelle
Marion Messina, Fehlstart
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
© 2020 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

bookmark_borderClarice Lispector: Perto do coração selvagem

Hand aufs wilde Herz — wer kennt Clarice Lispector (1920-1977), die ukrainisch-brasilianische Schriftstellerin mit dem faszinierenden Namen, und wer hat schon einmal etwas von ihr gelesen? Bestimmt nicht viele, schließlich sind noch längst nicht alle ihre Werke ins Deutsche übersetzt. Dabei ist sie, die zu Lebzeiten eine angesehene Journalistin und geheimnisumwitterte Autorin anspruchsvoller Prosa war, nicht weniger schillernd und modern, sich ebenso literarischen oder das soziale Geschlecht betreffenden Zuschreibungen entziehend, wie Virginia Woolf, mit der sie bisweilen verglichen wird. Doch es scheint — ich hoffe es sehr — als würde Lispectors Literatur seit kurzem auch bei uns wieder oder neu entdeckt werden. Immerhin hat der Penguin Verlag gerade zum ersten Mal ihre Kurzprosa in deutscher Übersetzung unter dem schönen Titel Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau veröffentlicht, und seit ein paar Jahren kann man in der umfangreichen Biographie von Benjamin Moser, die im Schöffling Verlag erschienen ist, der seinerseits Romane von ihr in neuer Übersetzung herausgibt, auch intensiv in Leben und Schreiben dieser Frau eintauchen, deren extravagante Texte einen Sog entwickeln, der zugleich irritierend und faszinierend, vor den Kopf stoßend und poetisch ist.

Ich möchte hier allen Lesern mit einem offenen Herzen für wilde Prosa Clarice Lispectors ersten Roman ans Herz legen. Sie schrieb ihn als ganz junge Frau mit Anfang 20 und gab ihm den Titel Perto do coração selvagem (Nahe dem wilden Herzen), ein Zitat aus James Joyce Portrait of the Artist as a Young Man.

1944, als der Roman erschien, hatte sich Clarice Lispector gerade gegen den Willen der Eltern mit einem brasilianischen Konsul vermählt, mit dem sie zwei Kinder haben und die meiste Zeit ihrer Ehe im Ausland verbringen würde. 1959 lässt sie sich scheiden, kehrt nach Brasilien zurück und zieht ihre Söhne alleine auf. Die journalistische Arbeit dient ihr hauptsächlich als Broterwerb, während sie parallel ihre literarischen Projekte voranbringt, zahlreiche Romane und Kurzgeschichten veröffentlicht, ehe sie 1977 an Krebs stirbt. Auch wenn Clarice Lispector, die nach der Ankunft in Brasilien einen portugiesischen Vornamen bekommt und im Unterschied zu ihren Eltern mit der portugiesischen Sprache und der brasilianischen Kultur aufwächst, scheint sie doch zeitlebens ihre Identität als etwas Flüchtiges und Multiples zu begreifen und über ihr Schreiben zu greifen versuchen. Über ihre Herkunft hält sie sich bedeckt und verschleiert auch ihr wahres Geburtsdatum: Tatsächlich wurde sie 1920 in einem jüdischen Schtetl in der Ukraine geboren und floh noch als Kleinkind wegen nationalistischer und kommunistischer Pogrome mit ihrer Familie über Deutschland nach Brasilien. (Einen schönen ersten Einblick in Biographie und Werk gibt F. P. Ingold in der Zürcher Zeitung: „Das Geheimnis der Sphinx“.)

Mit „Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau“, der deutsche Titel ihrer Kurzprosa, ließe sich auch ihr erster Prosatext ziemlich gut charakterisieren. In Nahe dem wilden Herzen geht es um eine junge Frau, Joana, und ihre rastlose Suche nach einem Ausdruck ihres immer wieder als fluide wahrgenommenen Selbst und des komplexen Verhältnisses von Ich und Welt, das sie in Worte zu fassen sucht, die sich im Prozess des Formulierens, ja eigentlich während sie nur gedacht werden, bereits wieder entziehen. Und so wird Joanas Leben von der Kindheit bis in die jungen Erwachsenenjahre hinein in einer losen, unsteten, assoziativen Weise erzählt, einzelne Phasen ihres Lebens werden in wenigen, extrem verdichteten und oft onirisch verfremdeten Szenen heraufbeschworen, Schwebezustände zwischen Wachsein und Schlaf oder Traum ausgelotet, in denen die mäandernde, sich stets neu formende und nie still stehende Gedankenwelt einer weiblichen Stimme imaginiert wird, wobei selbst das Weibliche alles andere als eine stabile, klar umrissene Größe darstellt. Es ist ein Schreiben, das ganz aus dem Inneren heraus zu entstehen scheint, das ein wenig den Bewusstseinsströmen bei Virginia Woolf oder James Joyce verwandt ist, und doch etwas ganz eigenes hervorbringt.

Anstatt einer kausalen und temporalen Ordnung schafft Clarice Lispector ein nicht klar voneinander zu trennendes Ineinander von eher spärlicher Handlung und subtilen, unterschwelligen Empfindungen. Man muss sich auf die Lektüre einlassen und bereit sein, sich ihr in gewisser Weise ebenso intuitiv hinzugeben wie Joana sich ihren Protogedanken in den frühen Morgenstunden hingibt, wenn das Gehirn noch nicht auf seinen rationalen Modus umgeschaltet hat. Auch um den Preis, wie Joana ein gewisses Ungenügen zu verspüren, wenn die bezaubernde, berauschende Idee einem im nächsten Moment schon wieder entgleitet. Doch vielleicht liegt gerade darin das Wesen der Freiheit, der Wahrheit, der Ewigkeit? Joana weiß, dass sie die Dinge nur fühlen kann, ohne sie zu besitzen („sentir a coisa sem possuí-la“, S. 22), denn die Kehrseite wäre, von den Dingen besessen zu werden („E havia um meio de ter as coisas sem que as coisas a possuíssem?“, S. 31). Auf jeden Fall scheint dieser Schwebezustand, diese Unfassbarkeit und Wandelbarkeit der Dinge, gerade den Reiz der Imagination auszumachen:

Pensar agora, por exemplo, em regatos louros. Exatamente porque não existem regatos louros, compreende?

Zum Beispiel, an goldblonde Bäche denken. Genau aus dem Grund, weil es keine goldblonden Bäche gibt, verstehst du?

Perto do coração selvagem, S. 20

Auch wenn der Roman quasi von einer Metapher strukturiert wird, gibt es durchaus Handlungselemente, die Einblick in Joanas Leben geben, so etwa die Abwesenheit der Mutter, der frühe Verlust des Vaters, das Unverständnis und die Angst der Tante vor der kleinen Joana, die sie als „víbora“ (Viper) bezeichnet und ins Internat schickt, weil sie mit ihrer Art, Grenzen auszutesten, nicht zurecht kommt, Joanas Heirat mit dem Rechtsanwalt Otávio, die Begegnung mit seiner Ex-Verlobten Lídia, die nun zu seiner Geliebten geworden ist, die Trennung des Ehepaares. Dabei wird Joana, die ihr Selbst als äußerst instabil und flüchtig erlebt, immer wieder auf sich zurückgeworfen. Sie versucht, sich in Beziehungen zu verorten, doch erfährt sie diese als instabil und einengend. Sie versucht, sich mit anderen Frauen zu vergleichen, Ähnlichkeiten aufzuspüren, doch erlebt sie sich immer als anders und findet sich in keinem der beobachteten Rollenmodelle wieder.

Es ist erstaunlich, dass Clarice Lispector diesen Text, in dem sie eine verletzliche und zugleich starke Frauenfigur mit einem unbändigen Verlangen nach Freiheit in so vielen ambivalenten, faszinierenden Schattierungen skizziert, zu einem so frühen Zeitpunkt ihres Lebens geschrieben hat.

Unkonventionell und modern ist dieses Buch noch immer: ob es der Frage der weiblichen Eigenständigkeit nachgeht oder mit fluide gewordenen Kategorien von „gut“ und „böse“ experimentiert, das unerwartete Verhalten der Protagonistin stellt alles Starre, Festgefahrene, Einengende in Frage und auf den Kopf.

Clarice Lispector: Perto do coração selvagem [1944], Rocco (1998)
ISBN: 9788532508102
Zur deutschen Übersetzung beim Schöffling Verlag
Clarice Lispector: Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau, Penguin Verlag (2019)
ISBN: 9783328600947

bookmark_borderElena Ferrante: La vita bugiarda degli adulti

Elena Ferrantes neuen Roman habe ich lang und bang herbeigesehnt und konnte es deshalb trotz der wirklich schönen deutschen Übersetzungen im Suhrkamp-Verlag natürlich nicht abwarten, bis er auf deutsch erscheint. Daher nun meine Eindrücke des italienischen Textes, der — wie man es bei der Autorin inzwischen beinahe schon erwartet — mit einem Satz einsetzt, der einen schockiert:

Due anni prima di andarsene di casa mio padre disse a mia madre che ero molto brutta.

Zwei Jahre, bevor mein Vater unser Zuhause verließ, sagte er zu meiner Mutter, dass ich sehr hässlich sei.

La vita bugiarda degli adulti, S. 9 (Kap. I, 1)

Der Schock trifft den Leser fast ebenso unmittelbar wie die junge Giovanna, zugleich Protagonistin und Erzählerin, die sich zum Zeitpunkt der Geschichte überdies gerade in dem von Natur aus sehr fragilen Zwischenstadium zwischen Kindheit und Teenageralter befindet. Wie schon in ihrem großen Vierteiler über Neapel schreibt sich die Autorin ein weiteres Mal in die komplexe Gefühlswelt einer Heranwachsenden ein — und macht Neapel ein weiteres Mal zum konfliktreichen Schauplatz einer Familiengeschichte.

Der fast gedankenlos vom Vater geäußerte, wenngleich freilich nicht für die Ohren seiner Tochter bestimmte Satz, den das junge Mädchen zufällig aufschnappt, bringt die ganze, überaus fesselnd erzählte Geschichte ins Rollen, die in erster Linie als Psychogramm einer Heranwachsenden gelesen werden muss. Hier erweist sich Elena Ferrante erneut als Meisterin; es ist schlicht und ergreifend bewundernswert, wie sie psychologisch so glaubhaft und nuancenreich in Worte fasst, was für Seismen eine solche Äußerung aus dem Munde einer Bezugsperson in einem jungen, im Formen sich befindlichen Menschen auslösen kann. Den weiteren Worten des Vaters entnimmt Giovanna, dass die Hässlichkeit mit ihrer Ähnlichkeit mit der Schwester ihres Vaters, der geächteten und geheimnisvollen Tante Vittoria, zu tun hat.

Anstatt das Gespräch mit den Eltern zu suchen, stellt die sensible und zutiefst verunsicherte Giovanna lieber auf eigene Faust Nachforschungen an, um dem Rätsel ihrer Tante, zu der ihre Familie schon lange den Kontakt abgebrochen hat, auf die Spur zu kommen und vielleicht den Fluch der Hässlichkeit noch abzuwenden zu können. Auch wenn ihre Eltern ihr plötzliches Interesse für Zia Vittoria irgendwann mitbekommen und ihr die Kontaktaufnahme daraufhin zwar nicht direkt verbieten, aber eben auch nicht gutheißen, so lastet auf diesem väterlichen Familienzweig doch ein gewisses Tabu, das einen offenen Austausch unmöglich macht. Somit markiert diese Episode den Beginn der Heimlichkeiten und die schleichende Infragestellung der zuvor unerschütterlich geltenden Autorität und Integrität der Eltern.

Auch räumlich führt diese Episode zu einer Grenzüberschreitung. Denn die Tante wohnt in einem anderen, dem Elternhaus Giovannas geradezu entgegengesetzten Viertel von Neapel. Während sich Giovannas Leben bisher ausschließlich im oberen, kultivierten, reicheren Teil der Stadt abgespielt hat, lernt sie bei Vittoria den unteren Teil kennen, in dem die ärmeren, weniger gebildeten Bevölkerungsschichten wohnen — und aus dem ihr Vater sich schon vor Giovannas Geburt über den Weg der akademischen Bildung herausgearbeitet hat. Es zeichnet sich hier ein Klassenkonflikt ab, den die Autorin mit der psychologischen Ebene des Romans zu einem komplexen psychosozialen Gefüge verflicht, in dem Unsicherheiten, Streit und Konkurrenz ihren Ursprung haben. Im Laufe der Geschichte wird Giovanna vertrauter im Umgang mit den verschiedenen Sprachen und Verhaltensweisen der beiden Neapel, sie wird zu einer Art Weltenwanderin, hin und her gerissen zwischen den Orten und den zu den Orten gehörigen Menschen, und dabei immer auf der Suche nach Wahrhaftigkeit.

Zunächst durchlebt sie jedoch eine Tragödie im Stillen, die sie ganz mit sich selbst ausficht. Die Angst wird ihr zum Begleiter, sie malt sich Schreckliches aus und erlebt den Reichtum ihrer Fantasie als Alptraum. Umso unerwarteter gestaltet sich der erste Besuch bei der Tante, die ihr so ganz anders erscheint, als sie sie sich ausgehend von den Andeutungen ihrer Eltern vorgestellt hat. Vittoria ist impulsiv, ausgelassen, gefühlsbetont, unkonventionell und kommt Giovanna wunderschön vor.

Ihren Eltern gegenüber wagt sie das jedoch nicht auszusprechen, vielmehr bestätigt sie die Eltern in ihren Vorurteilen. Dies markiert den Beginn des unaufrichtigen Sprechens, einer mit dem Eintritt ins Erwachsenenleben schier unvermeidlichen Begleiterscheinung. Tante Vittoria passt auch deshalb nicht in das kultivierte Leben der Eltern Giovannas, da sie diesen unausgesprochenen Kodex ignoriert. Auf ihrem Gesicht lässt sich ihre Stimmung, ihre Meinung jederzeit ablesen. Daher sind die Besuche bei Viittoria für Giovanna eine heftige, auch oft schmerzhafte Erfahrung, ihre Impulsivität schüchtert sie ein, ja, wenn Vittoria in Zorn gerät, wird sie zur „diavola“, zur Teufelin, und ihr Gesicht erscheint Giovanna in diesen Momenten tatsächlich hässlich, ist es doch der unverfälschte Ausdruck ihrer negativen Gefühle. Gleichzeitig ist sie fasziniert von der romantischen Liebesgeschichte ihrer Tante, deren unkonventionelle Lebensweise — so teilt sie sich mit der Witwe ihres verstorbenen Geliebten Enzo die Erziehung von deren Kindern — Einblick in eine scheinbar authentischere Welt zu geben scheint. Doch erweist sich auch diese als keineswegs frei von Gewalt und Misstrauen…

Das gehemmte Verhältnis von Giovannas Familie zu Vittoria ist außerdem Ausdruck des Krisenhaften, das längst unter der Oberfläche lauert. Giovannas Eltern trennen sich, und die Familienkrise wird zur Metapher für die beschwerliche Annäherung an das Erwachsensein, zeigt sie doch exemplarisch ein ganzes Gespinst von Lebenslügen, gegenüber den Personen, die einem am meisten vertrauen, und genauso gegenüber sich selbst. „Menzogna“ (Lüge) und „preghiera“ (Gebet) treten nun fast zeitgleich in Giovannas Leben ein. Sie sind zwei Arten, sich zu einer gänzlich neuen Erfahrung der Wirklichkeit zu verhalten, die mit einem Gefühl des Unwohlseins in und gegenüber der Gesellschaft, und auch mit der Angst, bestimmte Dinge auszusprechen, verbunden ist: Lügen als Gesellschaftskunst und das Gebet als Ausdruck der Hoffnung, ein Verhältnis zu sich selbst zu finden, ohne sich verbiegen und ohne andere oder sich selbst verletzen zu müssen.

In der verschachtelten Geschichte des — auch von Giovanna zeitweise getragenen — schlichten silbernen Armbands, die sich durch die gesamte Handlung zieht, nehmen die komplizierten Beziehungen der Erwachsenen zueinander symbolisch Gestalt an: Die stückweise Offenbarung, wer es wem wann geschenkt, gestohlen oder zurückgegeben hat, begleitet den Enthüllungsprozess der Intrige ebenso wie den Verstehens- und Desillusionierungsprozess der heranwachsenden Giovanna. Das Armband verkörpert all die Lügen, die Liebe, die Eifersucht und die Hoffnung in der Geschichte von Giovannas Familie, in diesem komplexen Beziehungsgeflecht, dessen Entwirrung mit einem schmerzhaften Verlust von Sicherheiten einhergeht.

Erzählt wird die Handlung im Rückblick, immer wieder werden behutsam reflektierende Zeilen eingeschoben, die ein bestimmtes Verhalten oder die Gedankengänge der jungen Giovanna aus einer späteren Perspektive einzuordnen versuchen. Dies geschieht aber ganz unaufdringlich, und auch sonst herrscht eine sehr präsentische, unmittelbare Erzählweise vor, so dass man als Leser intensiv ins Geschehen und in die Gedankenwelt des jungen Mädchens hineingezogen wird.

Ferrantes literarische Besonderheit, ihre Stärke erweist sich dabei wieder in einem direkten, schonungslosen, oft geradezu schmerzhaften Stil, der nichts verschweigt oder beschönigt, zugleich aber umso ehrlicher auch die Empathie des Lesers weckt; man fühlt mit den Figuren und nimmt sie als — zwar zerrissene, ambivalente, egoistische, aber auch liebende, sich sehnende, fürchtende, hoffende — Menschen wahr. Dieses so wunderbar aus dem Text herauswachsende und gerade nicht plakativ verkündete Humanitätsideal verdichtet sich in La vita bugiarda degli adulti in einer ganz zart, ganz unauffällig in den Text eingearbeiteten Erkenntnis Giovannas, die beobachtet, wie sich zwei Menschen voneinander entfernen und Schmerz zufügen, wenn sie sich nicht mehr sehen, nicht mehr ansehen. Dann verwandeln sie sich selbst zu wilden Tieren, werden anfällig für Gewaltausbrüche:

Cosa succedeva, insomma, nel mondo degli adulti, nella testa di persone ragionevolissime, nei loro corpi carichi di sapere? Cosa li riduceva ad animali tra i più inaffidabili, peggio dei rettili?

Was ging da eigentlich vor in der Welt der Erwachsenen, im Kopf von absolut vernünftigen Menschen, in ihren mit Wissen vollbeladenen Körpern? Was setzte sie herab zu den unzuverlässigsten Tieren, schlimmer als Reptilien?

La vita bugiarda degli adulti, S. 131 (Kap. IV, 1)

Den anderen als anderen wahrzunehmen, ihn zu sehen, macht ein Miteinander aus, in dem die Menschen sich so begegnen, dass Respekt und Wohlgefühl entstehen. Doch gerade als Heranwachsende dominiert meist ein Gefühl des Unwohlseins, des Unangenehmen in der Gesellschaft mit anderen. Denn von anderen angesehen zu werden, bedeutet auch, bewertet zu werden, ein bestimmtes Bild seiner selbst aufoktroyiert zu bekommen, das der eigenen Wahrnehmung widerspricht, das einen verunsichert. So klingt mit dem Motiv des Sehens und der Schönheit, das sich durch den Roman hindurchzieht, auch die philosophische Frage nach dem Verhältnis von Ich und Gesellschaft an. Indem Ferrante die Bildung der eigenen Identität durch den oder in Auseinandersetzung mit dem Blick der anderen, die dadurch entstehende Verunsicherung und Scham zum zentralen Thema ihres Romans macht, rückt sie auch in die Nähe einer existenzialistischen Philosophie, wie sie vor allem Sartre in L’Être et le néant entworfen hat. Giovanna begreift im Laufe der Geschichte den großen Einfluss, den der Blick der anderen auf sie für ihre Selbstwahrnehmung hat:

Mi è già cambiata la faccia per colpa di mio padre et sono diventata brutta; non giocare a cambiarmela anche tu facendomela diventare bella. Sono stanca di essere esposta alle parole altrui. Ho bisogno di sapere cosa davvero sono e quale persona posso diventare, aiutami.

Mein Aussehen wurde schon einmal, durch meinen Vater, verändert, und ich war auf einmal hässlich; spiel nicht auch du das gleiche Spiel mit mir, mein Aussehen zu verändern, indem du mich schön werden lässt. Ich bin es leid, den Worten der anderen ausgeliefert zu sein. Ich muss wissen, was ich wirklich bin und welche Person ich werden kann, hilf mir.

La vita bugiarda degli adulti, S. 295 (Kap. VI, 18)

Diese Worte formuliert Giovanna bezeichnenderweise nur in ihrem Geist, sie spricht sie nicht aus, was symptomatisch für die Verunsicherung der heranwachsenden Protagonistin ist und zugleich ein schönes Beispiel für den sich in den Worten ausprobierenden Stil der Erzählerin. So ist der Roman im Grunde nichts anderes als die Suche einer Schreibenden nach sich selbst, die auch die Suche nach einem moralischen Maßstab beinhaltet.

La bellezza che Roberto mi aveva riconosciuto assomigliava troppo a quella di chi fa male alla gente.

Die Schönheit, die Roberto mir zugestanden hatte, ähnelte zu sehr dem, was den Menschen wehtut.

La vita bugiarda degli adulti, S. 302 (Kap. VI, 21)

Giovanna macht die Erfahrung, dass Schönheit andere verletzen kann, dass Liebe und Begehren auch Konkurrenz und Neid hervorrufen, und dass eine Beziehung ohne negative Gefühle bewundernswert, aber sehr schwer zu erreichen ist:

A me piacque […] quella devozione senza nemmeno una sfumatura di invidia o di malvolenza

Mir gefiel jene Hingabe, die ohne den geringsten Beigeschmack von Neid oder Missgunst auskam.

La vita bugiarda degli adulti, S. 219 (Kap. V, 14)

So ist das Erwachsenwerden beides: seine Illusionen zu verlieren, aber auch, Ideale als solche zu erkennen und sich zu bemühen, sich ihnen anzunähern. Den Schmerz trägt die schreibend sich erfahrende erwachsene Ich-Erzählerin noch immer in sich, der Versuch, sich eine Persönlichkeit aufzubauen, ist mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter keinesfalls abgeschlossen, sondern eine von Mühen und Zweifeln begleitete Lebensaufgabe.

Elena Ferrante: La vita bugiarda degli adulti, edizioni e/o (2019)
ISBN: 9788833571683

bookmark_borderJérôme Ferrari: À son image

Mit seiner unvergleichlichen Sprache hat mich Jérôme Ferrari, den man in Deutschland vor allem durch seine Korsika-Trilogie kennt, auch in sein neues Buch tief, fast zu tief hineingezogen, man entkommt seiner Geschichte nicht unberührt, so wie die Figuren seines Romans der Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht unverletzt entkommen. Fasziniert und betroffen habe ich das Leben der jung verunglückten (Kriegs-)Fotografin Antonia im Rhythmus der Perspektiven und Zeiten zu einem virtuosen literarischen Gesamtkunstwerk fügenden Erzählerstimme miterlebt und mitreflektiert. Wäre der geschriebene Text eine Predigt, an den Lippen eines Priesters abzulesen, man würde an ihnen hängen bis zum letzten Wort, bis die Messe vorüber ist. Mit diesem Bild befindet man sich auch schon beinahe in dem poetisch-metaphysischen Raum, den Ferrari für seinen Roman geschaffen hat.

Antonia, die im Zentrum des Romans stehende junge Frau, verunglückt 2003 auf der Heimfahrt von Calvi, wo sie eine Hochzeit fotografiert hat, tödlich. Der Zufall oder das Schicksal hat sie kurz zuvor noch mit dem Kriegsveteranen Dragan zusammengeführt, den sie das letzte Mal vor zehn Jahren gesehen hatte, als sie ihn für eine Reportage über den Jugoslawienkrieg fotografiert und begleitet hatte. Ihr Leichnam wird in ihrem Heimatdorf aufgebahrt, die zwölf Kapitel des Romans entsprechen Abschnitten aus der katholischen Totenmesse, die von ihrem Patenonkel gehalten wird, der zugleich die Rolle des Priesters, des liebenden und trauernden Verwandten sowie in großen Teilen auch die eines personalen Erzählers einnimmt, aus dessen Innenschau wir das meiste über Antonias Leben erfahren.

Die Lebensgeschichte Antonias verknüpft Ferrari aufs Engste mit einer Geschichte der Fotografie, indem er tiefgründige Reflexionen über das Wesen dieses Mediums und seine Funktion für die Geschichte des 20. Jahrhunderts in die Erzählung integriert. Das intime Band zwischen Fotografie und Tod zieht sich durch den gesamten Roman, so dass man immer wieder an Roland Barthes‘ berühmten Essay über die Fotografie, La Chambre claire (Die helle Kammer), erinnert wird, an seine Beschreibung von Bildern zum Tode Verurteilter und auch an seine Definition des geheimnisvollen „punctum“, des Zufälligen der Fotografie, das emotional, unbewusst und eben auch gewaltsam auf den Betrachter wirkt und ihn verwundet. Von daher ist es nur konsequent, wenn Ferrari in seinem Roman auch der Affinität der Fotografie zur Gewalt auf den Grund zu gehen versucht, ihre Funktion im Krieg, ihre Neigung zur Obszönität oder zur symbolischen Überfrachtung erforscht sowie ihrer oft nur dem Zufall zu verdankenden Bedeutung oder eben auch Bedeutungslosigkeit nachgeht.

Jedem Kapitel ist eine Bildunterschrift vorangestellt, jedoch ohne den Abdruck der zugehörigen Fotografien, die sich meist aus der Imagination des Autors speisen, der diese fiktiven Bilder mit großer Suggestionskraft aus der Erzählung der Geschichte hervorgehen lässt. Zum Teil handelt es sich auch um real existierende Fotografien, die Ferrari — so liest man im Nachwort — zu seiner Geschichte inspiriert haben, ebenso wie auch die fiktionalisierten historischen Figuren, deren Fotografen-Biographien er in die Erzählung einbaut. Auf diese Weise ist dem Roman eine Meta-Ebene eingeschrieben, die aber an keiner Stelle den Lesefluss oder die poetische Bildersprache unterbricht, vielmehr der Geschichte noch mehr Dichte und Tiefe verleiht. Denn so wie die korsische Biographie Antonias und ihrer Familie und Freunde, darunter viele Separatisten, auf der Makroebene die Geschichte des 20. Jahrhunderts, seiner Gewalt und seiner Kriege, widerspiegelt, wird die fotografische (Sinn-)Suche der jungen Frau auch in eine universelle Beziehung gesetzt zu den über das visuelle Medium aufgeworfenen Fragen nach dem Verhältnis von Ästhetik und Verantwortung, Idolatrie und Wahrhaftigkeit, Oberflächlichkeit und Obszönität.

Spannend ist in dieser Hinsicht auch die religiöse oder eher metaphysische Dimension, in der sich der Text bewegt, was schon durch den liturgischen Rahmen der Erzählsituation deutlich wird, und die sich immer wieder in den assoziativ sich hin und herbewegenden Gedanken und Erinnerungen des Priesters manifestiert. Der Priester selbst hat bezeichnenderweise als einzige der tragenden Figuren keinen Namen, er ist der Patenonkel Antonias, die er geliebt und gefördert hat und für deren Tod er kaum Trost finden kann. Immer wieder hadert er, muss um seinen Glauben kämpfen, der alles andere als selbstverständlich in sein Leben trat. In seiner Person sind deutliche Anklänge an Georges Bernanos auszumachen, fast scheint er eine Verkörperung von dessen Tagebuch schreibendem Landpfarrer zu sein. Die Schilderung seiner plötzlichen Berufung zum Priestertum hingegen erinnert an die zentrale Passage in Bernanos‘ Sous le Soleil de Satan (Die Sonne Satans), er fühlt sich, allein des Nachts auf dem kilometerlangen Heimweg ins Dorf, verfolgt von einer unheimlichen Gestalt, die aber unsichtbar bleibt:

Il a l’impression que quelqu’un le suit. Il se retourne de temps en temps pour scruter les ténèbres. Son cœur s’affole.

Es kommt ihm vor, als würde ihm jemand folgen. Er dreht sich von Zeit zu Zeit um und versucht, die Dunkelheit zu durchdringen. Sein Herz ist wahnsinnig vor Angst.

A son image, S. 101 (Kap. 6)

Tatsächlich ist seine Berufung untrennbar mit dem Tod verknüpft: In ebenjener Nacht, in der Antonias Onkel angst- und ahnungsvoll am Pfarramt vorüberläuft, stirbt der alte Priester. Und die Nachfolge ist mit Schmerz verbunden, der Berufene verlässt seine Freundin und deren Sohn —

il les abandonne tous les deux pour répondre à l’appel d’une voix qui a retenti dans la nuit

er lässt sie alle beide zurück, um dem Ruf einer Stimme zu folgen, die in der Nacht erklungen ist

A son image, S. 103 (Kap. 6)

— und er verlässt später auch seine Heimatgemeinde, um aufs französische Festland zu gehen, nachdem mehrere junge Männer in der Gewaltspirale des korsischen Separatismus zu Tode gekommen sind, obwohl sie sich in der Zwischenzeit vom militanten Kampf abgewendet hatten. Sie zu beerdigen übersteigt seine Kraft.

Die innerliche Zerrissenheit, mit der er sich unablässig auseinandersetzt, macht den Priester zu einer sehr sympathischen, aber zugleich auch tragischen Figur mit einer fast übergroßen Verantwortung, die er in seiner Totenmesse für Antonia anzunehmen versucht. Denn er war es, der Antonia einst die Kamera geschenkt, der sie zu ihrer Berufung hingeführt hatte, an der sie sich ein Leben lang verzweifelt abarbeiten würde. Ihre Suche nach Wahrheit, nach Wahrhaftigkeit ließ sie sich mitten hinein begeben in die Gewalt der Natur, der Menschen, des Krieges — bis sie durch ihre Erfahrung im Jugoslawienkrieg den Glauben nicht nur an Gott, sondern auch an die Fotografie verlor. Ihre Kriegsreportage, die ihr anfangs als langersehnte Erfüllung ihrer mühevollen, oft frustrierenden Fotografen- und Journalistenkarriere erschien, würde sie nie veröffentlichen:

Elle commence à penser qu’elle a vu quelque chose qu’il aurait été infiniment préférable pour elle de ne pas voir parce que maintenant, elle ne peut plus en détourner le regard.

Sie begreift allmählich, dass es für sie unendlich viel besser gewesen wäre, wenn sie das, was sie gesehen hat, nie gesehen hätte, denn jetzt kann sie den Blick davon nie mehr abwenden.

A son image, S. 178 (Kap. 10)

Sie zieht sich aus dem Journalismus zurück und macht von nun an nur noch harmlose Hochzeitsfotos. Ihr Scheitern ist verbunden mit der resignierten Feststellung, dass es nur zwei Arten von Bildern gibt: Entweder sie sind belanglos oder obszön, entweder haben sie zu wenig oder zu viel Bedeutung, entweder sind sie oberflächlich und für die Nachwelt nicht relevant oder aber sie treffen so mitten hinein, dass es pietätlos und grausam wäre, sie zu veröffentlichen.

Eine dritte Möglichkeit des Bildes deutet der Autor mehrmals an, wenngleich die Frage offen bleibt, ob sie letztlich ein unmögliches Unterfangen, eine Utopie darstellt: wenn es dem Bild nämlich gelingt, die Ebene des Todes durch die Ebene der Transzendenz zu durchbrechen, zu sublimieren, so wie im verwundeten Christus das Wunder der Auferstehung durchzuscheinen vermag. Übertragen auf die Fotografie wäre das perfekte Bild dann eines, das eine Offenheit in sich trägt auf etwas, das man nicht sehen und schon gar nicht fassen, sondern nur erahnen kann. Ein solches Bild ist dann aber eigentlich keine Kunst, da es nicht planbar, sondern dem Zufall der Geschichte ausgeliefert ist. Der besondere Moment der Geschichte und der auslösende Moment der Kamera müssen zusammenfallen. Es ist die Geschichte, die dem Bild ihre Bedeutung verleiht. Oder aber man betrachtet die Fotografie ganz einfach als Spur der Geschichte, als Spur eines Lebens:

leur enfance disparue avait pourtant déposé sur la pellicule une trace de sa réalité aussi tangible et immédiate que l’empreinte d’un pas dans un sol d’argile (…) comme si tous les instants du passé subsistaient simultanément, non dans l’éternité, mais dans une inconcevable permanence du présent

ihre verschwundene Kindheit hatte auf dem Film dennoch eine Spur ihrer Wirklichkeit hinterlassen, die ebenso berührbar und unmittelbar war wie der Abdruck eines Schrittes auf einem lehmigen Boden (…) als würden alle Augenblicke der Vergangenheit gleichzeitig fortbestehen, nicht in der Ewigkeit, sondern in einer unvorstellbaren Fortdauer der Gegenwart

A son image, S. 21 (Kap. 2)

Genau das hat schon die kleine Antonia so an den alten Familienfotografien fasziniert, und genau das macht in seiner Bescheidenheit und technischen Imperfektion auch den Reiz ihrer letzten Fotografie aus, auf der sie den Söldner Dragan am Strand von Calvi ablichtet.

Schließlich ist Antonias Geschichte auch als Versuch zu lesen, aus der beengenden und gewaltsamen korsischen Dorfgemeinschaft mit ihrem patriarchalischen Frauenbild auszubrechen. Antonias Leben scheint schon früh vorherbestimmt, lange Jahre ist sie reduziert auf ihre Rolle als „Frau von Pascal B.“, der als Anführer militanter korsischer Separatisten immer wieder im Gefängnis landet, bis sie sich schließlich von ihm löst, um frei zu sein. Sie führt von nun an ein bei weitem selbständigeres Leben als ihre Freundinnen, doch letztlich entkommt auch sie ihrer Herkunft nicht.

Was mir neben der wunderschönen Sprache und der unheimlich anregenden Auseinandersetzung mit dem Wesen des Bildes ganz besonders an diesem Roman gefällt, ist die feinfühlige Art, wie der Autor seine Figuren zeichnet. Er zeigt ihre Schwächen, ihre Ambivalenz und beschönigt nichts, doch verurteilt er sie auch nicht, sondern wagt einen Blick auf sie, der vom Anspruch getragen wird, den innerhalb des Textes die Figur des Priester für sich annimmt: den Nächsten zu lieben, auch wenn es schwer ist:

Si l’amour du prochain était chose aisée, il le sait bien, le Christ n’aurait certes pas pris la peine d’en faire le premier des devoirs.

Wenn die Liebe zum Nächsten eine leichte Aufgabe wäre, das weiß er wohl, hätte sich Christus sicher nicht die Mühe gemacht, sie zur ersten aller Pflichten zu machen.

A son image, S. 105 (Kap. 6)

Ferrari gelingt ein kritisches, aber mitfühlendes „Verstehen“ der Figuren und er zeigt, wie sie geprägt werden durch die Zeit, die Gesellschaft, das System, in dem sie leben. Er zeigt auch, wie manche versuchen auszubrechen und wie schwierig, wenn nicht gar unmöglich das ist, besonders, wenn man sich einmal der Gewalt verschrieben hat, deren Absurdität und schier unaufhaltsame Dynamik ein wiederkehrendes Thema des Autors ist.

Jérôme Ferrari: À son image, Actes Sud 2018
ISBN: 9782330109448

bookmark_borderSylvain Prudhomme: Légende

Ich muss gestehen, ich habe Sylvain Prudhommes Roman ursprünglich vor allem deshalb angefangen zu lesen, weil sein Name meinem französischen Lieblingsdichter Sully Prudhomme so wundersam ähnelt. Mit dem übrigens nobelpreisgekrönten Dichter aus dem 19. Jahrhundert hat der französische Gegenwartsautor Sylvain Prudhomme, Jahrgang 1979, dessen jüngster Roman Par les routes kürzlich mit dem Prix Femina ausgezeichnet wurde, nun wirklich nicht im Mindesten etwas zu tun. Trotzdem habe ich diesem klanglichen Zufall eine wunderschöne literarische Entdeckung zu verdanken.

In Légende, 2016 in Frankreich erschienen, erzählt Sylvain Prudhomme zurückhaltend, feinsinnig und zugleich unheimlich intensiv von einer kargen Landschaft in der südfranzösischen Provinz, und entfaltet ausgehend von diesem lokalen Mikrokosmos eine Geschichte, die letztlich weit über die französische Grenze hinaus- und tief in die Vergangenheit hineinführt.

Getragen und in Bewegung gebracht wird der Roman durch die Geschichte einer noch jungen Freundschaft. Die Familienväter Nel und Matt haben sich über ihre Kinder kennengelernt und durch ihre geteilte Liebe zur Natur einen Draht zueinander gefunden. Nel ist Fotograf und fängt die raue, schroffe Schönheit von La Crau, der Gegend östlich von Arles, in der er aufgewachsen ist, in zahlreichen Landschaftsaufnahmen ein. Auch der Engländer Matt ist dem visuellen Medium verbunden, er plant einen Film über seine südfranzösische Wahlheimat, den er ausgehend von Gesprächen mit ihren Bewohnern, und natürlich auch mit Nel, entwickeln möchte.

In vielen Gesprächen, die Nel bisweilen fast zu intim werden, so dass er sich phasenweise aus der Freundschaft zurückzieht, entsteht so die Geschichte einer vergangenen Epoche voller Intensität, Freiheit und jugendlicher Grenzüberschreitung, deren Kehrseite mit den Begriffen Aids, Drogen, Gewalt und Tod aufwartet. Der Übergang vom Heute ins Gestern, die Rekonstruktion einer Familiengeschichte, die immer wieder sehr persönliche und bilderreiche Einblicke in das Frankreich der achtziger Jahre gibt, gelingt dem Autor dabei auf ganz unauffällige und sehr stimmige Weise.

Man erfährt von Nels Cousins Fabien und Christian, die nicht nur auf den kleinen Nel damals faszinierend gewirkt haben müssen, da sie so frei und anders zu leben schienen als man es in der französischen Provinz kannte. Fabien ist der Intellektuelle, der Selbständige, der Freigeist, der als Kind allein mit seiner Großmutter in Frankreich lebt, während seine Eltern und sein jüngerer Bruder am anderen Ende der Welt Schmetterlinge fangen und klassifizieren. Doch dann erkrankt Fabien an der damals neuen tödlichen Krankheit Aids. Sein Bruder Christian ist auf andere Weise ebenso hungrig nach Leben wie Fabien, er kann seine Leidenschaft für das Abenteuer zeitweise in der Natur ausleben, indem er in die Fußstapfen seines Vaters tritt und in Afrika unbekannten Schmetterlingen nachjagt. Doch lässt sich sein Verlangen allein dadurch nicht stillen, immer wieder provoziert er, wird handgreiflich und verfällt schließlich den Drogen. Ohne auf irgendeine Weise moralisch zu argumentieren, zeichnet Prudhomme ein ambivalentes Bild jener Zeit, er zeigt auch die beängstigende Seite einer Autonomie, die nicht vor Verletzlichkeiten schützt. Beide Brüder werden fast zeitgleich und in sehr jungen Jahren vom Tod eingeholt, der ihr exzessiv aber auch poetisch geführtes Leben grausam beendet.

Fast zwangsläufig, wenngleich eher skeptisch blickt Nel gemeinsam mit Matt auch in die eigene, ganz in der Provinz verankerte Familiengeschichte zurück. Seine Vorfahren lebten als Schäfer und Schafzüchter in enger Verbundenheit mit der Natur ein anspruchsloses, nomadenhaftes Dasein. Sein Vater entschied sich bewusst gegen die Tradition, indem er die Tochter von Landwirten heiratete und von da an einen Bauernhof bewirtschaftete. Doch der Region blieb er treu, genauso wie auch sein Sohn Nel durch seine Landschaftsfotografie der Heimat wie schicksalhaft verbunden bleibt. So führt uns Prudhomme mit seiner Erzählung behutsam vor Augen, dass man seinen Wurzeln trotz neuer Lebensentwürfe nie ganz entkommt.

Die Gegend von La Crau, ob Heimat oder Wahlheimat, ist letztlich auch die eigentliche „Hauptfigur“, das Zentrum, in dem die Geschichten von Nel und Matt, Fabien und Christian zusammenlaufen. Durch den Titel und ebenso auf den ersten Seiten der Erzählung wird diese Landschaft geradezu mythisch aufgeladen. Die Legende von Herakles, der sich hier einst, so wird es von Aischylos in dem nur fragmentarisch erhaltenen Stück Der gelöste Prometheus überliefert, dank einem von Zeus gesandten Steinregen gegen die riesenhaften Liguren verteidigen konnte, wird hier gleichsam als Ursprungsmythos der Region heraufbeschworen (vgl. Valéry Raydon: Le mythe de la Crau).

In der deutschen Übersetzung wurde vielleicht gar nicht zu unrecht der Titel Legenden im Plural gewählt, werden im Text doch weitere Legenden ausgegraben, um die herum sich Geschichten spinnen, wie die der verstorbenen Brüder oder der alten Diskothek, die damals eine Art symbolischer Mittelpunkt für die Jugend von La Crau darstellte. Schließlich taucht der Begriff „légende“ auch im Sinne einer Bildunterschrift auf, als Klassifizierung der von Christian und Onkel André neu entdeckten Schmetterlingsarten und wird auf diese Weise zu einem Symbol des Exotischen, zum Gegenpol der südfranzösischen Steinwüste, die letztlich doch alle Figuren wieder zu sich „nach Hause“ holt.

Die Geschichte ist einfach so wunderschön erzählt, so unaufdringlich und sensibel für die feinen Töne, dass sie ihren ganz eigenen Zauber entfaltet und man bald dem rauen, zerklüfteten Charme der Landschaft und seiner Bewohner verfällt.

Sylvain Prudhomme: Légende, Gallimard Collection Folio (2018)
ISBN: 9782072765124

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