bookmark_borderStacey Halls: Die Verlorenen

Eine ganz bezaubernde, das Herz wärmende Geschichte, deren Figuren mit viel Empathie und psychologischer Präzision gezeichnet sind, so dass man sie beim Lesen wunderbar lebendig vor Augen hat. Man bangt und hofft mit ihnen, jammert und schaudert zwischendurch auch mal, ehe man kathartisch erlöst und immer noch ein wenig atemlos die letzten Seiten erreicht.

Schon die erste Szene ist erschütternd. Hier lernen wir die eine der beiden Ich-Erzählerinnen und Protagonistinnen des Romans kennen: Bess Bright, eine kaum erwachsene junge Frau, die zusammen mit ihrem Vater auf dem Markt Krabben verkauft, um das tägliche Brot der Familie mehr schlecht als recht zu verdienen, und sich nun gezwungen sieht, ihr Neugeborenes in einem Findlingsheim abzugeben; wie die vielen anderen mittellosen, unverheirateten, verzweifelten Frauen um sie herum ist sie dem Los ausgeliefert, das bestimmt, welche der Kinder in der Obhut des Foundling Hospitals bleiben dürfen, einem Los, dessen als einziger Ausweg aus der materiellen Not herbeigesehntes Ergebnis der Sehnsucht ihrer noch keinen Tag alten Muttergefühle zutiefst widerspricht. Und so ist Bess auch fest entschlossen, ihr Kind zurückzuholen, sobald sie sich irgendwie in der Lage sieht, für es zu sorgen. Doch als sie ein paar Jahre später genug auf die Seite gelegt zu haben meint, um ihre Tochter auszulösen, ist das kleine Mädchen nicht mehr da. Jemand anderes hat es, so erfährt sie, nur einen Tag, nachdem sie es damals abgegeben hatte, unter ihrem Namen zu sich geholt.

Wie sich Bess nun mutig und erfinderisch auf die Suche nach ihrer Tochter begibt, wo und unter welchen Umständen sie sie ausfindig macht und welche Hindernisse sie noch überwinden, welche Abenteuer sie noch durchstehen muss, ehe Mutter und Tochter endlich in Sicherheit zusammenkommen, und welche Rolle die ganz von der Umwelt abgeschottete, allerdings deutlich besser betuchte Alexandra, die zweite Mutter und zweite Ich-Erzählerin, dabei spielt, erzählt die Autorin dramaturgisch überzeugend und fesselnd, mit viel Gespür für die kleinsten emotionalen Regungen und Gewissenskonflikte ihrer Figuren. So ist der Roman ein mitreißendes und gefühlvolles Psycho- und Sozialdrama, zum Glück jedoch ohne in melodramatisches Pathos abzugleiten, was auch daran liegt, dass die Sprache zwar eingängig ist, aber auf Floskeln verzichtet.

Ebenso werden hier einerseits auf ganz unterschiedliche Weise starke Frauenfiguren in den Mittelpunkt gerückt, die aus verschiedenen Gründen am Rand der Gesellschaft stehen und gegen viele Widerstände ankämpfen müssen und die andererseits doch keine anachronistisch wirkenden self-empowerten Superheldinnen sind, sondern mit ihren Ecken und Kanten, ihren Eigenheiten und auch mit ihren düsteren Seiten Geschöpfe ihrer Zeit und ihres Milieus sind: eben die titelgebenden „Verlorenen“, womit nicht nur die Waisenkinder des übrigens historisch verbürgten Londoner Foundling Hospitals gemeint sind. Trotz des unterschwellig mitschwingenden Befreiungsmotivs bleibt die jeweilige soziale Verankerung prägend, und trotz ihrer Courage ist auch Bess auf Unterstützung und Solidarität angewiesen, im emotionalen und materiellen Sinne, die sie, mitunter von überraschender Seite, auch immer wieder erfährt.

Somit kommt man hier nicht nur in den Genuss einer sehr kurzweiligen empfindsamen Abenteuergeschichte, sondern auch in den eines historischen Romans, der einen realistischen und glaubhaften Einblick auch und vor allem in die unteren Bevölkerungsschichten im städtischen London des 18. Jahrhunderts gibt: in die harten nächtlichen Arbeitszeiten eines Fackelträgers, der so viel lieber auf dem Land Gemüse anbauen würde, zum Beispiel, oder in die körperlich herausfordernde Arbeit auf dem Markt, die in Gestalt der Krabbenverkäuferin Bess oder auch ihrer schwarzen Freundin Keziah, die Second-Hand-Kleidung verkauft, lebensnah geschildert wird.

Eine spannende Kombination von Charles Dickens mit der biblischen Geschichte vom salomonischen Urteil und ein berührendes Schmökererlebnis für spätwinterliche Stunden auf der vor Wind und Regen und den materiellen Nöten des 18. Jahrhunderts so wohltuend geschützten Couch…

Bibliographische Angaben
Stacey Halls: Die Verlorenen, Piper (2021)
Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Thiele
ISBN: 9783866124950

Bildquelle
Stacey Halls, Die Verlorenen
© 2021 Piper Verlag GmbH, München

bookmark_borderMieko Kawakami: Brüste und Eier

Für mich ist Brüste und Eier die literarische Überraschungssensation aus Japan! Mit jeder Seite hat mich das Buch, bei dem natürlich zuerst der auffällig-amüsante Titel ins Auge sticht, thematisch und stilistisch mehr fasziniert.

Der Roman bebildert eine ganze Palette tradierter und neuer, provozierender und miteinander kollidierender weiblicher Rollenbilder, die Mieko Kawakami, die Autorin, im Laufe der Handlung in ihrem ganz eigenen Stil aus den verschiedenen sehr lebensecht gezeichneten Figuren herausarbeitet. Auf diese Weise entsteht ein differenziertes Gesellschaftsportät, das alle so unterschiedlich gearteten Lebensentwürfe und die Individuen, die dahinter stehen, zugleich ernst nimmt und doch immer wieder auch mit einem humoristischen, entlarvenden Blick bedenkt. Es geht — und hier kann man sich ganz wunderbar mit den Figuren identifizieren — um die tastende, experimentierende, sich vergleichende Suche nach einem Ort für das (v.a. weibliche) Ich in der Gesellschaft.

Dabei ist der Roman alles andere als ein Selbstfindungsratgeber oder ein so genannter „Frauenroman“, er gerät auch nicht in die Nähe eines feministischen Manifests oder eines Thesenromans, sondern er bleibt auf jeder Seite richtig gute fiktionale Literatur, ein polyvalenter Text, der relevante soziale und allgemeinmenschliche Fragen aufwirft und sie in eine spannende Geschichte einbettet.

Los geht diese mit dem titelgebenden ersten Teil, der auf einer Novelle basiert, für die Kawakami 2008 bereits den wichtigsten japanischen Literaturpreis bekam. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive von Natsuko, einer 30-jährigen Schriftstellerin aus armen Verhältnissen, die noch nichts veröffentlicht hat und sich mit verschiedenen Jobs in der Großstadt Tokyo über Wasser hält. Im Sommer, in dem die Geschichte beginnt, bekommt sie Besuch aus ihrer Heimat Osaka: von ihrer älteren Schwester Makiko, die mit ihrem alternden Körper hadert und von der Idee besessen ist, sich in Tokyo die Brüste vergrößern zu lassen, und deren junger Tochter Midoriko, die den Beginn ihrer Pubertät wie einen Schock durchlebt und seit kurzem aufgehört hat, mit ihrer Mutter zu sprechen. Stattdessen kommuniziert sie, soweit nötig, über ein Notizbuch. In ein weiteres Buch schreibt sie ihre Tagebucheinträge, die im Text mit abgedruckt werden. Sie verraten die Empörung und Verunsicherung, ja die Verzweiflung, mit der Midoriko ihre hormonelle Veränderung vom Kind zur Frau und die damit verbundenen genderspezifischen Zuschreibungen beobachtet. Beim Wiedersehen eines Spielzeugroboters, in den kleine Kinder zum Spaß hineinschlüpfen können, gewinnt ihre Erinnerung an ein solches Erlebnis in ihrer eigenen Kindheit plötzlich eine ganz neue, erschreckende Dimension:

Die Hand bewegt sich. Die Beine bewegen sich auch. Komisch, wenn man, ohne zu wissen, wie es geht, einzelne Teile bewegen kann. Ich bin plötzlich in meinem Körper, und der Körper verändert sich, ständig und ohne mein Zutun. Warum kann mir das nicht einfach egal sein? Der Körper verändert sich weiter. Das ist düster. Diese Düsternis füllt meine Augen, am liebsten würde ich sie zumachen. Aber ich habe Angst, dass ich sie dann nicht mehr aufmachen kann. Meine Augen quälen mich.

Kawakami: Brüste und Eier, Teil I, Eintrag Midoriko

Das Verhältnis Midorikos zu ihrer Mutter ist nicht nur dadurch gestört, dass sie entsetzt über die geplante Schönheitsoperation ihrer Mutter ist, die sie als einen verheerenden Eingriff in die ohnehin beunruhigende weibliche Körperlichkeit empfindet, sondern auch durch ein sozial bedingtes Gefühl der Ohnmacht, hilflos zusehen zu müssen, wie ihre Mutter sich als billige Arbeitskraft in einem Nachtclub ausbeuten lässt, um sich und ihrer Tochter gerade so ein bescheidenes Leben zu ermöglichen.

Natsuko beobachtet die sich zuspitzende und schließlich kathartisch entladende Anspannung zwischen Mutter und Tochter, und macht sich — und hier deutet sich bereits die Schriftstellerin an, die sie im Begriff ist zu werden — ihre eigenen Gedanken über die tieferen Ursachen der Krise:

Oje, dachte ich, den beiden fehlen die Worte. Mir fehlten in dem Moment natürlich auch die Worte. Worte, Worte, wiederholte ich im Geist, aber sagen konnte ich nichts.

Kawakami: Brüste und Eier, Teil I

Die Suche nach Worten, ihre kontextuelle Einordnung und Gewichtung sowie ihre folgenreiche, sich mitunter verselbständigende Wirkung setzt sich auch im zweiten Teil des Romans fort, der etwa ein Jahrzehnt später spielt. Natsuko hat inzwischen recht erfolgreich einen Roman veröffentlicht und arbeitet an einem zweiten, mit dem sie jedoch nicht wirklich gut vorankommt. Die Berufswelt drängt sich nun in den Vordergrund, während im ersten Teil Familie und Herkunft im Zentrum standen. Natsuko trifft sich mit ihrer Agentin, mit Kolleginnen, geht leicht befremdet zu Autorenlesungen, schreibt Essays und denkt eher lustlos über die Weiterentwicklung ihres Romankonzepts nach. Doch unversehens ergreift ein neues Thema Besitz von ihr, schiebt sich mit einem immer nachdrücklicheren Kinderwunsch das Thema der familiären Gestaltung des eigenen Lebens nach vorne, und auch das Thema der eigenen Herkunft lässt sich in diesem Zusammenhang nurmehr schwer verdrängen.

So besucht die inzwischen Ende 30-jährige, allein lebende Natsuko Vorträge und Diskussionsrunden zum Thema Samenspende, wo sie den gleichaltrigen Jun Aizawa kennenlernt, der sich als Betroffener engagiert: Mit einer Samenspende gezeugt, ist er seit langem vergeblich auf der Suche nach seinem leiblichen Vater. Es entwickelt sich zunächst etwas holprig und dann doch ganz behutsam eine Freundschaft zwischen den beiden; Jun und Natsuko kommen sich emotional näher, doch Natsukos Asexualität und Juns als traumatisch empfundene Vaterlosigkeit stellen so einige Hürden bereit, in denen sich persönliche Ängste und gesellschaftliche Tabus zu scheinbarer Unüberwindlichkeit auftürmen.

Die beiden Romanteile erscheinen auf den ersten Blick fast wie zwei eigenständige Geschichten, die sich aber dann sehr stimmig zu einem romanesken Gesamtwerk fügen, verbunden durch die Stimme der Ich-Erzählerin, für die die junge japanische Autorin einen sehr überzeugenden, eigenwilligen und zugleich sympathischen Stil gefunden hat. Denn Natsuko stellt sich permanent infrage, sie lebt ihr Leben reflektiert, beobachtet und sinniert, wie sie sich und ihre Bedürfnisse im Verhältnis zur Gesellschaft, zur Familie, zu den Kollegen und Freunden positionieren soll. Sie macht schmerzhafte Erfahrungen, leidet unter großen Unsicherheiten und Zweifeln, erlebt aber auch intensiv die schönen Momente und durchlebt sehr bewusst die immer wieder an die Oberfläche drängenden Erinnerungen an ihre früh verstorbene Mutter und ihre Großmutter.

Da sich die Handlung an den so vielfältigen Fragen der Weiblichkeit entzündet, steht die Frage nach dem Selbstverständnis der Frau, ihrer Unterdrückung und den in Japan noch immer einflussreichen starren Rollenbildern im Spannungsfeld mit den immer größeren Möglichkeiten der Technik sowie mit generellen Erwartungen und Ansprüchen wie körperlicher Schönheit und Mutterschaft. Ohnehin ein komplexes Gefilde wird es, so zeigt die Autorin anschaulich, umso komplizierter, wenn man in irgendeiner Form aus der Rolle fällt, wie die asexuelle Erzählerin Natsuko, die auch ohne eheliche, sexuelle Bindung ein Kind großziehen möchte.

Über die Form des Dialogs, den Kawakami meisterlich beherrscht, lernt man auf fast beiläufige, aber zugleich sehr direkte und intensive Weise eine Vielzahl verschiedener hauptsächlich weiblicher Biographien kennen. Die Charaktere, die in den Gesprächen, aber auch durch die feinen Beobachtungen der Ich-Erzählerin ganz rund und plastisch hervortreten, haben alle ihre ganz eigene Geschichte, ihre eigene Haltung, und verfolgen, auch wenn das Schicksal mit voller Wucht zugeschlagen hat, doch mehr oder weniger hartnäckig ihren eigenen Weg, der jedoch für jede ein ganz anderer ist.

In Beziehungsfragen genauso wie bei der Frage, ob man sich dafür oder dagegen entscheidet, ein Kind zu bekommen, gibt es keine allgemeine Richtlinie. Und man kann so viele rationale Abwägungen vornehmen, wie man will, letztlich ist es eine Entscheidung, die jede Frau, jeder Mensch immer von neuem für sich treffen muss und die immer auch ein Sprung ins Ungewisse ist, wie es gegenwärtig etwa auch die amerikanische Philosophin L.A. Paul in ihrer Forschung zu Rationalität und Mutterschaft skizziert (vgl. Dies.: Was können wir wissen, bevor wir uns entscheiden? Von Kinderwünschen und Vernunftgründen, Reclam 2020). Und das erahnt nach vielen Gesprächen, Enttäuschungen und Ermutigungen auch die Romanfigur Natsuko immer deutlicher und trifft deshalb am Ende des Romans tatsächlich eine Entscheidung — eine Entscheidung, die ihre eigene ist, und zugleich das Spiel des Lebens, des Zufalls, der Begegnung zulässt…

So vielstimmig hier ein komplexes Thema behandelt wird, so faszinierend ist die écriture, der stilistische Ton der Autorin, der von einem tiefen, anschaulichen und sehr flüssig lesbaren Realismus geprägt ist, sich jedoch manchmal leicht satirisch zuspitzt und mitunter ins Surreale, ins Traumhaft-Psychologische gleitet, poetisch ins Innenleben der Erzählerin eintaucht und insgesamt eine unvergleichlich fesselnde Erzählung hervorbringt, die lang und intensiv in einem nachklingt, ob man nun aus Japan kommt oder aus einem anderen Land, ob man sich über einen Kinderwunsch den Kopf zerbricht oder unsicher in seinem Körper fühlt. Die Entscheidung, den Roman zu lesen, ist in jedem Fall ein Wagnis, das ich unbedingt empfehle einzugehen!

Bibliographische Angaben
Mieko Kawakami: Brüste und Eier, DuMont 2020
Aus dem Japanischen übersetzt von Katja Busson
ISBN: 9783832170431

Bildquelle
Mieko Kawakami, Brüste und Eier
© 2020 DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG, Köln

bookmark_borderAnna Maria Ortese: Il mare non bagna Napoli

Neapel liegt nicht am Meer“ — Italienkenner und -liebhaber mögen sich wundern, doch die Schriftstellerin Anna Maria Ortese (1914-1998), die diesen Band mit Erzählungen und literarischen Reportagen über Neapel zum ersten Mal 1953 veröffentlichte und selbst lange Jahre in der Stadt lebte, wirft hier einen anderen, ungewohnten und dennoch wahrhaftigen Blick auf die berühmte Stadt am Mittelmeer: ein Blick, geprägt von Elend, Armut, Verzweiflung, aber auch von träumerischen Anwandlungen der Hoffnung und einem mal kämpferischen, mal resignierten Durchhaltevermögen, von sozialen Ungleichheiten und engen Familienstrukturen, und bevölkert von all den vielen und vielseitigen, zugleich abstoßenden und faszinierenden Charakteren, denen die Autorin bei ihrer Rückkehr in die Stadt ihrer Jugend nach dem Krieg begegnete.

Der Matthes & Seitz Verlag hat nun das Buch, das bisher nur noch antiquarisch unter dem Titel „Neapel — Stadt ohne Gnade“ in einer Übersetzung von 1955 zu haben war, in neuer und zum ersten Mal vollständiger Übersetzung herausgebracht — und schon ist das Buch wieder vergriffen und harrt einer Neuauflage. Turbulent ist die Verlagsgeschichte des Buches von Beginn an. Als es 1953 beim Verlag Einaudi erscheint, wird es von großen Teilen der italienischen Kulturszene als Buch „contro Napoli“, gegen Neapel, verurteilt; die Stadt Neapel — und vor allem auch die jungen journalistischen und schriftstellerischen Kollegen, die Ortese in einem der in diesem Band versammelten Texte mit einem für sie typischen, desillusionierend scharfen Blick wohl allzu kritisch porträtiert, erscheinen der intellektuellen Öffentlichkeit in so unlieb düsterem Licht, dass die talentierte junge Schriftstellerin ungeachtet der Preise, die sie für ihre Werke erhält, lange Zeit als Außenseiterin der damaligen Kulturwelt Italiens gilt und mit Geldsorgen zu kämpfen hat. Damals hielt sie es übrigens für das Beste, Neapel zu verlassen; sie lebte nie mehr in der Stadt, deren Charakter sie literarisch so beeindruckend eingefangen hatte; nur in ihren literarischen Texten kehrte sie doch immer wieder an diesen Ort zurück.

1994 legte der Adelphi Verlag ihr Neapel-Buch neu auf; im Vorwort ordnet die Autorin ihren einst so heftig kritisierten hoffnungs- und skrupellosen Blick auf Neapel in ihre Poetik des Irrealen ein, das ihren literarisch verdichteten schriftstellerischen Blick auf die Wirklichkeit charakterisiert, der, wie sie betont, immer auch ein subjektiv-poetischer ist. Ortese verlor in der Zeit, als sie an dem Buch arbeitete, nacheinander beide Eltern, davor waren schon zwei ihrer Brüder verunglückt. Der Tod ihres ersten Bruders, den sie mit dem Schreiben von Gedichten verarbeitete, war wohl auch der Anstoß zu ihrer literarischen Karriere. Vor diesem biographischen Hintergrund lässt sich die folgende Äußerung über ihren auch persönlich geprägten Blick auf Neapel besser verstehen:

Io, invece, mancava di radici, o stavo perdere le ultime, e attribuii alla bellissima città questo ’spaesamento‘ che era soprattutto il mio.

Ich hingegen hatte keine Wurzeln mehr, oder war gerade dabei, die letzten zu verlieren, und schrieb daher der wunderschönen Stadt ein ‚Unbehagen‘ zu, das vor allem mein persönliches war.

Ortese, Vorwort zur Neuauflage 1994 (Übersetzung der Rezensentin)

Nicht nur in ihren literarischen Reportagen, in denen sich Journalistisches und Poetisches mischt, sondern etwa auch in der 1975 erschienenen neuartigen autobiographischen Erzählung Il Porto di Toledo. Ricordi della vita irreale — das die der Wirklichkeit eingeschriebene Irrealität bereits im Titel trägt — experimentiert sie mit Stilen und Genres. Trotzdem bezeichnet Ortese auch Jahrzehnte später ihre Neapel-Texte, wenn auch als subjektiv literarisiert, so doch unbedingt als wahrhaftig:

Erano molto veri i dolore e il male di Napoli, uscita in pezzi dalla guerra.

Sie waren sehr real, der Schmerz und das Leid Neapels, das in Trümmern aus dem Krieg hervorgegangen war.

Ortese, Vorwort zur Neuauflage bei Adelphi 1994 (Übersetzung der Rezensentin)

Die Gattungsfrage ist auch in Il mare non bagna Napoli hochspannend und es ist überaus faszinierend, wie der sehr wiedererkennbare, poetisch dichte Stil, ihr entlarvend-einfühlsames und auf sehr genauen, in die Tiefe und ins Detail gehenden Beobachtungen beruhendes Schreiben sich fast unmerklich von der fiktiven Erzählung weg und ins Essayistische hineinbewegt. Während die ersten beiden Texte noch eindeutig als Fiktion bezeichnet werden können, würde man die folgenden doch eher Reportagen nennen, in denen das Journalistische jedoch nie ohne das Literarische, Poetische auskommt.

„Un paio di occhiali“ heißt die Erzählung, mit der man als Leser in Orteses neapolitanische Welt eingeführt wird. Die Hauptfigur ist Eugenia, ein kleines Mädchen, das sehr schlecht sieht und daher ihre ärmliche Umwelt noch nie in all ihrer Schärfe zu Gesicht bekommen hat. Voll Stolz und Vorfreude, ja geradezu euphorisch, wartet sie auf ihre erste Brille, die sich ihre arme Familie gewissermaßen vom Leibe abgespart hat; immer wieder wird betont, dass ihre Tante Nunzia beim Optiker dafür 800 Lire bezahlt hat. Endlich ist es nun soweit, ihre Mutter holt die Brille ab und die ganze Nachbarschaft hat sich auf dem schmutzigen Innenhof versammelt, um das fast biblische Ereignis zu verfolgen, wenn Eugenia zum ersten Mal ihre neue Brille aufsetzt und sehend wird. Doch alle Erwartungen werden gebrochen, Eugenia ist völlig überfordert mit dem, was sie nun auf einmal in aufdringlicher Schärfe zu sehen bekommt — und ihr wird übel:

Come un imbuto viscido il cortile, con la punta verso il cielo e i muri lebbrosi fitti di miserabili balconi; (…) il selciato bianco di acqua saponata, le foglie di cavolo, i pezzi di carta, i rifiuti, e, in mezzo al cortile, quel gruppo di cristiani cenciosi e deformi, coi visi butterati dalla miseria e dalla rassegnazione, che la guardavano amorosamente. Cominciarono a torcersi, a confondersi, a ingigantire.

Der Hof wie ein klebriger Trichter, dessen Spitze zum Himmel zeigte, und die Mauern wie Aussätzige mit erbärmlichen Balkonen übersät; (…) das vom Seifenwasser weiße Pflaster, die Blätter von Kohlköpfen, die Papierfetzen, der Müll und in der Mitte des Hofes jene zerlumpte und entstellte Christengruppe, mit ihren vom Elend und der Resignation pockennarbigen Gesichtern, die sie liebevoll anschauten. Sie begannen sich zu verdrehen, zu verschwimmen, sich riesenhaft zu vergrößern.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 33 (Übersetzung der Rezensentin)

Im entsetzten Blick des Mädchens, das die sie umgebende Hässlichkeit der Armut wie ein Schock trifft, offenbart sich das ganze Elend der Hausgemeinschaft. Doch selbst innerhalb dieses einen Wohnblocks zeigt sich auch die soziale Ungleichheit, die Ortese im Nachkriegsneapel immer wieder beobachtet. Denn das obere Stockwerk gehört einer wohlhabenderen Dame, die Verwandte im reichen Viertel Posillipo hat und der alle übrigen Hausbewohner mit geradezu andächtiger Ehrfurcht begegnen. Die Arroganz, die ihrer zur Schau gestellten Großzügigkeit innewohnt, entlarvt die Autorin in einer Szene, als Eugenia die Gnade erfährt, ein altes, abgetragenes, fadenscheiniges Kleid von ihr zum Geschenk zu bekommen. Doch wie staunt Eugenia, als sie auf den Balkon ihrer reichen Nachbarin tritt, der mit seiner Aussicht auf das nahe und doch so ferne Meer zum Zeichen des höheren gesellschaftlichen Ranges wird, während das Sehen für die Armen entweder unmöglich ist oder zur Qual wird.

Uscì sul balcone. Quant’aria, quanto azzurro! Le case, come coperte da un velo celeste, e giù il vicolo, come un pozzo, con tante formiche che andavano e venivano… come i suoi parenti (…). E intorno, quasi invisibile nella gran luce, il mondo fatto da Dio, col vento, il sole, e laggiù il mare pulito, grande… Stava lì, col mento inchiodato sui ferri, improvvisamente pensierosa, con un’espressione di dolore che la imbruttiva, di smarrimento.

Sie trat auf den Balkon hinaus. Wie viel Luft, wie viel Blau! Die Häuser, wie bedeckt von einem himmlischen Schleier, und unten die Gasse, wie ein Schacht, mit lauter Ameisen, die hin und herliefen… wie ihre Eltern (…). Und ringsum, fast unsichtbar in all dem Licht, die Welt, die Gott gemacht hatte, mit dem Wind, der Sonne, und da unten das saubere, weite Meer… Dort stand sie, das Kinn wie festgenagelt auf dem Geländer, plötzlich ganz nachdenklich, mit einem Ausdruck des Schmerzes, des Verlustes, der sie hässlich aussehen ließ.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 30 (Übersetzung der Rezensentin)

Die zweite Erzählung, „Interno familiare“, schildert ein kleinbürgerliches „Familienintérieur“. Schonungslos und zugleich einfühlsam werden wir als Leser in das für Frauen ab einem gewissen Alter hoffnungslose Milieu herangeführt sowie an die nicht mehr ganz junge Anastasia, die älteste Tochter einer Familie, deren väterliches Oberhaupt gestorben ist, und die sich in einem letzten Aufbäumen ihrer Sehnsucht für die kurze Dauer eines Tages einer unerfüllbaren Hoffnung hingibt. Als Anastasia nämlich von der Rückkehr eines Jugendfreundes erfährt, der lange auf See unterwegs war, gerät sie in Tagträume — Träume ganz bescheiden anmutender Art, dass sie als Frau doch noch begehrt werden, ja vielleicht sogar noch heiraten könnte –, die den Familienfrieden dennoch zu erschüttern drohen:

Con una vera angoscia, capiva che l’equilibrio, la pace della famiglia erano in pericolo, se la colonna di quella casa s’inteneriva.

Mit einer wahren Angst begriff sie (die Mutter), dass das Gleichgewicht, der Familienfrieden in Gefahr waren, wenn die Säule dieses Hauses in Rührung geriete.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 52 (Übersetzung der Rezensentin)

Denn Anastasia, die „Säule des Hauses“, verdient nach dem Tod des Vaters mit ihrem eigenen Strickwarenladen das Geld für die ganze Familie, sie übernimmt auf Kosten ihrer eigenen Träume die Verantwortung für ihre Geschwister und deren künftige Kinder, für ihre Tante und für ihre Mutter, die ihr ihre jüngere, kränkliche Tochter vorzieht und Anastasia unsanft, fast abfällig behandelt und doch zugleich liebt und genau weiß, welches Opfer sie von ihrer Ältesten wie selbstverständlich erwartet. Angesichts der erstickenden Strukturen, in denen sich die Frauen ihrer sozialen Schicht damals in Neapel bewegten, begreift man die Kühnheit und Vergeblichkeit, ja die Irrealität des so harmlos anmutenden Traums von Anastasia:

Non poteva pensare, vivere. Qualche cosa era vivo in lei, e neppure poteva dirlo. Questa era la sua bontà, la sua forza, questa incapacità d’intendere e di volere una vita sua. Soltanto ricordare poteva, di quando in quando, vedere, e poi subito quel lume, quel paesaggio era spento.

Sie konnte nicht denken, nicht leben. Etwas in ihr war lebendig, und sie konnte es nicht einmal ausdrücken. Dies war ihre Güte, ihre Stärke, diese Unfähigkeit, etwas anzustreben und ein eigenes Leben haben zu wollen. Sie konnte sich nur erinnern, von Zeit zu Zeit etwas sehen, und dann plötzlich war jenes Licht, jene Landschaft wieder erloschen.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 40 (Übersetzung der Rezensentin)

Vor Tränen sieht auch Anastasia — wie Eugenia in der ersten Erzählung — kaum etwas, ihr verschwommener Blick weiß den Hafen, an dem das Schiff ihres Jugendfreundes ankert, nur einen Kilometer entfernt, der für sie jedoch eine unüberbrückbare Distanz darstellt; doch der Schmerz erlischt zusammen mit ihrer Sehnsucht so schnell, wie er gekommen ist, und Anastasia fügt sich ohne Hoffnung und ohne Klage wieder in die von ihr erwartete Rolle.

Die sich anschließenden Kapitel nähern sich dem Genre der Reportage und des Essays an und sind allesamt aus einer Ich-Perspektive erzählt, die man wohl mit derjenigen der jungen Journalistin Ortese gleichsetzen kann. In „Oro a Forcella“ läuft sie, mit wachem Blick alle möglichen Szenen und Charaktere einfangend, durch eine Straße, in der sich die Menschen dicht an dicht drängen, beobachtet und macht sich Gedanken über das so eigene Elend der Stadt:

Una miseria senza più forma, silenziosa come un ragno, disfaceva e rinnovava a modo suo quei miseri tessuti, invischiando sempre più gli strati minimi della plebe, che qui è regina. (…) Qui, il mare non bagnava Napoli. Ero sicuro che nessuno lo avesse visto (…). In questa fossa oscurissima, non brillava che il fuoco del sesso, sotto il cielo nero del sovrannaturale.

Ein Elend, das keine Form mehr annahm, das still war wie eine Spinne, zerstörte und erneuerte auf seine Weise jene elenden Netze, indem es die kleinsten Schichten des Pöbels, der hier regierte, immer dichter einwickelte. (…) Hier lag Neapel nicht am Meer. Ich war sicher, dass niemand hier es gesehen hatte. (…) In dieser stockfinsteren Grube leuchtete nichts als das Feuer des Sex, unter dem schwarzen Himmel des Übernatürlichen.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 67 (Übersetzung und Hervorhebung der Rezensentin)

Dieser extrem verdichtete, bildhafte Stil ist typisch für Ortese und zeigt, welche Literarizität und fast ins Mythische reichende psychologische Tiefenbohrung auch denjenigen ihrer Texte innewohnt, die bereits mehr in Richtung Reportage gehen.

In diesem Sinne weist auch das auf den ersten Blick sehr journalistisch anmutende Kapitel „La città involuntaria“ irrealisierende, mythisch-metaphorische Tendenzen auf, die Ortese aber unmittelbar aus sehr präzisen Beobachtungen der Wirklichkeit hervorgehen lässt. Wie in ihren Kurzgeschichten verwendet sie auch hier eine große literarische Einfühlsamkeit auf jede einzelne der beschriebenen Figuren, auch dann, wenn die berichterstattende Erzählerin nur einen kurzen, aber nicht weniger intensiven Blick auf sie erhaschen kann. Die „unfreiwillige Stadt“ ist ein riesiges Industriebauwerk am Hafen — die III e IV Granili, ehemalige Kornspeicher –, in dem nach dem Krieg unzählige Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht leben. Wiederum befindet sich dieses Gebäude räumlich ganz nah an Neapels Meer, doch die meisten seiner Bewohner bekommen es nie ins Gesicht; statt in mediterranem Ambiente leben sie inmitten einer feuchten Dunkelheit, die allenfalls von künstlichem Licht durchbrochen wird.

Die Journalistin folgt einer „guida“, die sie in einer Art Céline’schen Reise ans Ende der Nacht tief hinein in das riesige kerkerkafte Gebäude führt und ihr Szenen zu sehen gibt, in denen sich das Elend der eingepferchten Menschen nackt und schonungslos offenbart. Es ist wie ein Eintritt in die Hölle, Schmutz, Blut, Urin, Finsternis, Hunger, Tod beherrschen das Innere des Gebäudes. Und wie in Dantes Unterwelt gibt es auch hier gewisse hierarchische Abstufungen der Qual; je höher die Etage liegt, desto größer der Komfort und Lebensmut, und sei er nur illusorisch, und je tiefer, desto schmutziger, dunkler und erbärmlicher ist auch der Zustand der Zimmer und ihrer Bewohner. Letztlich gibt es nur eine Richtung, die nach unten:

Evitavano qualsiasi contatto con i cittadini dei primi piani, mostrando per la loro abiezione una severità non priva di compassione (…). Non risaliva più nessuno, da giù. Non era facile risalire quei gradini in apparenza piani e comodissimi. C’era qualcosa che chiamava, da giù, e chi cominciava a scendere era perduto (…).

Sie (die Bewohner der oberen Etage) vermieden jeden erdenklichen Kontakt mit den Bürgern aus den ersten Etagen und legten dabei für deren Verworfenheit eine Strenge an den Tag, die nicht ohne Mitleid war (…). Von dort unten kam niemand mehr nach oben. Es war nicht leicht, jene dem Schein nach so ebenen und bequemen Stufen zu erklimmen. Da war etwas, das nach einem rief, einen nach unten zog, und wer den ersten Schritt nach unten getan hatte, war verloren (…).

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 87 f. (Übersetzung der Rezensentin)

Besonders unter die Haut geht die Schilderung der Kinderschicksale, von denen die Erzählerin berichtet. Ein Junge bricht plötzlich tot zusammen, eine Trauerfeier wird improvisiert und niemand ist allzu überrascht über das Vorkommnis, das längst kein Einzelfall ist; ein kleines zweijähriges Mädchen, das so klein und schwächlich ist, dass es die Erzählerin erst für ein Neugeborenes hält, hat in ihrem Leben bisher nur ein einziges Mal das Tageslicht gesehen.

Questa infanzia, non aveva d’infantile che gli anni. Pel resto, erano piccoli uomini e donne, già a conoscenza di tutto, il principio come la fine delle cose, già consunti dai vizi, dall’ozio, dalla miseria più insostenibile, malati nel corpo e stravolti nell’animo, con sorrisi corrotti o ebeti, furbi e desolati nello stesso tempo. Il novanta per cento, mi disse la Lo Savio, sono già tuberculotici o disposti alla tubercolosi (…). Assistono normalmente all’accoppiamento dei genitori, e lo ripetono per giuoco. Qui non esiste altro giuoco, poi, se si escludono le sassate.

Diese Kindheit hatte nichts Kindliches außer der Zahl der Lebensjahre. Ansonsten waren sie kleine Männer und Frauen, die schon über alles Bescheid wussten, über den Anfang wie über das Ende der Dinge, die schon aufgezehrt waren von den Lastern, dem Nichtstun, dem unerträglichsten Elend, die körperlich krank waren, seelisch verwirrt, deren Lächeln verdorben oder schwachsinnig war, die listig und trostlos zugleich dreinblickten. 90 Prozent von ihnen, so sagte es mir die Lo Savio, litten schon an Tuberkulose oder würden es bald (…) Es war ganz normal, dass sie dabei waren, wenn ihre Eltern Sex hatten, und sie wiederholten es, wenn sie spielten. Hier gibt es kein anderes Spiel, wenn man das Steinewerfen mal ausnimmt.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 93 (Übersetzung der Rezensentin)

Im letzten und längsten Kapitel, „Il silenzio della ragione“ („Das Schweigen der Vernunft“) erzählt Ortese, wie sie quer durch Neapel pilgert, um ihre früheren Journalistenkollegen aufzusuchen, über die sie eine Reportage plant. Ihre Porträts sind wenig schmeichelhaft; so wie sie den jahrhundertealten Mythos der Stadt entzaubert, entzaubert sie auch die junge Intellektuellenszene im Nachkriegsneapel. Einst engagiert und idealistisch neigten sie, so das harte Urteil der Autorin, nun zu hohlen, unaufrichtigen Posen und fänden keine Sprache mehr, um der Stadt und ihren Bewohnern gerecht zu werden:

Quello che vedevo al mio lato, fra gli altri ragazzi muti, era un piccolo uomo dal viso appassito, dallo sguardo monotono. Uno che non aveva più il coraggio di alzare gli occhi, di riprendere un discorso, di pensare un pensiero chiaro, logico. La città lo aveva distrutto. (…) Tutti erano caduti, qui, quelli che avevano desiderato pensare o agire, tutte le lingue si erano confuse ed erano andate a incrementare la dolorosa vegetazione umana.

Jener, der da neben mir lief, inmitten der anderen stummen Jungen, war ein kleiner Mann mit verwelktem Gesicht, mit eintönigem Blick. Einer, der nicht mehr den Mut aufbrachte, den Blick zu erheben, eine Unterhaltung aufzunehmen, einen klaren, logischen Gedanken zu fassen. Die Stadt hatte ihn zerstört. (..) Alle waren sie hier gefallen, jene, die einmal unbedingt denken oder handeln wollten, alle Sprachen waren verwirrt und dazu übergegangen, die schmerzensreiche menschliche Vegetation sprießen zu lassen.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 168 (Übersetzung der Rezensentin)

Die große Stärke Orteses, die diesen Band trotz all seiner desillusionierenden und schockierenden Elemente so reizvoll macht, sind meiner Ansicht nach ihre Porträts; sie beobachtet ganz genau und findet für die feinsten Charakterzüge eine differenzierte und hochpoetische Sprache, die einem bisweilen Schauer über den Rücken laufen lässt und einen immer wieder staunen lässt.

Als Ferrante-Leserin erkennt man auch einige der Viertel Neapels wieder, in denen Lenùs und Lilas Geschichte spielt, sowie gewisse soziale Strukturen, die sich im Stadtbild abzeichnen. Orteses Neapelbild inspirierte Ferrante, wie sie selber sagt, und auch wenn sie der Schönheit und Lebenslust einen größeren Platz in ihrer großen Neapelsaga einräumt als Ortese in ihren kurzen, auf Desillusion zielenden Texten, so ist doch auch Elena Ferrantes Neapel von einem genauen Blick auf die verschiedenen sozialen Milieus geprägt und alles andere als eine hübsche mediterrane Kulisse.

Questa limpida e dolce bellezza di colline e di cielo, solo in apparenza era idillica e soave. Tutto, qui, sapeva di morte, tutto era profondamente corrotto e morto, e la paura, solo la paura, passeggiava nella folla da Posillipo e Chiaia.

Diese reine und sanfte Schönheit der Hügel und des Himmels war nur dem Schein nach idyllisch und süß. Alles hier wusste vom Tod, alles war zutiefst verdorben und tot, und die Angst, nur die Angst, wanderte in der Menge zwischen Posillipo und Chiaia.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 156 (Übersetzung der Rezensentin)

Bibliographische Angaben
Anna Maria Ortese: Il mare non bagna Napoli, Adelphi (1994)
ISBN: 9788845910548

Zur neuen deutschen Übersetzung bei Matthes & Seitz:

Bildquelle
Anna Maria Ortese, Neapel liegt nicht am Meer
Aus dem Italienischen von Marianne Schneider
© 2019 Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH

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