bookmark_borderAlain Claude Sulzer: Postskriptum

Die, die unscheinbar sind, die von den anderen nicht gesehen werden, verwandelt der Schweizer Schriftsteller Alain Claude Sulzer in seinen Romanen in literarische Figuren, die im Gedächtnis bleiben. Von stilistischer Zauberhand erschafft er eine Geschichte, in der diese Unscheinbaren einmal im Leben für einen flüchtigen Augenblick eben doch sichtbar werden, wie der Schweizer Postangestellte Walter, der im Hotel Waldhaus in Sils Maria seinem großen Schwarm, dem berühmten Schauspieler Lionel Kupfer begegnet, wohin dieser sich zurückgezogen hat, um eine neue Filmrolle zu erarbeiten. Es ist das Jahr 1933, das auch den jüdischen Filmstar jäh in den Schatten der Unsichtbarkeit zwingt. Von den Filmproduzenten ebenso fallengelassen wie von seinem Liebhaber, dem intriganten Kunsthändler Eduard, sieht sich Kupfer zur Emigration gezwungen. Erst Jahrzehnte später, so verrät es der Epilog, wird dem von seinem einst jubelnden Publikum opportunistisch Vergessenen noch einmal ein Alterserfolg im Exil in den USA beschieden sein.

Postskriptum ist ein Künstlerroman, der mit Lionel Kupfer eine Figur enwirft, die zwar fiktiv ist, sich jedoch aus vielen Künstlerbiographien zusammensetzt, die mit dem Erstarken des Nationalsozialismus zerstört oder zumindest nachhaltig erschüttert wurden. Sulzer erzählt in seinem schmalen Buch folgerichtig auch nicht den Aufstieg des von ihm erdachten Künstlers, sondern konzentriert sich auf die inneren Schlüsselmomente seines Lebens, bei denen die umgekehrte Richtung des Fallens entscheidend ist. Der zentrale Fall Kupfers im Jahr 1933 wird von einem Prolog und einem Epilog gerahmt. Im Prolog erfährt man von der ganz privaten Familientragödie, die den kleinen Jungen Lionel, der ein begabter Zeichner war, den Weg der Schauspielerei hat einschlagen lassen; im Epilog zeigt Kupfer den gealterten Schauspieler noch einmal in seiner Einsamkeit im Exil.

In diesem mit so leichten Strichen skizzierten Roman verdichten sich verschiedene Motive zu einem Porträt, das nicht nur das kurz aufflackernde und wieder erlöschende Leuchten ganz verschiedener Gestalten einfängt, sondern auch einen Epochenbruch. Es ist auch die Zeit, die die Menschen voneinander trennt. Sie bringt das Gute oder Schlechte in den Menschen hervor, führt, im Falle der Beziehung Kupfers und Eduards, zu Verrat und Illoyalität, im Falle der von Kupfer und Walter zu unsichtbar bleibender Treue. Am Motiv der Homosexualität, die 1933 nicht weniger verdammt war als die Zugehörigkeit zur jüdischen Religion, zeigt Alain Claude Sulzer, wie gesellschaftliche Unsichtbarkeit gleitend in gesellschaftliche Unansehnlichkeit übergeht. Auch die traurige Geschichte von Walters Mutter, der Analphabetin Theres, fügt sich in dieses motivische Textgewebe ein, geht sie einem doch gerade deshalb so tief ins Herz, weil der Autor ebensowenig große Worte darum macht wie seine Figur. Gerade weil die Figuren auf eine Revolte verzichten, bewegen einen die keineswegs nüchtern, aber mit poetischer Selbstverständlichkeit gezeichneten Schicksale umso mehr.

Bibliographische Angaben
Alain Claude Sulzer: Postskriptum [2015], Kiepenheuer & Witsch 2017
ISBN: 9783462050394

Bildquelle
Alain Claude Sulzer, Postskriptum
© 2024 Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

bookmark_borderAngelika Overath: Unschärfen der Liebe

Eine Zugreise von West nach Ost, von der Schweiz über den Balkan nach Istanbul, die eine Reise in die Geschichte der durchquerten Länder und Landschaften ist und zugleich eine Reise in die Innen- und Erfahrungswelt des Reisenden, beides skizzenhaft erzählt, oft in kurzen und Kürzestsätzen, flüchtig und doch eindringlich, bildhaft, wie die am Zugfenster vorbeigleitenden Landschaften. Die Erzählperspektive ist die des Reisenden, wie sollte es auch anders sein, des griechisch-türkischen Baran, den die intensiv durchlebte Distanz der langen, etappenreichen Zugfahrt längst Vergangenes und kürzlich Erlebtes, Traumatisches, Schmerzliches, auch Schönes, in jedem Falle Intensives und Unerwartetes, verarbeiten lässt. Das Buch ist nämlich auch eine unkonventionelle emotionale Dreiecksgeschichte, in der Alva, Schweizer Alpinistin und Exfrau von Cla, dem Geliebten Barans, und eben dieser, untreu gewordene und mit einem ganz anderen Hintergrund als Baran sozialisierte Cla eine wichtige Rolle spielen. Die Beziehungsgeschichte ist dabei auch lesbar als eine Metapher für die geistige und historische Beziehung der östlichen und westlichen Welt zueinander, mit all ihren Sehnsüchten, Missverständnissen und Verletzungen. Der Erzählung ist die Vergänglichkeit eingeschrieben, im Rhythmus des eintönig über die Gleise ratternden Zuges, die Vergänglichkeit von Beziehungen, im persönlichen wie im historischen Kontext, eine Vergänglichkeit, die ihnen zugleich erst ihre Tiefe, ihre, wenn auch prekäre Bedeutung, ihre Schönheit gibt. Ein auf unaufgeregte Art nachdenklich machendes Buch, das jedoch mit einem in mehr als einem Sinne erschütternden Finale aufwartet.

Bibliographische Angaben
Angelika Overath: Unschärfen der Liebe, Luchterhand Literaturverlag 2023
ISBN: 9783630876344

Bildquelle
Angelika Overath, Unschärfen der Liebe
© Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München

bookmark_borderTomasz Jedrowski: Im Wasser sind wir schwerelos

Du hast mich auf eine Weise angesehen, die mir das Gefühl gab, nicht beurteilt zu werden. Im Leben begegnen wir nicht vielen Menschen, die uns dieses Gefühl geben.“ Dieses Du, diese so intime Anrede des Erzählers, die für einen Moment auch etwas Irritierendes hat, als öffne man einen nicht für einen selbst bestimmten Brief, nimmt einen doch von der ersten Seite an gefangen und trägt einen hinein in eine Geschichte, in der Persönliches und Historisches sich auf eben sehr intime Weise miteinander verbinden. Der Erzähler richtet sich, wie im Laufe der Geschichte klar wird, an seinen Geliebten Janusz, und stellt mit dieser zumindest ungewöhnlichen Erzählhaltung eine Reminiszenz an den Autor James Baldwin her — dazu weiter unten noch mehr.

Im Wasser sind wir schwerelos ist der Debütroman von Tomasz Jedrowski, der als Kind polnischer Eltern in Westdeutschland aufgewachsen ist, in Cambridge und Paris studiert hat und heute in Paris lebt. Sein Erzähler Ludwik ist freilich eine fiktive Figur, doch kehrt er mit ihr gewissermaßen zurück in das Osteuropa seiner Vorfahren, in ein Polen, das in den 1980er Jahren einen Kampf zwischen rigoroser kommunistischer Staatspolitik und revolutionärer Sehnsucht nach Freiheit und Demokratie ausfocht. Im Roman wächst Ludwik in Breslau bei Mutter und Großmutter auf, seine Kindheit ist von Geheimnissen umwoben, wie das heimliche Radiohören zuhause, und von einem tiefen Verlustgefühl geprägt; er wächst ohne Vater auf, die Mutter stirbt früh, sein jüdischer Freund Beniek, in den er sich verliebt, ist eines Tages von heute auf morgen verschwunden; die Zusammenhänge werden Ludwik erst im Nachhinein klar, die Unruhen im Land und die Repressionsmaßnahmen der Partei, für die die jüdische Bevölkerung ein willkommener Sündenbock ist.

Deshalb war Benieks Familie fortgezogen. Nachdem sie weg waren, sprach niemand mehr über sie. An einem Tag ist es dein Land und am nächsten nicht mehr.
Benieks Abreise bedeutete das Ende meiner Kindheit und meines kindlichen Denkens: Es schien, als hätte sich alles, wovon ich vorher ausgegangen war, als falsch erwiesen […].

Tomasz Jedrowski, Im Wasser sind wir schwerelos

Ludwik geht zum Studium nach Warschau, vertieft sich heimlich in die Lektüre von James Baldwins Roman Giovannis Zimmer und lernt bei einem verpflichtenden Landwirtschaftshilfsprogramm Janusz kennen, der ihn fasziniert und der zugleich ein Seelenverwandter und so anders ist als er. Janusz kommt vom Land und sein größter Wunsch ist es, sozial aufzusteigen und sei es um den Preis der Anpassung an das System, während Ludwik seine Ideale, vor allem seinen Wunsch nach Freiheit, nicht verraten will. Ihre Liebe ist eine Zeit lang leicht und wunderbar, doch der nur schlecht verdrängte weltanschauliche Konflikt kommt an unvermuteter Stelle immer wieder an die Oberfläche. Was Ludwik während seiner Promotion in Warschau erlebt, schürt seine Gewissenskonflikte weiter an; die von oben gesteuerte Ernährungspolitik, die Schlangen vor den Geschäften, der Hunger, der Aufstand der Landwirte, ebenso wie das Versteckspiel seiner Liebe zu Janusz, all das lässt ihn zweifeln, ob es für ihn mit seinem Gewissen vereinbar ist, in einem Land zu bleiben, in dem er sich in jeder Hinsicht verbiegen und verstellen muss. Womit er sich in seiner Doktorarbeit über den schwarzen Schriftsteller Baldwin philosophisch auseinandersetzt, nämlich mit dem Versuch, innerhalb eines repressiven Systems eine äußerste gedankliche Freiheit zu erreichen, erscheint ihm in der eigenen Realität unmöglich.

„Komm mit mir“, flüsterte ich. „Es ist nicht zu spät. Wir könnten gehen, ohne dass jemand davon weiß, über die Berge in die Tschechoslowakei, dann weiter nach Österreich. Dort kennt uns niemand.“
„Wir hätten nichts“, kam es unter deinen Händen hervor. „Wir sprechen nicht die Sprache. Wir wären verloren.“
„Wir wären frei.“
Das Zimmer war so erfüllt von uns, von den geballten Wolken unserer Worte, dem Nebel unserer Gedanken.

Tomasz Jedrowski, Im Wasser sind wir schwerelos

Eins mit sich sein, ein Mensch sein, das bleibt im sowjetischen Satellitenstaat eine Utopie für Ludwik. Jedrowski gibt dieser Sehnsucht seiner Hauptfigur mit einer stark verdichteten Schreibweise seines Romans Ausdruck, in einer Art neuem poetischem Realismus.

Ich akzeptierte die Verbindung zwischen der Erde und meinem Körper, ich ließ los, und zum ersten Mal in meinem Leben honorierte ich alles als das, was es war, betrachtete es als Wunder. Ich sah die Erde als Erde, meine Hände als Hände, die Pflanzen, aus denen Samen wuchsen, die anderen um mich herum, alle mit ihren eigenen Rechten, Träumen und Innenleben.

Tomasz Jedrowski, Im Wasser sind wir schwerelos

Neben der nur augenblicksweise erspürten Verbundenheit mit der Erde ist auch das Element des Wassers von besonderer Bedeutung für Ludwik. In ihm kristallisiert sich die für den Roman zentrale Metapher der Schwerelosigkeit, die sich wie zur Probe mit den verschiedenen Elementen verbindet.

Ich dachte dann an unseren gemeinsamen Sommer, an die Unbeschwertheit, mit der wir durch den See geschwebt waren. Wenn ich schwamm, löste ich mich im Wasser auf, und aus den Tiefen meiner Erinnerung tauchte etwas in mir auf.

Tomasz Jedrowski, Im Wasser sind wir schwerelos

Diese Leichtigkeit im Wasser, das Gefühl von Vertrauen und Freiheit, verbindet er mit seiner früh verstorbenen Mutter, und er erfährt sie erneut, als er Janusz weitab von den anderen in der Hitze des Sommers und der gegenseitigen Anziehungskraft beim Baden im Fluss begegnet. Aber auch die riskante Schwerelosigkeit der herabsegelnden Flugblätter, die er als Akt des äußersten Widerstands, den er im System zu leisten imstande ist, und die betäubende Schwerelosigkeit der Rauschmittel, die er mit Janusz‘ Freunden einnimmt, sind Varianten derselben Metapher.

Schließlich noch ein Wort zur Intertextualität des Romans, die nicht nur eine inhaltliche, sondern auch eine sprachliche ist. Jedrowski bezieht sich explizit auf James Baldwin, indem er parallel zum Erwachen von Ludwiks Liebe zu Janusz seine intensive Leseerfahrung des amerikanischen Schriftstellers schildert. Die Darstellung einer homosexuellen Liebe in einem feindseligen gesellschaftlichen Umfeld ist teilweise bis in die Details eine deutliche Reminiszenz an Baldwins Roman Giovannis Zimmer (vgl. Rezension vom 09.07.2020). Besonders auffällig ist die in beiden Texten gewählte Erzählsituation eines unmittelbaren Rückblicks, der auf die Du-Form zurückgreift, und mit einer nachdenklichen, selbstbefragenden Schreibweise einhergeht, einer Gewissenserforschung, die einen großen Schmerz bereithält, den Schmerz der Liebe und der Erkenntnis ihrer Ausweglosigkeit in einer als unaufrichtig empfundenen Daseinsform. Auch der poetisch-melancholische Stil, der einen Realismus der Sprache nicht ausschließt, hat mich sehr an Baldwins Roman erinnert, den er zitiert, ohne ihn bloß zu imitieren. Denn Jedrowski gelingt über alle Ähnlichkeit hinaus zum Glück ein eigenständiger Stil, der Im Wasser sind wir schwerelos zu einer neuen und sehr lesenswerten Antwort auf Giovannis Zimmer macht. Hier ein abschließendes Textbeispiel:

Du hast mich auf eine Weise angesehen, die mir das Gefühl gab, nicht beurteilt zu werden. Im Leben begegnen wir nicht vielen Menschen, die uns dieses Gefühl geben. Und dennoch hatte ich an jenem Abend Angst, als ich im Bett lag und las […]. Angst wegen des Lochs, das durch mein Vertrauen in dich entstanden war, Angst vor der Verletzlichkeit, die es geschaffen hatte. […] Vor mir lag schwarz auf weiß die Unermesslichkeit der Lügen, die ich mir all die Jahre eingeredet hatte, gespiegelt im Leben des Erzählers, […] als würde meine Scham von einem kalten, klaren Licht beleuchtet. […] Seine Angst schürte meine Angst. Ich war wie David [die Hauptfigur aus Giovannis Zimmer], weder hier noch dort, fühlte mich nirgendwo wohl und sah keinen Ausweg.

Tomasz Jedrowski, Im Wasser sind wir schwerelos

Bibliographische Angaben
Tomasz Jedrowski: Im Wasser sind wir schwerelos, Hoffmann und Campe (2021)
Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Jakobeit
ISBN: 9783455011173

Bildquelle
Tomasz Jedrowski, Im Wasser sind wir schwerelos
© 2021 Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg

bookmark_borderAstrid Seeberger: Goodbye, Bukarest

Astrid Seebergers (auto)biographisch motivierter Roman ist, wie schon der Vorgänger, Nächstes Jahr in Berlin, eine historische Spurensuche in literarisierter Form, mit der sich die Autorin den blinden Flecken in der Vergangenheit ihrer Familie anzunähern versucht. Diesmal geht es um Bruno, den Bruder ihrer Mutter, der angeblich in Stalingrad gefallen ist, was, wie sie später erfährt, jedoch nicht der Wahrheit entspricht. Doch außer Brunos Namen besitzt sie kaum Anhaltspunkte, lediglich eine Fotografie von Chopin, dem er sehr ähnlich gesehen haben soll, und wenige unbekannte Namen im Adressbuch ihrer verstorbenen Mutter. So trifft sich die Erzählerin, in deren literarische Haut die Autorin schlüpft, nacheinander mit Menschen, die eine Zeitlang Brunos Weggefährten waren, und nach und nach nimmt seine Geschichte, vermittelt über die Erinnerungen ihrer Gesprächspartner, Gestalt an. Auch wenn sie erst einmal eher schemenhaft bleibt, im Vergleich zu den viel plastischer und eindrücklicher wirkenden Lebensgeschichten der Weggefährten, denen die Autorin großen Raum gewährt. Doch gerade dadurch bekommt der Roman eine über die rein biographische Aufarbeitung einer Familiengeschichte hinausgehende historisch-gesellschaftliche Dimension und eine fiktionale Verdichtung. Er wird zum Epochenbild, in dem sich verschiedene, von Krieg, Repression und Diktatur geprägte Schicksale spiegeln.

Den tiefsten Eindruck hat in mir die Schilderung der Gefangenschaft im Strafgefangenenlager in Sibirien hinterlassen, vielleicht das Herzstück des Romans, da hier die fast unmögliche Liebesgeschichte von Bruno und Dinu ihren Anfang nimmt. Erzählt wird diese Episode aus der Perspektive des ersten Gesprächspartners der Erzählerin, Dmitri Fjodorow alias Hannes Grünhoff, der, Sohn eines russischen Vaters und einer deutschen Mutter, nach dem Kriegstod des Vaters und der Deportation seiner Mutter in ein sowjetisches Lager, obwohl er fast noch ein Kind ist, seinerseits in ein Lager gebracht wird: in dasselbe, in dem auf verschiedenen Wegen auch der rumänische Komponist Dinu und der deutsche Pilot Bruno landen, mit denen er Freundschaft schließt. In zugleich rauen und poetischen Bildern wird in der Erinnerung von Dmitri/Hannes sowohl das harte, gefährliche Leben im Lager lebendig als auch die Verlorenheit des Jungen, der er damals war, und der trotz der von tiefem Vertrauen geprägten und für ihn in dieser Situation vielleicht lebensnotwendigen Verbundenheit mit den beiden Männern letztlich nur die Rolle des Dritten im Bunde einnimmt, was er damals eher ahnt als wirklich versteht. Mit der Zeit im Lager endet dann auch Hannes‘ Zeugenschaft, Bruno und Dinu gelangen auf Umwegen nach Bukarest zu Dinus Schwester, und eine neue Dreieckskonstellation beginnt, in einem Land, in dem sie sich, erst recht als homosexuelles Paar, bald kaum weniger unfrei fühlen als im sibirischen Arbeitslager.

Astrid Seeberger schreibt in einem nachdenklichen, poetisch angereicherten Stil, in kurzen Sätzen, die sich flüssig und leicht lesen, aber stellenweise etwas gefällig konstruiert sind, ein Eindruck, der sich auch bei so manchem Sprachbild aufdrängt, dessen poetische Kraft literarisch nicht jedesmal voll und ganz überzeugt. Eine Ursache mag wohl darin liegen, dass die Autorin ihren nachdenklich-melancholischen Stil, der anfangs ja besonders dazu dient, die Ich-Erzählerin zu charakterisieren — als Suchende, als sich für die Erinnerung vorsichtig Öffnende –, in ihrem multiperspektivischen Text durchgehend beibehält, anstatt für die eingeschobenen Geschichten der Weggefährten eine eigene, ihrem Charakter und ihrer Erzählsituation entsprechende Ausdrucksweise zu finden.

Dennoch berührt einen diese Geschichte auf eine sehr zarte, feinfühlige Art und Weise. Man spürt, dass der Roman aus einem großen Einfühlungsvermögen und einer aufrichtigen Anteilnahme am Leben der Figuren heraus geschaffen wurde, deren fein beobachtete Schicksale die Autorin behutsam und lebendig erzählt. Und so gelingt ihr auch die Transformation der eigenen Familiengeschichte in einen mit kleinen Einschränkungen auf jeden Fall lesenswerten Roman über den Einfluss der Geschichte auf die verschlungenen Lebenswege und -kämpfe der Menschen.

Bibliographische Angaben
Astrid Seeberger: Goodbye, Bukarest, Urachhaus (2020)
Aus dem Schwedischen übersetzt von Gisela Kosubek
ISBN: 9783825152307

Bildquelle
Astrid Seeberger, Goodbye, Bukarest
© 2020 Verlag Freies Geistesleben und Urachhaus GmbH, Stuttgart

bookmark_borderJames Baldwin: Giovannis Zimmer

Die Bücher von James Baldwin (1924-1987) sind inzwischen Klassiker und sie sind Texte von großer literarischer Qualität, in denen sich die Stimme eines Autors erhebt, der sich in zweierlei Hinsicht einer Minderheit zuordnen lässt. In diesem Sinne könnte man Giovannis Zimmer als Roman eines schwarzen Autors über Homosexualität bezeichnen, aber gegen diese doch auch wieder vereinnahmenden Zuschreibungen hätte Baldwin, der sich durchaus in der Bürgerrechtsbewegung engagierte, sich jedoch als Mensch und als Schriftsteller keinesfalls zur Symbolfigur reduzieren lassen wollte, sich wohl mit Sicherheit gewehrt. Umso schöner ist es, dass seine Literatur, die Vorurteile aufdeckt und immer den Menschen sieht, nicht die Gruppe, in neuen deutschen Übersetzungen gerade jetzt wiederentdeckt wird, zu einem Zeitpunkt, wo eine teils überfällige und dringend notwendige, teils aber auch sich ins Gegenteil verkehrende, ihre eigentlichen Ziele ad absurdum führende Debatte um kulturelle Aneignung im Bereich von Kunst und Literatur geführt wird.

Giovannis Zimmer ist Baldwins zweiter Roman nach Go tell it on the mountain, in dem er von Glaube, Bigotterie und sexueller Unsicherheit in einem afroamerikanischem Milieu erzählte. Trotz expliziter Wünsche seines amerikanischen Verlags weigerte er sich aber, erneut einen Roman mit afroamerikanischen Protagonisten vorzulegen, da er sich nicht auf ein bestimmtes Herkunftsmilieu — „Identität“ würden wir heute sagen — festlegen und dadurch eben auch begrenzen lassen wollte. In Giovannis Zimmer sind daher nun eben alle wichtigen Figuren Weiße, weiße Amerikaner und weiße Franzosen. Das hat in den 1950er Jahren, als der Roman erschien, durchaus für Furore gesorgt, so manch einer empfand diese „kulturelle Aneignung“ als Skandal und Tabubruch…

Die Handlung entwickelte Baldwin, der selbst einige Zeit in Frankreich verbrachte, aus einem autobiographischen fait divers, den er jedoch zu einem psychologisch vielschichtigen Roman ausgebaut hat, zu einer auch stilistisch beeindruckenden Erzählung: Mit den ersten Sätzen wird man schon von ihr gefangen genommen, und das Poetische, Nachdenkliche, Empathische des Textes, der zugleich nie vor schonungsloser (Selbst-) Kritik seiner Figuren zurückscheut, begleitet einen bis zur letzten Seite. Manchmal ist die Lektüre geradezu schmerzhaft, aber immer auch intensiv, schön und flüssig lesbar und der Stil auf unprätentiöse Weise komplex in seinen psychologischen Beobachtungen und metaphorisch-literarischen Verdichtungen.

Ich weiß gar nicht, wie ich das Zimmer beschreiben soll. In gewisser Weise wurde daraus jedes Zimmer, in dem ich je war, und jedes Zimmer, in dem ich fortan sein werde, wird mich an Giovannis Zimmer erinnern. Wirklich lange habe ich dort nicht gewohnt — wir lernten uns vor Frühlingsbeginn kennen, und im Sommer zog ich aus –, aber noch immer ist mir, als hätte ich dort ein Leben verbracht. Das Leben in diesem Zimmer schien sich, wie gesagt, unter Wasser abzuspielen, und fest steht, dass dort alles umgewälzt wurde.

Baldwin, Giovannis Zimmer

Erzählt wird die Geschichte aus der Ich-Perspektive eines jungen Amerikaners namens David in Form einer Rückschau, die an eine Beichte erinnert. David quält das Gewissen, er empfindet Mitschuld am unmittelbar bevorstehenden und durch nichts mehr aufzuhaltenden Tod eines Menschen, den er liebte und doch fallen ließ. Indem er in Rückblenden sein Leben und die Begegnung mit Giovanni Revue passieren lässt, unternimmt er auch eine Selbstbefragung, die immer wieder in Selbstverachtung umschlägt, welche sich wiederum mehr und mehr als Movens seines schließlich verhängnisvollen Verhaltens entlarvt.

So erfährt man in eindringlichen Szenen vom romantischen Beginn und erst prosaischen, dann tragischen Ende der Liebesgeschichte zwischen ihm und dem Barista Giovanni in Paris, aber auch von viel weiter in seine Kindheit und Jugend zurückreichenden Episoden: vom frühen Tod der Mutter, vom instabilen Verhältnis zu seinem Vater, von den ihn überfordernden sexuellen Gefühlen zu seinem Schulfreund, seiner Flucht und seinem Verrat an ihm, von seinen jugendlichen Alkoholexzessen und schließlich von seiner Verlobung mit der Amerikanerin Hella und seiner weiteren Flucht nach Paris, wo er in Hellas Abwesenheit in Schwulenbars verkehrt, ohne sich jedoch in der Öffentlichkeit oder auch nur sich selbst gegenüber zu seiner Sexualität zu bekennen.

James Baldwin zeichnet natürlich auch ein subtiles Gesellschaftsporträt und übt indirekt Kritik an homophoben Machtstrukturen und Vorurteilen gegenüber Außenseitern der Gesellschaft, die Sündenböcke braucht, um sich ihrer selbst zu versichern. So fällt, als der schmierige Barbesitzer Guillaume umgebracht wird, der Verdacht sofort auf den homosexuellen Giovanni, der zudem auch noch Ausländer ist. Wie sich die Geschichte wirklich abgespielt, welche Situation der Ausbeutung zu der Tat geführt hat, will die Öffentlichkeit hingegen gar nicht so genau wissen.

Es war ein entsetzlicher Skandal. (…) Ein solcher Skandal droht immer, noch bevor das Echo verhallt, einen Staat in seinen Grundfesten zu erschüttern. Man braucht eine Erklärung, eine Lösung und so schnell wie möglich ein Opfer. Die meisten in Verbindung mit diesem Verbrechen aufgegriffenen Männer wurden nicht wegen Mordverdachts aufgegriffen. Sondern weil sie im Verdacht standen, wie die Franzosen es mit einer wohl hämischen Behutsamkeit nennen, les goûts particuliers zu pflegen.

Baldwin, Giovannis Zimmer

Trotzdem ist das Buch kein politisches Manifest, versteht es sich nicht als Protestliteratur — sondern als Literatur. Baldwin selbst legte Wert darauf zu betonen, dass das Thema des Romans nicht die Homosexualität sei, sondern die Angst, jemanden zu lieben. Damit stellt er eine universale menschliche Eigenschaft in den Vordergrund, eine existentielle Erfahrung, die unabhängig von Hautfarbe, sexueller Orientierung usw. ist.

„Du findest mein Leben schändlich“, setzte er nach, „weil meine Bekanntschaften schändlich sind. Sind sie ja auch. Aber du solltest dich fragen, warum.“
„Warum sind sie — schändlich?“, fragte ich ihn.
„Weil keine Zuneigung in ihnen steckt und keine Freude. (…)“

Baldwin, Giovannis Zimmer

Darüber hinaus ist sein Roman auch ein Text über Scham, Verdrängung und (Selbst-) Erkenntnis, über den Prozess einer Bewusstwerdung, die den schmerzhaften Weg des Sich Erinnerns geht, das ein wahrer Kraftakt ist und damit auch ein würdiger und mitreißender Gegenstand der modernen (Liebes-) Tragödie, die uns Baldwin mit Giovannis Zimmer hinterlassen hat.

Menschen, die sich erinnern, beschwören Wahnsinn durch Schmerz, den Schmerz ihrer fortwährenden Unschuld; Menschen, die vergessen, beschwören eine andere Form des Wahnsinns, den Wahnsinn, den Schmerz zu leugnen und die Unschuld zu hassen. Die Welt ist im Wesentlichen unterteilt in Wahnsinnige, die sich erinnern, und Wahnsinnige, die vergessen. Helden sind rar.

Baldwin, Giovannis Zimmer

Bibliographische Angaben
James Baldwin: Giovannis Zimmer [engl. Orig. 1956], dtv 2020
Mit einem Nachwort von Sasha Marianna Salzmann
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow
ISBN: 9783423282178

Bildquelle
James Baldwin: Giovannis Zimmer
© 2020 dtv Literatur in der dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG

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