bookmark_borderJorge Comensal: Verwandlungen

Welch groteske, absurde, witzige, wilde und zugleich tief berührende, emotionale, weise Erzählung der junge mexikanische Autor Jorge Comensal mit seinem ersten Roman aufs Papier gezaubert hat!

Ein ziemlich zerrupfter, in Schimpftiraden geübter und sehr eigenwilliger Papagei wird zum letzten Wegbegleiter eines ebenso eigenwilligen, eben noch eloquenten Rechtsanwalts und etwas dominanten Familienvaters, der durch eine bösartige Verwandlung, nämlich durch die Mutation einer Krebszelle, seine Zunge verliert, die ihm herausoperiert wird, und der, derart seiner Sprachmächtigkeit beraubt, um seine von allen Seiten angegriffene Autorität und Würde kämpft.

Darf man mit Humor, Witz und Sarkasmus eine Krebsgeschichte erzählen? Ja, unbedingt, wenn man es so macht, wie Jorge Comensal! Gerade dadurch, dass er sich mit seinem Erzählstil von der einseitigen und passiven Leidensperspektive löst, die den Patienten auf seine Krankheit reduzieren würde, wird er dem von Schrecken, Ohnmacht und Verzweiflung begleiteten unermesslichen Kraftakt des leidenden Menschen überhaupt erst gerecht, ist dieser doch nicht ausschließlich Leidender, sondern immer noch ein Mensch mit durchaus ambivalenten Seiten.

Der leidende Empörer, Ramón Martinez, der in dem vom treuen Hausmädchen Elodia sehr zum Unwillen seiner Gattin angeschleppten Papagei, den er nach dem mexikanischen Reformer und Staatsmann Benito (Juárez) nennt, ein anarchisches Sprachrohr all der Wut und des Widerstands findet, die er selbst nicht mehr oder nur noch mit äußerster Mühe und der Umständlichkeit handschriftlicher Notizen artikulieren kann, steht im Zentrum der Geschichte, als deren zweite Hauptfigur die Lacan’sche Psychoanalyse und die an Mutationen („las mutaciones“ ist auch der spanische Originaltitel) reiche Geschichte des Krebs konkurrieren.

Ramón, dessen Innenschau hauptsächlich seine verzweifelt nach Ventilen suchende Wut auf seine eigene Ohnmacht sowie auf das Verhalten der anderen, allen voran seines geldgierigen Bruders, offenbart sowie seine mehr praktischen als philosophischen Überlegungen, wie er seinem unerträglich gewordenen Leben rechtzeitig ein selbstbestimmtes Ende geben kann, ist selbst eine tragikomische Figur. Denn auch wenn er ein liebender Vater und Ehemann ist, als Anwalt für Gerechtigkeit eintritt und sein in Not geratenes Hausmädchen Elodia beschützt und unterstützt, weist er auch paternalistische Züge auf, die durch die Krankheit umso eindrucksvoller sabotiert und demontiert werden können. Er ist dadurch nicht primär als Opfer gezeichnet, sondern bleibt ein Mensch mit all seinen Sonnen- und Schattenseiten, der wortwörtlich unsagbar darunter leidet, mehr und mehr seine Autonomie zu verlieren. Und so lauert hinter der zutiefst komischen Oberfläche der grotesken und absurden Szenen, die sich im Zuge des Aufbäumens gegen das Erstummen abspielen, eine abgründige Erfahrung aus den Tiefen der conditio humana: Der schlimmste Schmerz kann auch durch die palliative Medizin nicht gestillt werden, der des Bewusstseins der eigenen Ohnmacht und des eigenen Verfalls.

Daneben erzählt der Roman auch die Geschichte von Teresa, einer auf Krebspatienten spezialisierten Psychotherapeutin, die selbst eine Krebserkrankung überlebt hat und in einer vielschichtigen, nicht immer ganz eindeutigen, vielleicht zu involvierten Beziehung zu ihren Patienten steht, worüber sie mit ihrer Supervisorin ausführliche Gespräche führt, in denen sie selbst auf der Couch liegt, und die außerdem zur Linderung der seelischen Schmerzen Marihuana für ihre Patienten anbaut, von dem sie sich von Zeit zu Zeit selbst eine kleine Dosis abzweigt. Ihr jüngster Patient ist Eduardo, der als Kind an Leukämie erkrankte und längst geheilt ist, doch seine Angst vor der Krankheit durch eine extreme Phobie vor Keimen jeder Art substituiert hat, die für allerlei absurde Komplikationen in seinem Alltag sorgt, der zum permanenten Ausnahmezustand wird, und ihn in ein unüberwindliches Dilemma stürzt, als er sich in eine Kommilitonin verliebt, die mit Vorliebe an ihren Bleistiften saugt. Und schließlich ist auch der Onkologe Almada, der im Erbgut von Ramóns amputierter Zunge schon die Verheißung eines internationalen Durchbruchs in der genetischen Krebsforschung sieht, in Comensals grotesken Kosmos der Mutationen involviert.

Die Literatur vermag hier etwas, was die Realität einer Krankheitsgeschichte übertrifft und ihr dennoch auf äußerst humane Art eine tiefere Wahrheit abtrotzt: im Angesicht des Schlimmsten herzhaft zu lachen und das nicht aus Bosheit oder Unwissen, sondern im vollen Bewusstsein des menschlichen Schicksals.

Bibliographische Angaben
Jorge Comensal: Verwandlungen, Rowohlt (2019)
Aus dem Spanischen von Friederike von Criegern
ISBN: 9783498025410

Bildquelle
Jorge Comensal, Verwandlungen
© 2019 Rowohlt Verlag

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