bookmark_borderNathan Hill: Wellness

Ein junger Mann und eine junge Frau, jeweils auf ihre Weise in den dunkleren Vierteln im Chicago der 1990er Jahre gestrandet, beobachten sich heimlich gegenseitig in den mal erleuchteten, mal abgedunkelten Fenstern ihrer gegenüberliegenden Wohnungen. Er heißt Jack und ist ein junger Kunststudent, der sich seiner ländlichen Wurzeln zu entwinden versucht, sie heißt Elizabeth und stammt aus einer reichen Familie, zu der sie ebenfalls jeden Kontakt abgebrochen hat. Wie es der Zufall will, oder das Schicksal…, begegnen sich diese beiden Seelen, die trotz ihrer so unterschiedlichen Charaktereigenschaften und Herkunftmilieus so gut zusammenzupassen scheinen, in der subkulturellen Szene Chicagos. Es ist der romantische Beginn einer Liebe, deren Geschichte Nathan Hill auf vielen ungemein spannenden und psychologisch wie gesellschaftlich tief grabenden Seiten entfaltet. Wo jedoch eine traditionelle Liebesgeschichte wohlweislich endet, nämlich mit der Eheschließung, setzt der Autor nun erst so richtig an, um aus der vor Jahren verfassten Kurzgeschichte über zwei sich liebende Voyeure einen großangelegten Roman zu spinnen, der um die Geschichte einer Ehe herum ein ganzes Gesellschaftspanorama entwirft.

Nach dem Eingangskapitel, in dem sich Jack und Elizabeth kennenlernen, springt die Erzählung um viele Jahre nach vorn und zeigt das Paar, das inzwischen einen Sohn im Grundschulalter hat, in ihrer Ehe, in die eine nicht mehr übersehbare Unzufriedenheit eingezogen ist. Ein wichtiger Meilenstein in ihrem Leben als Familie steht bevor, der Umzug in eine Eigentumswohnung, die, als Teil eines bisher noch in der virtuellen Planungsphase steckenden ambitionierten Wohnprojekts, in einem der wohlhabenderen Viertel Chicagos liegen wird und, unter anderem mit zwei getrennten Schlafbereichen, auch alle Unsicherheiten moderner Ehe- und Familienplanung zu berücksichtigen versucht. Es folgen in weiteren Kapiteln immer wieder Rückblicke in die Kindheit von Jack und Elizabeth, in ihre Studienjahre, und auch in die Vorgeschichte ihrer Familien. So wenig hier linear erzählt wird, so wenig unternimmt Nathan Hill, ohne deshalb allzu große stilistische Experimente einzugehen, mit denen er von den für den amerikanischen Gesellschaftsroman gegenwärtig geltenden Erzählkonventionen abweichen würde, den Versuch, seine Figuren als lineare Persönlichkeiten mit fest umrissenen Identitäten anzulegen. Und doch lernt man Jack und Elizabeth mit ihren facettenreichen Ichs, deren zeitliches Ineinanderfließen Marcel Proust in seiner Recherche du temps perdu so unvergleichlich, unübertroffen als literarische Wahrheit herausgearbeitet hat, mit all ihren schwankenden Gefühlen, Ängsten, Hoffnungen, Vorstellungen sehr gut kennen. Diese auf ihre je eigene Weise sensiblen und reflektierten Menschen werden einem bald sehr vertraut und offenbaren einem gleichwohl bis zum Schluss immer wieder neue Seiten.

Der Roman ist voll von Psychologie, was ihm gelegentlich schon vorgeworfen wurde, was sich aber eigentlich sehr stimmig in die Fiktion fügt, die mit der Psychologin und fast obsessiven Wissenssammlerin Elizabeth eine Figur ins Zentrum stellt, die alles durch eine psychologische Brille betrachtet. Mindestens ebenso sehr nimmt der Roman auch eine soziokulturelle Analyse vor, er ist eine fein beobachtete und literarisch komplex aufgearbeitete soziologische und kulturgeschichtliche Darstellung der letzten 20, 30 Jahre. Es wird hier den zahlreichen in der gegenwärtigen Gesellschaft auftretenden Differenzen nachgespürt, eindrücklich zum Beispiel der wachsenden Kluft zwischen amerikanischer Provinz und Weltläufigkeit, zwischen Stadt- und Landbevölkerung. Zu letzterer gehört etwa Jacks Vater, der in der Prärie beheimatet ist und sich, als alternder, erkrankter Mann von den Algorithmen des Internets in die Irre und in so manche obskure Verschwörungstheorie (ent)führen lässt. Auch Herkunft und Verwurzelung sind ein wichtiges Thema des Romans und damit verbunden die Frage der Gruppenzugehörigkeit, die die Angst vor dem Ausschluss ebenso beinhaltet wie den Wunsch, anders, ja besonders zu sein. Die Figuren, und allen voran natürlich Jack und Elizabeth, sind hier auch symptomatisch für die Zeit und die Gesellschaft, der sie erwachsen. Trotz ihrer Unterschiede haben sie nämlich ein gemeinsames Lebensthema, das sie mit unzähligen Menschen heute teilen dürften: Beide sehnen sich nach einer irgendwie gearteten Gewissheit im Leben, die der permanenten Veränderung der Umwelt und des Ichs abzuringen ist, beide erleben seit ihrer Kindheit, welchen Kraftakt es bedeutet, sich immer wieder an neue Umstände anpassen zu müssen. Die vielen Seiten, die ihrem Aufwachsen eingeräumt werden, sind also nicht nur der psychologischen Herleitung der Charaktere und ihrer sozialen Bedingtheit geschuldet, sondern zeigen auch das Potential, das der charakterlichen Entwicklung trotz allem innewohnen kann.

Elizabeth hat während ihres Studiums an einem Institut für Placeboforschung zu arbeiten begonnen; später wird sie dort die Leitung übernehmen. Das Institut, dessen Tarnname, Wellness, mit einer gewissen Ironie den Zeitgeist aufs Korn nimmt, ist im Grunde das metaphorische Zentrum des Romans. Denn Nathan Hill veranschaulicht an der zwangsläufig im Halbdunkel zwischen Lüge und Wahrheit stattfindenden Arbeit der Placeboforschung, welche Macht die Verpackung einer geschickt erzählten Geschichte auf uns Menschen ausübt, wie bereitwillig wir uns täuschen und manipulieren lassen, wenn wir im Gegenzug etwas serviert bekommen, an das wir glauben können. Das Ritual ist in unserer heutigen Zeit längst nicht ausgestorben, sondern bedeutsam wie eh und je. Placebos zeitigen nämlich vor allem dann signifikante Effekte, wenn sie mit einer Sinn stiftenden Geschichte aufgeladen, mit einem bildhaften Kontext angereichert werden, der den Glauben stärkt — an die Heilung ebenso wie an das Produkt. Diesen psychologischen Mechanismus, seine ethische Ambivalenz und seine gesellschaftliche Brisanz, führt uns der Autor in seinem Text immer wieder vor Augen; in den unterschiedlichsten Lebensbereichen zeigt sich das Fortdauern des Glaubenwollens, das Nathan Hill als eine anthropologische Grundkonstante herausarbeitet. Ob es um technische Phänomene wie den Erfolg von Hypertext und Algorithmus geht, um esoterische Selbsthilfegruppen, um den Immobilienmarkt, um Ernährungsfragen, Fitness, Kindererziehung, Kunst und Ästhetik — das Verhalten der Menschen erscheint in seiner ideologischen Anfälligkeit als gefährlich manipulierbar, der Erfolg eines neuen Trends, eines neuen Mediums dann garantiert, wenn es ihm gelingt, wenig oder nichts zu etwas Bedeutungsschwerem aufzublasen und die Menschen mit einer möglichst emotionalen Geschichte zu ködern, die sie in ihrer Einsamkeit, in ihrer Wut, in ihrer Angst zu verstehen scheint. Und während ehedem der Satan als Gegenspieler Gottes herhalten musste, um das menschliche Gewaltpotential aufzufangen, entstehen heute allerorten neue Teufelsbilder, gegen die mit Hass und Hetze gepredigt wird. Das Gewaltsame des Rituals, seine auf Exklusion beruhende Funktionsweise, wirkt auch in den Weiten des kaum regulierbaren Internets mit umso größerer Zerstörungskraft weiter fort.

Als Elizabeth die Leitung von Wellness übernimmt, verändert sie die Ausrichtung des Instituts verstärkt auf die praktische Anwendung der Placebos, in denen sie anfangs noch in gutem Glauben ein Heilmittel gerade für die durch Stress, Überforderung, Unübersichtlichkeit ausgelösten chronischen Krankheiten unserer Zeit sieht, das den Menschen vorzuenthalten ethisch noch weniger vertretbar sei, als es ihnen unter Vorgaukelung falscher Tatsachen anzubieten. Vielleicht kann ein ernährungstechnisch harmloser Placebo-Liebestrank sogar Beziehungen retten? Oder unterstützt man damit auf unethische Weise einen Prozess, in dem der Schmerz darüber, betrogen und belogen worden zu sein, einfach in eine neue Lüge, diesmal sich selbst gegenüber, verkehrt wird? Während Elizabeth also, wie es eine Romanfigur einmal etwas hinterhältig auf den Punkt bringt, mit ihren Placebos nichts verschreibt, fotografiert Jack mit seiner scheinbar abstrakten Fotokunst das Nichts, beide frönen sie der Abwesenheit, der Leere — ein Ausdruck unserer gegenwärtigen Haltlosigkeit? Doch so, wie Elizabeths Placebos zwar substanzlos sind, aber nicht unbedingt folgenlos, wird, so tief wurzelt das Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit, auch Jacks Kunst mit allerlei „content“, wie man heute so schön sagt, versehen, ja es blitzt am Ende gleichsam als Ausdruck literarischer Gerechtigkeit sogar eine Form von Wahrheit auf, die zumindest für ihn eine Bedeutung hat, die nicht konstruiert ist. Davor jedoch wird auch die Kunst im Verlauf des Romans immer wieder als ein gesellschaftliches Spielfeld vorgeführt, auf dem, abgekoppelt von der Wirklichkeit, eine Bedeutung, eine Sinnhaftigkeit konstruiert wird, mit der sich die Menschen selbst etwas vormachen. Jacks plötzliche Wertschätzung als ernstzunehmender Künstler entsteht, wie es in einer der satirisch entlarvenden Szenen geschildert wird, in denen Nathan Hill mit feinem erzählerischem Witz Lebenslügen, Ideologien und sonstige gesellschaftlich verbreitete Verhaltensweisen ad absurdum führt, durch eine einzige Notlüge in einer ziemlich peinlichen Situation: Um zu verschleiern, dass er seine Befugnisse als studentische Hilfskraft auf ziemlich dilettantische Weise dazu missbraucht hat, auf den damals noch langsam arbeitenden Universitätsrechnern Pornographie herunterzuladen, verleiht Jack den verräterischen Bildern, von denen er Abzüge gemacht hat, kurzerhand eine Metaebene, um sie als künstlerisches Projekt auszugeben. Ohne diese nachträglich aufgepfropfte höhere Ebene, ohne den sinnstiftenden Kontext, ohne die Fiktion droht alles reine Materialität zu bleiben, in der Kunst, in der Liebe, in allem, was man im Leben angeht.

Dieses durch den gemeinsamen Nenner des Placebohaften zusammengehaltene Ineinander von Kunst, Ästhetik, Gesellschaft und Psychologie, die Fülle der Motive, Symbole, Spiegelungen, die sich durch die Erzählung ziehen, das geschmeidig in die Handlung integrierte Wiederaufgreifen und Variieren von Verhaltensmustern ebenso wie von gesellschaftlichen und kulturellen Phänomen ist der Grund, weshalb ich Wellness, auch wenn der Text kein dekonstruktivistisches Formexperiment ist, sondern eine jederzeit verständliche klassische Erzählung, für mehr als einen Unterhaltungsroman halte.

Bibliographische Angaben
Nathan Hill: Wellness, Piper 2024
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Stephan Kleiner und Dirk van Gunsteren
ISBN: 9783492605496

Bildquelle
Nathan Hill, Wellness
© 2024 Piper Verlag GmbH, München

bookmark_borderClaudia Hammond: Die Kunst des Ausruhens

Zeitmanagement, Effizienz, Leistung, Optimierung — das sind sehr geläufige und auch ideologisch aufgeladene Begriffe aus unserer von einer bestimmten Art von wirtschaftlichem Denken geprägten Zeit. Ruhe, Muße, Müßiggang kommen darin nicht vor, oder wenn sie es tun, dann in unterschwelliger moralischer Abwertung oder in Abhängigkeit vom Ideal der Geschäftigkeit definiert und als Pause von einer Tätigkeit für diese nutzbar gemacht. Während wir einerseits die in früheren Zeiten durchaus geadelte Muße heute geringschätzen und ein hohes Arbeitspensum mit Bedeutsamkeit gleichsetzen, klagen wir andererseits über Stress, sehnen uns nach Erholung und tun uns doch oft so schwer, sie zu finden. Kein Wunder, dass der Markt von Ratgebern für Achtsamkeit und Selbstfürsorge verschiedenster Qualität inzwischen nur so wimmelt.

Die Kunst des Ausruhens kommt also nicht aus dem Nichts. Die Autorin Claudia Hammond versucht darin auf spielerische und zugleich wissenschaftlich fundierte Weise, die für uns Menschen so essentiellen Phasen der Entspannung auch moralisch aufzuwerten bzw. von einem einengenden moralischen Denken zu befreien. Denn auch wenn etwa der Begriff der Resilienz in aller Munde ist — tendiert er nicht oft dazu, heimlich wiederum in den Dienst einer gesteigerten Leistungsfähigkeit gestellt zu werden? Die Aufwertung der Muße erfordert daher für uns heute wahrscheinlich ein tieferes Umdenken, dessen ist sich, so spürt man es bei der Lektüre, auch die Autorin bewusst. Bewusst ist sie sich außerdem auch darüber, dass wir, um wirklich Erholung empfinden zu können, gerade aus der verbreiteten Logik der Effizienz ausbrechen müssen und dass uns mit einem mahnenden Appell zu mehr Erholung, erst recht in einer gewissen vorgegebenen Form, deshalb kaum geholfen wäre, sondern nur neuer Stress hervorgerufen würde. In ihrem Buch, das eine kurzweilige und erhellende Lektüre bietet, geht es vor allem darum, Anregungen und Impulse zu geben, auf deren Basis wir weiter darüber nachdenken können, wie wir uns unsere eigenen Ruheorte schaffen und gestalten können.

Claudia Hammond — das erfährt man nicht nur vom Klappentext, sondern auch bei der Lektüre des Buches — arbeitet als Rundfunksprecherin bei der BBC, ist Dozentin für Psychologie an der Boston University in London, zudem ausgezeichnet als Verfasserin populärwissenschaftlicher Bücher (z.B. zur Wahrnehmung der Zeit) — und sie ist eine leidenschaftliche Hobbygärtnerin: für sie eine ganz persönliche Strategie, immer wieder Ausgleich und Erholung vom Berufs- und Alltagsstress zu finden. Auch wenn Hammond ihre eigenen Erfahrungen anekdotenhaft in den Text mit einfließen lässt, bleibt dieser zum Glück frei von Ratgeberallüren und ist auch alles andere als ein esoterisch angehauchtes Aus-dem-Nähkästchen-Plaudern. Denn als Ausgangspunkt und wissenschaftliche Verankerung dienen der Autorin die aufschlussreichen Ergebnisse einer groß angelegten Studie zur Frage, wie wir am besten zur Ruhe kommen, dem so genannten „Ruhe-Test“, den sie als Psychologin mit initiiert und gestaltet hat.

In ihrem Buch stellt sie die zehn Arten der Erholung vor, die von den Studienteilnehmern am häufigsten genannt wurden, darunter ein heißes Bad nehmen, in der Natur sein, wandern, aber z.B. auch das mentale Wandern der Gedanken, das Tagträumen; an erster Stelle befindet sich übrigens das Lesen, für alle Literaturbegeisterten keine Überraschung, sondern Auslöser stillfreudiger Genugtuung; genauso hat es aber auch das Fernsehen, von der Autorin mit der gleichen Genauigkeit untersucht, in die engste Auswahl geschafft. Claudia Hammond beschreibt jede dieser zehn verschiedenen Arten der Erholung sehr detailliert, begutachtet und prüft sie von allen Seiten, ordnet sie, viele andere Studien heranziehend, wissenschaftlich ein, geht auf die historischen, kulturellen, gesellschaftlichen Hintergründe ein und hinterfragt sie auch in ihrer Wirksamkeit. Das letzte Urteil aber überlässt sie dem Leser, der sich frei entscheiden kann, welche Impulse er aufnehmen will, was sich vielleicht lohnt, einmal ausprobiert zu werden, und was für ihn selbst eher nicht in Frage kommt. Denn was die Autorin immer wieder betont, ist die Subjektivität des Ruheempfindens, das je nach persönlichen Vorlieben ganz verschieden sein kann und zudem noch von vielen anderen Faktoren abhängig ist: von der Dauer, dem Umfeld, aber z.B. auch von der Variationsbreite und der freien Entscheidung; so scheint ein Wechsel zwischen Aktivität und Erholung die Intensität des Ruhegefühls zu steigern, während Ruhe, wenn sie erzwungen ist, sogar äußerste Anspannung hervorzurufen imstande ist. Auch die Frage, inwieweit darüber hinaus einerseits der kulturelle Kontext beim Empfinden von Erholung eine Rolle spielt und inwieweit dieses andererseits von anthropologischen Grundkonstanten bestimmt wird, klingt mitunter an, bleibt in dem vorwiegend empirisch ausgerichteten Text aber eher an der Oberfläche.

Ihre Ausgangsfrage hat die Autorin trotz aller erkenntnisreichen philosophischen, anekdotenhaften und wissenschaftlichen Ausschweifungen dennoch durchgehend im Blick. Es geht ihr primär um die Art und Weise, wie wir Erholung und Ruhe finden, nicht darum, worin wir Glück empfinden. Es ist durchaus aufschlussreich, hier zu differenzieren, auch wenn Ruhe und Wohlbefinden natürlich eng zusammenhängen, was auch aus vielen der vorgestellten Ruhe-Arten hervorgeht. Spannend ist auch der Befund, dass Ruhe nicht mit physischer oder mentaler Inaktivität gleichzusetzen ist. Der Ruhemodus ist kein komaartiger Zustand, im Gegenteil, davon zeugen zwei der beliebtesten Arten zu entspannen, die zugleich körperlich bzw. mental anspruchsvoll sind, nämlich das Wandern und das Lesen. Erholung finden wir demzufolge durch eine veränderte Zeit- und Selbstwahrnehmung, in die wir geraten, wenn die Sorgen zurücktreten und der intensiv wahrgenommene Augenblick in den Vordergrund tritt.

Eine mehr als auffällige Gemeinsamkeit aller zehn durchleuchteten Ruhepraktiken besteht außerdem darin, dass sie nicht in Gesellschaft, sondern alleine erlebt werden, während der Kontakt zu Freunden und zur Familie ja als wichtigster Faktor für das psychische Wohlbefinden gilt. Übrigens ist dieser Zusammenhang von Ausruhen und temporärem Rückzug aus der Gemeinschaft unabhängig davon, wie gesellig man sonst ist, auch Extrovertierte suchen und finden die Ruhe in erster Linie bei sich. Zur Ruhe kommen scheint also ganz wesentlich mit einem In-Sich-Gehen verbunden zu sein, damit, einen Platz für sich in der Welt, im Dasein zu definieren. Wenn vielen von uns das Ausruhen oft so schwer fällt, liegt das deshalb auch daran, dass das Zurechtkommen mit der eigenen Innenwelt durchaus eine Herausforderung darstellen kann. Negative, ins Grüblerische neigende Gedanken und Schuldgefühle, z.B. wegen unserer scheinbaren Untätigkeit, kommen gerade dann nach oben, wenn wir innehalten. Dann heißt es, in uns zu horchen und die geeignete Strategie zu finden, diese Gedanken in andere Bahnen zu lenken, etwa mit einem Achtsamkeitstraining. Da es kein Allheilmittel gegen Stress gibt, bleibt uns also nichts anderes übrig, als je nach Situation oder psychischer Disposition eine andere Art der Ruhe zu suchen; was uns diese aber, wenn wir sie tatsächlich einmal für einen Moment gefunden haben, wahrscheinlich umso intensiver und erfüllter genießen lässt. So können Fernsehen oder Bewegung in der Natur dem ein oder anderen vielleicht besser dabei helfen, abzuschalten und dem nervigen, belastenden Alltag zu entfliehen; wenn man einfach seine Gedanken schweifen lässt, riskiert man womöglich, ins Grübeln zu geraten, es kann aber auch sein, dass wir dadurch auf einmal einen überraschenden kreativen Schub erleben, wie von Zauberhand neue Ideen über uns selbst, über die Welt entwickeln; auch das Lesen ist eine Art der Ruhe, in der man seine Wahrnehmung auf ganz beglückende und entspannende Weise erweitern kann.

Wie und vor allem ob wir zwischendurch zur Ruhe kommen, das schwingt als Grundtenor im gesamten Buch mit, hängt letztlich von der Autonomie ab, die unserer Erholungssuche innewohnt. Was für die Zufriedenheit im Beruf, in der Beschäftigung, erwiesen ist, nämlich dass wir darin den meisten Sinn ausmachen und die größte Zufriedenheit empfinden, wenn wir möglichst viel Entscheidungsfreiheit haben — wozu im besten Fall auch die Freiheit gehört, sich selbst kleine Ruhepausen einzubauen, gilt — eigentlich gar nicht so überraschend — genauso für die Zeit, die wir mit Ausruhen verbringen, und die in dieser selbst gestalteten Form dann nicht nur ein menschliches Grundbedürfnis erfüllt, sondern auch ein großes kreativ-philosophisches Potential in sich birgt.

Bibliographische Angaben
Claudia Hammond: Die Kunst des Ausruhens — Wie man echte Erholung findet, DuMont (2021)
Aus dem Englischen übersetzt von Silvia Morawetz und Theresia Übelhör
ISBN: 9783832181499

Bildquelle
Claudia Hammond, Die Kunst des Ausruhens
© 2021 DuMont Buchverlag & Co. KG, Köln

bookmark_borderGereon Krantz: Unter pechschwarzen Sternen

Gereon Krantz‘ in Berlin spielender schwarzhumoriger Kriminalroman ist das Gegenteil etwa eines „Allmen“-Krimis von Martin Suter. Schamlos, derb, dick aufgetragen steht Krantz‘ Stil ganz im Zeichen umgangssprachlicher Überfülle, die ziemlich ätzend und immer wieder auch ziemlich witzig ist. Schockierende Gewaltverbrechen eines Serienmörders werden so durch Übersteigerung und absichtlich unpassende Kontraste — allen voran die Ausfälligkeiten und Krisen des männlichen Ermittlerparts, Thomas Harder — weggelacht, ohne verharmlost zu werden.

Harder steht auch im Zentrum der Geschichte und läuft mit seiner mehr als verhaltensauffälligen, ins psychologische Extrem gesteigerten Persönlichkeit dem eigentlichen Kriminalfall fast den Rang ab. Er ist selbst ein Grenzgänger des Todes, der bezeichnenderweise bei einer um Haaresbreite tödlich endenden Partie russischen Roulettes in die Geschichte eingeführt wird. Nicht nur zwielichtige Gangster aus der mafiösen Halbwelt verfolgen Harder, sondern auch fast noch bedrohlichere seelische Dämonen, deren Vorgeschichte in diesem ersten Harder-Krimi jedoch nur angedeutet wird. In der Folge einer wohl aus dem Ruder gelaufenen früheren Ermittlung steht er mit dem Staatsanwalt auf Kriegsfuß und überhaupt im Polizeidienst auf Abruf, was ihn aber keinesfalls dazu verleitet, irgendwelchen Autoritäten unterwürfig zu begegnen, im Gegenteil. Nur sein Wille zur Verbrechensaufklärung, seine Wut auf den mädchenmordenden Psychopathen leiten ihn und sorgen dafür, dass sein Überlebenstrieb die Oberhand gegenüber seinen Todessehnsüchten behalten kann.

Seine Methoden sind dabei natürlich durch und durch unkonventionell, womit er seine junge neue Kollegin und Vorgesetzte, Vogt, eine sehr korrekte, kontrollierte und zudem kampfsporterprobte Veganerin, die den neuesten Profilingansätzen der Kriminalpsychologie gegenüber aufgeschlossen ist, immer wieder vor den Kopf stößt. Aus dem konfliktreichen Antagonismus der beiden Ermittler ergibt sich auch wesentlich die Dynamik der Erzählung, die zwar nicht völlig überraschend ist, aber auf ihre Weise doch ziemlich spannend und witzig: nicht für jeden Geschmack, aber auf jeden Fall ein gefundenes Fressen für alle, die der Krimisucht anheimgefallen sind!

Bibliographische Angaben
Gereon Krantz: Unter pechschwarzen Sternen, Pro Talk (2017)
ISBN: 9783939990444

Bildquelle
Gereon Krantz: Unter pechschwarzen Sternen
© 2017 ProTalk Verlags GmbH

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