bookmark_borderAyelet Gundar-Goshen: Wo der Wolf lauert

Die größte Unbekannte in unserem Leben sind unsere Kinder“, so eine Romanfigur in Ayelet Gundar-Goshens aufwühlendem vierten Roman „Wo der Wolf lauert“. Elternschaft ist, wenn auch nicht das einzige, so doch das in meinen Augen zentrale Thema dieses vielschichtigen Textes, der Familien- und Gesellschaftsroman ist und stark mit Spannungselementen arbeitet. Die israelische Autorin, die auch als Psychologin tätig ist, erforscht hier auf literarische Weise das Thema der zwischenmenschlichen Beziehungen in vielen Variationen.

Erzählt wird die Geschichte durchgehend aus der Perspektive der israelischen Jüdin Lilach Schuster, Mutter des Teenagers Adam und Ehefrau von Michael, mit dem sie als junge Frau aus Israel in die USA ausgewandert ist. Man erhält einen intimen Einblick in ihr Leben als Familie sowie in Lilachs Hoffnungen, Ängste, Sorgen und Wertvorstellungen — als Frau, als Mutter, als Ausgewanderte. So erfährt man, dass sie damals mit ihrem Mann die gemeinsame Heimat verließ, weil dieser ein überzeugendes Jobangebot in Amerika bekommen hatte; Lilach hingegen gab ihren eigenen Beruf auf und arbeitet nun mehr oder weniger ehrenamtlich als Kulturbeauftragte in einem Altenheim – das Thema der sozialen Rollen scheint im ganzen Roman immer wieder durch. Mit dem Ortswechsel war für sie aber auch die Hoffnung auf ein friedlicheres Leben verbunden, darauf, das eigene Kind fern der gewaltsamen Konflikte im Nahen Osten aufwachsen zu sehen. Umso größer ist der Schock, als — und hier setzt die Romanhandlung ein — ihr scheinbar so beschauliches und weltoffenes Palo Alto im Silicon Valley von einem Anschlag auf eine Synagoge erschüttert wird. Und der Täter ist ausgerechnet ein Schwarzer. Kurz darauf stirbt ein schwarzer Junge auf einer Party, auf der auch Lilachs Sohn Adam zugegen war. Als wenn das nicht ohnehin schon das Leben der jüdischen Familie in Aufruhr versetzen würde, drängt sich der Ich-Erzählerin mehr und mehr ein schrecklicher Verdacht auf: Hat ihr Junge, ihr geliebtes Kind, ihr Sohn, der heftige Prügel von tierquälenden Altersgenossen eingesteckt hat, um einem kleinen unansehlichen Straßenhund das Leben zu retten, etwas mit dem Tod seines schwarzen Mitschülers zu tun?

Der Roman ist ein hörbares Echo auf Antisemitismus und Black Live Matters, doch er enthält sich jeder vereinfachenden Eindeutigkeit, dringt vielmehr tief und mit psychologischem Feinsinn in die widersprüchlichen und nicht weniger gewaltsamen Grauzonen der in unserer Zeit fortwährend schwelenden gesellschaftlichen Konflikte ein. Wer ist Opfer, wer ist Täter — ohne etwas zu verharmlosen, zeigt die Autorin mit ihrer Geschichte, dass beide Begriffe fließend und ungenau sind, ohne klare Linien. Dass das nicht leicht zu akzeptieren ist, wird an ihren Romanfiguren deutlich; Adams Vater Michael, der wie seine Frau durchaus sympathisch gezeichnet ist, sein Vatersein auf seine Weise ebenso ernst nimmt wie Lilach ihr Muttersein, vertritt die Meinung, jeder sei entweder Täter oder Opfer und bleibe dies ein Leben lang, weshalb er seinen Sohn, der im Kindergarten von anderen Kindern malträtiert wird, dazu erziehen will, sich zu behaupten und lieber selbst zu schlagen als sich schlagen zu lassen. Diese Weltsicht ist ihrerseits das Ergebnis von Michaels eigener Biographie, seiner Herkunft und sicher auch der Prägung durch das kollektive Trauma seiner jüdischen Vergangenheit. Doch Adam lässt sich nicht so einfach verbiegen, er ist ein zurückgezogener Junge, der lieber Schach spielt und in seinem eigenem Chemielabor experimentiert als Sport zu machen oder Partys zu feiern, und der auch in der High School gemobbt wird. Bis der Anschlag auf die Synagoge passiert, bis er auf Drängen seines Vaters an einem Selbstverteidigungskurs teilnimmt, der von dem fast rattenfängerhaft charismatischen Israeli Uri geleitet wird, und bis kurz darauf sein schwarzer Mitschüler stirbt…

Die Erzählperspektive der Mutter Lilach ist sehr überzeugend gestaltet. Sie ist diejenige, die nach der Wahrheit sucht, die, auch wenn es weh tut, Fragen stellt, Indizien nachgeht und auf ihr Bauchgefühl hört, die Gedanken und Spuren zu folgen wagt, denen man als Mutter eigentlich nicht folgen möchte. Vor allem versucht sie, in all den aufwühlenden Ereignissen ein Mensch zu bleiben, mitfühlend und im Wissen darum, dass auch sie nicht frei von Irrtümern ist. Auch die anderen Charaktere sind lebendig und plastisch dargestellt, wobei das Interesse der Autorin vor allem auf dem sozialem Gefüge liegt, das sie gekonnt aus den individuellen Geschichten der Figuren und ihrer Beziehungen zueinander aufscheinen lässt.

Gruppenzugehörigkeiten sind im Amerika von heute, in dem der Roman spielt, als gesellschaftliche Diskurse natürlich omnipräsent und prägen auch das Selbstverständnis und das zwischenmenschliche Verhalten der Figuren, werden zugleich aber in ihrer Neigung zur Reduktion und zur Pauschalisierung hinterfragt. Auch der damit eng zusammenhängende Täter-/Opferdiskurs wird auf vielschichtige Weise und, genauso wie das Thema der Elternschaft, in verschiedenen Konstellationen aufgegriffen und durchgespielt. So sind die beiden Opfergruppen, „die Juden“ und „die Schwarzen“ in den beiden kurz aufeinander folgenden Gewalthandlungen nacheinander und wechselweise „Opfer“ und „Täter“. Die Anführungszeichen verraten es — auch diese Zusammenfassung wäre zu kurz gegriffen.

Der Roman, der in der Hörbuchfassung von Milena Karas (synchron)filmreif gesprochen wird, löst vieles bei seinem Leser aus, Mitgefühl, Empörung, Bestürzung, Erkenntnis, aber auf keinen Fall die Anmaßung eines endgültigen oder einziggültigen Urteils. Ein fesselndes Porträt unserer gegenwärtigen Gesellschaft und eine einfühlsame und intelligente Analyse der komplexen Zusammenhänge von Biographien, Diskursen und eigenem Handeln.

Bibliographische Angaben
Ayelet Gundar-Goshen: Wo der Wolf lauert, Kein & Aber 2021
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
ISBN: 9783036958491 [Taschenbuch: Kein & Aber 2022, ISBN: 9783036961477]

Hörbuch: Argon Verlag AVE GmbH 2021
Gesprochen von Milena Karas
ISBN: 9783839819364

Bildquelle

Ayelet Gundar-Goshen, Wo der Wolf lauert
© 2022 Kein & Aber AG, Zürich, Berlin

bookmark_borderJames Baldwin: Giovannis Zimmer

Die Bücher von James Baldwin (1924-1987) sind inzwischen Klassiker und sie sind Texte von großer literarischer Qualität, in denen sich die Stimme eines Autors erhebt, der sich in zweierlei Hinsicht einer Minderheit zuordnen lässt. In diesem Sinne könnte man Giovannis Zimmer als Roman eines schwarzen Autors über Homosexualität bezeichnen, aber gegen diese doch auch wieder vereinnahmenden Zuschreibungen hätte Baldwin, der sich durchaus in der Bürgerrechtsbewegung engagierte, sich jedoch als Mensch und als Schriftsteller keinesfalls zur Symbolfigur reduzieren lassen wollte, sich wohl mit Sicherheit gewehrt. Umso schöner ist es, dass seine Literatur, die Vorurteile aufdeckt und immer den Menschen sieht, nicht die Gruppe, in neuen deutschen Übersetzungen gerade jetzt wiederentdeckt wird, zu einem Zeitpunkt, wo eine teils überfällige und dringend notwendige, teils aber auch sich ins Gegenteil verkehrende, ihre eigentlichen Ziele ad absurdum führende Debatte um kulturelle Aneignung im Bereich von Kunst und Literatur geführt wird.

Giovannis Zimmer ist Baldwins zweiter Roman nach Go tell it on the mountain, in dem er von Glaube, Bigotterie und sexueller Unsicherheit in einem afroamerikanischem Milieu erzählte. Trotz expliziter Wünsche seines amerikanischen Verlags weigerte er sich aber, erneut einen Roman mit afroamerikanischen Protagonisten vorzulegen, da er sich nicht auf ein bestimmtes Herkunftsmilieu — „Identität“ würden wir heute sagen — festlegen und dadurch eben auch begrenzen lassen wollte. In Giovannis Zimmer sind daher nun eben alle wichtigen Figuren Weiße, weiße Amerikaner und weiße Franzosen. Das hat in den 1950er Jahren, als der Roman erschien, durchaus für Furore gesorgt, so manch einer empfand diese „kulturelle Aneignung“ als Skandal und Tabubruch…

Die Handlung entwickelte Baldwin, der selbst einige Zeit in Frankreich verbrachte, aus einem autobiographischen fait divers, den er jedoch zu einem psychologisch vielschichtigen Roman ausgebaut hat, zu einer auch stilistisch beeindruckenden Erzählung: Mit den ersten Sätzen wird man schon von ihr gefangen genommen, und das Poetische, Nachdenkliche, Empathische des Textes, der zugleich nie vor schonungsloser (Selbst-) Kritik seiner Figuren zurückscheut, begleitet einen bis zur letzten Seite. Manchmal ist die Lektüre geradezu schmerzhaft, aber immer auch intensiv, schön und flüssig lesbar und der Stil auf unprätentiöse Weise komplex in seinen psychologischen Beobachtungen und metaphorisch-literarischen Verdichtungen.

Ich weiß gar nicht, wie ich das Zimmer beschreiben soll. In gewisser Weise wurde daraus jedes Zimmer, in dem ich je war, und jedes Zimmer, in dem ich fortan sein werde, wird mich an Giovannis Zimmer erinnern. Wirklich lange habe ich dort nicht gewohnt — wir lernten uns vor Frühlingsbeginn kennen, und im Sommer zog ich aus –, aber noch immer ist mir, als hätte ich dort ein Leben verbracht. Das Leben in diesem Zimmer schien sich, wie gesagt, unter Wasser abzuspielen, und fest steht, dass dort alles umgewälzt wurde.

Baldwin, Giovannis Zimmer

Erzählt wird die Geschichte aus der Ich-Perspektive eines jungen Amerikaners namens David in Form einer Rückschau, die an eine Beichte erinnert. David quält das Gewissen, er empfindet Mitschuld am unmittelbar bevorstehenden und durch nichts mehr aufzuhaltenden Tod eines Menschen, den er liebte und doch fallen ließ. Indem er in Rückblenden sein Leben und die Begegnung mit Giovanni Revue passieren lässt, unternimmt er auch eine Selbstbefragung, die immer wieder in Selbstverachtung umschlägt, welche sich wiederum mehr und mehr als Movens seines schließlich verhängnisvollen Verhaltens entlarvt.

So erfährt man in eindringlichen Szenen vom romantischen Beginn und erst prosaischen, dann tragischen Ende der Liebesgeschichte zwischen ihm und dem Barista Giovanni in Paris, aber auch von viel weiter in seine Kindheit und Jugend zurückreichenden Episoden: vom frühen Tod der Mutter, vom instabilen Verhältnis zu seinem Vater, von den ihn überfordernden sexuellen Gefühlen zu seinem Schulfreund, seiner Flucht und seinem Verrat an ihm, von seinen jugendlichen Alkoholexzessen und schließlich von seiner Verlobung mit der Amerikanerin Hella und seiner weiteren Flucht nach Paris, wo er in Hellas Abwesenheit in Schwulenbars verkehrt, ohne sich jedoch in der Öffentlichkeit oder auch nur sich selbst gegenüber zu seiner Sexualität zu bekennen.

James Baldwin zeichnet natürlich auch ein subtiles Gesellschaftsporträt und übt indirekt Kritik an homophoben Machtstrukturen und Vorurteilen gegenüber Außenseitern der Gesellschaft, die Sündenböcke braucht, um sich ihrer selbst zu versichern. So fällt, als der schmierige Barbesitzer Guillaume umgebracht wird, der Verdacht sofort auf den homosexuellen Giovanni, der zudem auch noch Ausländer ist. Wie sich die Geschichte wirklich abgespielt, welche Situation der Ausbeutung zu der Tat geführt hat, will die Öffentlichkeit hingegen gar nicht so genau wissen.

Es war ein entsetzlicher Skandal. (…) Ein solcher Skandal droht immer, noch bevor das Echo verhallt, einen Staat in seinen Grundfesten zu erschüttern. Man braucht eine Erklärung, eine Lösung und so schnell wie möglich ein Opfer. Die meisten in Verbindung mit diesem Verbrechen aufgegriffenen Männer wurden nicht wegen Mordverdachts aufgegriffen. Sondern weil sie im Verdacht standen, wie die Franzosen es mit einer wohl hämischen Behutsamkeit nennen, les goûts particuliers zu pflegen.

Baldwin, Giovannis Zimmer

Trotzdem ist das Buch kein politisches Manifest, versteht es sich nicht als Protestliteratur — sondern als Literatur. Baldwin selbst legte Wert darauf zu betonen, dass das Thema des Romans nicht die Homosexualität sei, sondern die Angst, jemanden zu lieben. Damit stellt er eine universale menschliche Eigenschaft in den Vordergrund, eine existentielle Erfahrung, die unabhängig von Hautfarbe, sexueller Orientierung usw. ist.

„Du findest mein Leben schändlich“, setzte er nach, „weil meine Bekanntschaften schändlich sind. Sind sie ja auch. Aber du solltest dich fragen, warum.“
„Warum sind sie — schändlich?“, fragte ich ihn.
„Weil keine Zuneigung in ihnen steckt und keine Freude. (…)“

Baldwin, Giovannis Zimmer

Darüber hinaus ist sein Roman auch ein Text über Scham, Verdrängung und (Selbst-) Erkenntnis, über den Prozess einer Bewusstwerdung, die den schmerzhaften Weg des Sich Erinnerns geht, das ein wahrer Kraftakt ist und damit auch ein würdiger und mitreißender Gegenstand der modernen (Liebes-) Tragödie, die uns Baldwin mit Giovannis Zimmer hinterlassen hat.

Menschen, die sich erinnern, beschwören Wahnsinn durch Schmerz, den Schmerz ihrer fortwährenden Unschuld; Menschen, die vergessen, beschwören eine andere Form des Wahnsinns, den Wahnsinn, den Schmerz zu leugnen und die Unschuld zu hassen. Die Welt ist im Wesentlichen unterteilt in Wahnsinnige, die sich erinnern, und Wahnsinnige, die vergessen. Helden sind rar.

Baldwin, Giovannis Zimmer

Bibliographische Angaben
James Baldwin: Giovannis Zimmer [engl. Orig. 1956], dtv 2020
Mit einem Nachwort von Sasha Marianna Salzmann
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow
ISBN: 9783423282178

Bildquelle
James Baldwin: Giovannis Zimmer
© 2020 dtv Literatur in der dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG

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