bookmark_borderEva Menasse: Dunkelblum

Eva Menasse erweckt in ihrem Roman eine ganze österreichische Kleinstadt zum Leben, mitsamt ihren vielen jungen und alten, neugierigen und verdrängenden, zugezogenen und geflüchteten, überlebenden und verschollenen, versehrten und toten Bewohnern, deren Biographien sie im Laufe des mit vielen verschlungenen Fäden gestrickten Romans auf eine geschickt mit Leerstellen spielende, andeutungsreiche Weise und mit viel erzählerischer Anschaulichkeit der Charaktere und Dialoge genauso puzzleartig zusammensetzt wie die verschiedenen historischen Schichten und zeitlichen Ebenen.

Dunkelblum ist der Name dieses fiktiven Städtchens an der ländlichen Grenze zu Ungarn, die sich, als die Handlung zunächst im Jahr 1989 einsetzt, für eine kurze Zeit öffnet. Der ländlich-idyllische, aber für Eindringlinge absolut nicht aufgeschlossene Ort wird auf einmal zum Schauplatz einer Konfrontation mit der mühevoll verdrängten Vergangenheit, als auch noch eine Gruppe Studenten aus der Großstadt und ein geheimnisvoller Fremder nicht nur die Friedhofserde aufzuwirbeln beginnen.

Die Herausforderung, die sich die Autorin mit ihrem Roman stellt, liegt darin, einem dunklen und erst spät aufgearbeiteten Kapitel der österreichischen Vergangenheit eine literarische Sprache zu verleihen, die entlarven will, ohne zu verurteilen, aber auch ohne zu bagatellisieren, um in tiefere Schichten menschlichen Verhaltens vorzudringen, die Beweg- oder Unterlassungsgründe der Täter zu verstehen, ohne die Opfer konturlos werden zu lassen. Das ist ein gewagtes Unterfangen, da mit der Sprache hier gerade das Schweigen eingefangen werden will; im dunkel-verschwiegenen Zentrum der Stadt und des Romans schwelt die Erinnerung an ein im Nationalsozialismus verübtes Massaker, um das herum sich, wildwuchernden Kletterblumen gleich, weitere Verbrechen, Untaten, Unterlassungen, Opportunismen, im Kleinen und Großen, gruppieren.

Dunkelblumig ist denn auch die Sprache, die Eva Menasse für die Bearbeitung dieses historischen Stoffes wählt, hintersinnig, satirisch, bissig, aber nicht ganz ohne Herz; sie bemüht sich, um nicht in die Falle einer moralischen Überlegenheitspose zu tappen, um ein literarisches Einfühlen auch in die unsympathischsten Charaktere, deren Taten gleichwohl durch nichts gerechtfertigt werden und zu denen eben durch die Sprache immer eine gewisse Distanz aufrechterhalten wird.

Ein wachrüttelndes Stück historischer Aufarbeitung im Gewande einer eigenwilligen, aber ins Schwarze treffenden literarischen Form.

Bibliographische Angaben
Eva Menasse: Dunkelblum, Kiepenheuer & Witsch 2021
ISBN: 9783462047905

Bildquelle
Eva Menasse, Dunkelblum
© 2024, Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

bookmark_borderMarco Balzano: Ich bleibe hier

Graun, so heißt das kleine Vinschgauer Dorf am Reschensee, das 1950 gegen den Willen und Widerstand seiner Bewohner komplett geflutet wurde, ein Zufall der geographischen Benennung und doch im Nachhinein mit fast schicksalhaftem, mythisches Unheil prophezeiendem Beiklang…

Zum Glück entgeht der italienische Autor Marco Balzano in seinem neuen Roman der Verführung durch das Mythische. Schlicht und unaufgeregt, und gerade dadurch berührend und glaubhaft, erzählt er in seinem neuen Roman von einigen einschneidenden Kapiteln der Geschichte Südtirols und seiner von ihr gebeutelten Bewohner.

Der schnörkellose, geradlinige, jedes Pathos vermeidende, fast elementare Stil, der sich ganz nah an der ländlich geprägten Lebenswelt der Protagonisten bewegt, die von den historischen Ereignissen mehrfach wie von einer Lawine gewaltsam überrollt werden, passt wunderbar zu der Erzählerin, die sich Balzano für sein durchaus ambitioniertes Vorhaben, die komplexe Geschichte Südtirols im 20. Jahrhundert literarisch einzufangen, erdacht hat. Sie heißt Trina und erzählt ihre Geschichte, die ihrer Familie und die ihres — erst von den italienischen Faschisten, dann von den Nazis, durch Krieg, durch wirtschaftliche Interessen, durch nationalistische Ausgrenzung und Polarisierung — vielfach bedrohten und schließlich komplett vernichteten Dorfes in Form von Briefen an ihre verschwundene Tochter.

Um Bindung und Verlust geht es auf vielen Ebenen in dem Roman, und zugleich um Loyalität und Familie, um existenzielle Ängste, Herkunft und Sprache, Flucht und Vertreibung, um die Notwendigkeit und den Preis politischen oder gesellschaftlichen Engagements. So unterrichtet Trina, die als erste in ihrer Familie studiert hat und Grundschullehrerin geworden ist, die Südtiroler Dorfkinder in ihrer deutschen Muttersprache zeitweise unter großer Gefahr im Untergrund, als die italienischen Faschisten die deutsche Sprache und Kultur und mit ihnen am liebsten auch alle Südtiroler zum Schweigen bringen wollen. Und ihr Mann kämpft sein Leben lang und bis zur völligen Erschöpfung dafür, mit seiner Familie in seinem Heimatdorf Graun leben oder überhaupt überleben zu können, während seine Kinder die Frage nach der Heimat zu seinem großen Schmerz anders beantworten…

Dem scheinbar unbedeutenden individuellen Schicksal wird auf diese Weise die große Geschichte eingeschrieben, die gerade im bescheidenen mikroskopischen Blick auf den Einzelnen ihre erschütternde allgemeinmenschliche Dimension offenbart. Immer wieder gelingen dem Autor poetisch eindringliche Szenen, in denen sich die existenzielle Bedeutung der Geschichte in einzelnen Momentaufnahmen verdichtet. So verbirgt sich hinter der durchaus auch sehr unterhaltsam gestalteten, eher episodischen als epischen Oberfläche ein tiefsinniger Text, in dem die großen Fragen des Daseins und Menschseins anklingen.

Bibliographische Angaben
Marco Balzano: Ich bleibe hier, Diogenes 2020
ISBN: 9783257071214

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